Auswege aus dem Ehekäfig

von Elisabeth Maier

Karlsruhe, 6. Oktober 2018. Eingezwängt in Petticoats sitzt Nora in ihrer Puppenstube und träumt sich in eine heile Welt. Für die eigenen Kinder hat sie kaum Zeit, nur über die nostalgischen Plastikwesen hat sie die Macht. Anna Bergmann, neue Schauspieldirektorin des Staatstheaters Karlsruhe, liest Henrik Ibsens Dramen auf dem Hintergrund heutiger Frauengeschichten neu. "Nora, Hedda und ihre Schwestern" heißt die Bearbeitung der Dramatikerin Ulrike Syha, die 2018 für Ihr Stück "Drift" mit dem Autorenpreis des Heidelberger Stückemarkts ausgezeichnet wurde.

Das Regieteam schickt Ibsens Frauenfiguren aus "Nora. Ein Puppenheim", "Hedda Gabler" und "Die Frau vom Meer" auf eine schwindelerregende Reise ins eigene Ich. Schonungslos zeigt Bergmann nicht nur die Kraft der Frauen. Mit packendem Videokonzept untersucht sie deren Schwächen und schleichende Selbstverachtung.

Die neue Weiblichkeit

Bergmanns und Syhas kluger Zugriff unterstreicht, dass das neue Karlsruher Leitungsteam im Frauenschwerpunkt mehr sieht als eine Marketingstrategie (dieser war jüngst sogar der New York Times einen Bericht wert). Für ihre Ankündigung, vorwiegend Frauen am Karlsruher Schauspiel zum Zuge kommen zu lassen, hatte die in Opern- und Schauspielregie versierte Anna Bergmann auch Kritik geerntet. Äußerungen wie jene von Regieveteran Frank Castorf vor dem Sommer, er kenne nur wenige gute Regisseurinnen, schreien nach Gegenbeweisen einer jüngeren Generation. Die Strukturen brauchen Veränderung. Und der Nachwuchs Vorbilder. Diese Entwicklung leitet Bergmann nun mit ihrem radikal weiblichen Spielplan ein.

norahedda1 560 Felix Gruenschloss uMit Videoarbeiten von Sebastian Pircher, Tina Wilke und Sophie Lux werden Ibsens Frauenfiguren ausgeleuchtet. Hier Sina Kießling als Hedda Gabler © Felix Grünschloß

Ihr Regietheater ist dabei ebenso sinnlich wie analytisch. Videos fassen verräterische Gedanken der Frauen in Nahaufnahmen, während auf den Ebenen der mehrstöckigen Simultanbühne von Katharina Faltner gespielt wird. Diese filmischen Studien starker Gefühle sind brillant. Verwirrend ist, dass Bergmann und Syha zwischen den Figuren verwandtschaftliche Bände knüpfen. Da die formstarke Dramatikerin die Zeitebenen sprachlich durch die Auswahl unterschiedlicher Übersetzungen überzeugend getrennt hat, ist das unnötiger Ballast.

Vom Luxusweib zur emanzipierten Frau

Den starken Leistungen der neuen und alten Ensemblemitglieder tut das jedoch keinen Abbruch. Bea Brocks dekonstruiert den Part der Nora, die in ihr Puppenheim gezwängt wird. Gerade dann, wenn Nora die Sprache versagt, spricht sie Bände. Aus dem neureichen Luxusweib, das Klamotten in Tüten schleppt, wird eine selbstbewusste Frau, die sich radikal gegen den gewalttätigen Torvald Helmer wehrt. Sybille Wallum geizt bei den Kostümen nicht mit Tüll und Korsetten. Darin sind die Frauen gefangen. Malte Sundermann wiederum braucht als Torvald nur den Gürtel zu spannen. Schon offenbart der grenzgängerische Spieler die Brutalität, die im Bankdirektor steckt. Drohgebärden wie diese bestimmen Noras Alltag.

