Güldener Grenztest

von Wolfgang Behrens

18. September 2018. Jetzt ist tatsächlich einmal etwas passiert! In mein beschauliches Wiesbadener Dramaturgen-Dasein ist ein goldener Erdoğan hineingeplatzt. Über Nacht stand er plötzlich da – die Macher der Biennale, die von meinem Theater ausgerichtet wird, hatten ihn aufstellen lassen, ohne dass die allermeisten Theatermitarbeiter (darunter auch ich) vorher auch nur irgendetwas davon geahnt hätten. Und es trat ein, wovon Dramaturgen eigentlich träumen: Nicht nur die hiesige Zeitung und der Lokalteil des überregionalen Organs berichteten – nein, von den "heute"-Nachrichten bis zur "New York Times" diskutierte man über diese Erdoğan-Statue, die über Nacht wie ein Ufo auf dem Wiesbadener Platz der deutschen Einheit gelandet war und wie der Monolith in Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum" bestaunt wurde.

Wo ist hier der Schlingensief?

Der goldene Erdoğan störte allerdings auch den ehemaligen Kritiker in mir auf. Als ich am Abend des zweiten Tages – den der goldene Erdoğan nicht überleben sollte, denn er wurde nach 26 Stunden aus Sicherheitsbedenken von der Stadt abtransportiert – den Platz der deutschen Einheit besuchte, wurde ich Zeuge von durchaus beunruhigenden Szenen.

17 Kolumne behrens k 3PIch hörte, wie eine Kurdin einen Stadtpolizisten fragte, ob es erlaubt sei, vor der Statue die kurdische Nationalhymne zu singen. Der Stadtpolizist war naturgemäß überfragt, woraufhin mehrere kurdische Frauen zur Tat schritten. Sofort begann es in der vorwiegend von Menschen migrantischer Herkunft gebildeten Menge, die der goldene Erdoğan wie ein Magnet an sich gezogen und auf dem Platz versammelt hatte, zu brodeln: Lautstarke Rufe und Gesänge von allen Seiten, gefolgt von einer kurzen Rudelbildung, wie man sie aus Fußball- und Eishockeyspielen kennt, welche die Polizei zu robustem Einschreiten zwang.

Angesichts solcher Szenen wurde schnell der Kritiker in mir von Fragen heimgesucht: Wo war hier ein Christoph Schlingensief, der sich – wie etwa bei seiner Wiener "Ausländer raus!"-Aktion – performend, provozierend, aber auch moderierend vor sein Kunstwerk gestellt hätte? Ist es arrogant, eine Statue aufzustellen und zuzuschauen, wie Menschen davor einander anfeinden? Oder trägt es zum Diskurs bei und macht etwas vorher Verborgenes sichtbar?

Wie frei ist die Kunst?

Zum Konzept des goldenen Erdoğans gehörte, dass der Künstler selbst anonym bleiben sollte. Aber spielt bei solch einem Werk Autorschaft nicht auch eine Rolle? Würde es nicht einen Unterschied machen, ob die Statue von einem norwegischen, einem türkischen oder einem senegalesischen Künstler erdacht worden wäre? Und: Ist die Statue überhaupt für jeden als Kunst erkennbar? Sie könnte ja auch ein reiner Repräsentationsgegenstand sein, dem man bestenfalls Kunsthandwerk-Status zubilligen würde. Wie weit kann ich die Kunstfreiheit in Anspruch nehmen, wenn die Kunst als solche vielleicht gar nicht bemerkt worden ist?

Mit den Antworten auf diese Fragen tue ich mich bis heute, drei Wochen nach der Aktion, nicht leicht. Ich vermute, dass diese Fragen – als von der Aktion evozierte – integraler Bestandteil des eigentlichen Kunstwerks sind. Die simpelste und wahrscheinlich auch blödeste Antwort (die in Wiesbaden in Hunderten von Zeitungsleserbriefen und sonstigen Kommentaren gegeben wurde), nämlich: "Das ist für mich keine Kunst!", führt jedenfalls nicht sonderlich weit. In gewissem Sinne aber scheint der goldene Erdoğan so ein durchaus relevanter Beitrag in einer gegenwärtig an verschiedenen Stellen sehr heftig geführten Debatte zu sein, in der die Grenzen der Kunst neu ausgelotet werden. Hanno Rauterberg hat diese Debatte in seinem kurz vor der Wiesbadener Erdoğan-Aktion herausgekommen Büchlein "Wie frei ist die Kunst?" (Suhrkamp 2018) argumentreich nachgezeichnet.

Ambivalenz, die auszuhalten ist

Kunst als Medium der "Selbstbefragung und Selbstbefremdung" und als "Schule des modernen Individuums" ist demnach in ihrem universellen Anspruch in eine Krise gekommen. Wenn Kunst mittlerweile etwa den "Vorbehalten von (…) Minderheiten" untergeordnet werde, erweise sie sich "als überaus verletzlich". Denn im Zweifelsfall genügt es, dass irgendjemand (nach dem Motto: "Ich bin meine eigene Minderheit") sich von einem Kunstwerk verletzt fühlt, um es grundsätzlich in Frage zu stellen. Nicht alle dieser Verletzungen sind aber mal eben schnell weggewischt, und im Extremfall steht dann die Kunst selbst als eine Herrschaftspraxis der Mehrheitsgesellschaft in der Kritik. Womit auch ihre Freiheit massiv unter Beschuss gerät.

Grotesk kann die Sache dann werden, wenn solche Argumente gegen die Kunst gleichsam paternalistisch angeführt werden: Wenn etwa eine besorgte Kulturfunktionärin den "türkeistämmigen Bürger*innen“ die Fähigkeit zum "Umgang mit Kunst" abspricht und daraus ableitet, dass sie vor den Zumutungen eines goldenen Erdoğans zu schützen gewesen wären.
Kunst ist ihrem Wesen nach vieldeutig und ambivalent. Verschiedene Menschen werden sie immer verschieden verstehen. Allein das schon macht sie – wenn man ihre Potentiale nicht einhegt – zu einer Beunruhigung. In diesem Sinne war der goldene Erdoğan wohl tatsächlich einigermaßen beunruhigend. Beunruhigender, als es seine handwerklich recht grobe Machart auf den ersten Blick erahnen ließ. Und vielleicht ist die Lehre des goldenen Erdoğan ja schlicht die, wie sie mein Intendant auf die knappe Formel gebracht hat: "Man muss Kunst auch einfach mal aushalten."

 

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit letzter Spielzeit Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er u.a. in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

 

Zuletzt sehnte sich Wolfgang Behrens in seiner Kolumne als Dramaturg nach der Freundlichkeit der Kritikerkollegen

 

Mehr zum Thema: Über die Wiesbaden Biennale 2018 schrieb auch die Kritikerin Shirin Sojitrawalla hier.

 

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