Um Anerkennung bettelt Sina Kießling in der Rolle der Protagonistin Hedda Gabler bei ihrem Mann. Doch ist sie für den Historiker Jörgen Tesman nur Projektion. Als Liebesbeweis lässt er ein Gemälde von ihr mit historischer Haube anfertigen. Im Glasgefängnis bereitet die verzweifelte Frau ihren Suizid vor. Was Ignoranz mit einem Menschen macht, zeigt Kießling mit einer Kälte, die aufwühlt.

norahedda3 560 Felix Gruenschloss uSchmerzensreiche Mann-Frau-Verhältnisse: Meik van Severen vor dem Videobild von Anna Gesa-Raija Lappe © Felix Grünschloß

Als eine Fremde auf dieser Welt legt Anna Gesa-Raija Lappe ihre "Frau vom Meer" an. Betörend schön und doch so reif. Sie schmiegt sich ins schwarze Wasser. Ihre tote Tochter sucht sie da vergeblich. Dass die Ehe in Ibsens Zeiten vorwiegend ökonomische Funktion hat, zeigt die Spielerin schön. An der gesellschaftlich aufgezwungenen Versorgerrolle zerbricht ihr Mann, in Timo Tanks Interpretation ein hilfloser Landarzt. Sich selbst kann er am wenigsten heilen.

Hart hämmert Heiko Schnurpels Bühnenmusik. Dann betört das hoch musikalische Ensemble mit Songs, die unter die Haut gehen. Meik van Severen als Drag Queen strahlt Größe aus, wenn er von Liebe und Verzweiflung singt.

Abzüglich einiger Längen zum Ende hin hat der Abend Dynamik und Kraft. Bergmanns Auftakt als Schauspielchefin macht Lust, mehr Weiblichkeit in Regie und Stoffen zu entdecken. So wie es die feministische Literaturwissenschaftlerin Hélène Cixous schon 1980 für Ihr Fach in "Die Weiblichkeit in der Schrift" forderte. Aber auch abseits der Gender-Debatten ist Bergmann eine Inszenierung geglückt, die mit Bilderlust und Tiefe besticht.

 

Nora, Hedda und ihre Schwestern
von Ulrike Syha nach Henrik Ibsen
Regie: Anna Bergmann, Bühne: Katharina Faltner, Kostüme: Sibylle Wallum, Musik: Heiko Schnurpel, Video: Sebastian Pircher, Tina Wilke, Sophie Lux, Licht: Aljoscha Glodde, Kampfchoreografie: Robert Schmoll und Sebastian Richter, Dramaturgie: Marlies Kink.
Mit: Bea Brocks/Kim Schnitzer, Malte Sundermann/Sven Daniel Bühler, Sina Kießling, Janek Petri, Anna Gesa-Raija Lappe, Timo Tank, Swana Rode, Thomas Schumacher, Tom Gramenz, Ute Baggeröhr, Andre Wagner, Lisa Schlegel, Meik van Severen.
Dauer: 3 Stunden 15, eine Pause

www.staatstheater.karlsruhe.de

 

Kritikenrundschau

In Ulrike Syhas Ibsen-Adaptionen sind "aus psychologischen Schattierungen grobe Holzschnitte geworden, aus subtiler Ambivalenz plattes Bekenntnis", so Cornelie Ueding in der Sendung "Kultur heute" vom Deutschlandfunk (8.10.2018). Zwar erzeugt in der Inszenierung von Anna Bergmann der "anmutige Synchron-, Simultan- und Seriencharakter der drei Ehekrisenstücke, die breitflächige, die Bühne auffächernde Choreographie" aus Sicht der Kritikerin "bisweilen aparte Effekte". Auch die Schauspieler*innen leisten"singend, tänzelnd, gestikulierend, bald auf lasziv, bald auf naiv machend Beachtliches," findet sie. Doch die "Worte klappern, sie sind verbraucht." Das zum Einsatz kommende "Arsenal vergröbernder Techniken" läßt zum Bedauern der Kritikerin "kein Interesse an den Einzelschicksalen aufkommen." "Aus Serienwesen werden keine Individuen. Und aus drei Stücken auf einmal – wird nicht mal eines."

"Ein Abend, der das ganze, neu zusammen gestellte Karlsruher Schauspielensemble in Hochform zeigt – ein guter Einstand, der Lust auf mehr von Anna Bergmann und starken Frauen macht", so Marie-Dominique Wetzel in der "Kulturinfo" vom SWR2 (8.10.2018). "

"Starke Ibsen-Frauen im Dreierpack: eine Überschreibung des nordischen Frauenverstehers für unsere MeToo-Zeit, programmatisch laut, kühl sezierend, bildstark, sinnen- und meinungsfreudig", schreibt Martin Halter in der FAZ (10.10.2018). "Wenn man die drei Stücke so über- und ineinander schiebe und die familiären Machtverhältnisse vergleiche, könne und solle die Kontinuität männlicher Unterdrückung ins Auge springen. "Die Männer sind in Karlsruhe immer noch Schweine, Trottel, Dummköpfe, die am liebsten saufen, jammern und prügeln. Aber Ibsens Frauen machen durchaus emanzipatorische Fortschritte vom Blumenmädchen zur Rachefurie.“

"Es ist nicht einfach, die Figuren, Zeitebenen und schnell geschnittenen Szenen zu sortieren, aber Bergmann hat den Ablauf dieser vielstimmigen Erzählung bis ins Detail durchgearbeitet. Perfekt schnurrt das komplexe Räderwerk, verschränken sich Szenen, Bedeutungsebenen und auch formale Mittel", schreibt Adrienne Braun in der Süddeutschen Zeitung (10.10.2018). "Das Ensemble kann darstellerisch nicht in allen Momenten überzeugen, was mehreren Krankheitsfällen geschuldet sein mag, die kurzfristige Umbesetzungen nötig machten." Die Regisseurin zeige sich nicht nicht etwa als militante Feministin, sondern als differenzierte Beobachterin. "Sie rückt Frauenschicksale in den Fokus, um doch allgemeingültig von der Unfähigkeit zum Glücklichsein zu erzählen."

Ute Bauermeister schreibt im Badischen Tagblatt (8.10.2018): drei Dramen von Ibsen, "serviert als immenses Spektakel", bei dem es an nichts fehle: "großartige Darsteller, musikalische Einlagen, die ans Herz gehen, Schlägerei, Heuchelei, Morddrohungen, eine planschende Meerjungfrau, Seidensocken und Federball." Langweilig werde es keine Sekunde. Bei diesem "Power-Paket" fühle man sich "ein bisschen so", als würde man "gleichzeitig die amerikanische Fernsehserie 'The Affair' schauen, wäre dabei auf Tinder zugange und dazu noch Part einer Reality-Show".

Andreas Jüttner schreibt in den Badischen Neuesten Nachrichten (8.10.2018), Bergmann verstehe "ihr Handwerk", alle drei Geschichten würden trotz der hinzugefügten Verwandtschaftsverhältnisse klar. Auch das Ensemble sei "handwerklich sehr versiert". Allerdings würden die Stücke durch Reduzierung und Kombination zu eindimensional, der Wechsel der Zeitebenen und die Musik- und Videopassagen bremsten die "Spannungsbögen". Trotzdem sei die Inszenierung reich an "assoziationsanregenden Bildern" und habe "beeindruckende Momente". Größter "Knackpunkt der Inszenierung": sie habe über "fast alle Figuren von Anfang an ein Urteil gefällt", meist "ein wenig schmeichelhaftes". Zwar sei der Abend zu lang, zu ausufernd, doch allemal ein "Ausrufezeichen" zu Bergmanns Neustart.

Auf Welt plus (8.10.2018) schreibt Christian Mayer, Anna Bergmann habe gesagt, dass Frauen einen anderen Blick auf die Stoffe würfen, doch auch das "vermeintlich neue 'radikal weibliche' Theater" bediene sich "herkömmlicher Theater-Stilmittel". Es gebe ein "spektakuläres Bühnenbild, Video-Installationen, Live-Musik und ziemlich düstere, eindringliche Bilder". Auch im "radikal weiblichen Theater" werde "auf der Bühne gesoffen, geschossen und gevögelt". Wenn das, was die Theaterbesucher bei "Nora, Hedda und ihre Schwestern" sehen könnten, "das mit Spannung und einer Portion Skepsis erwartete radikal weibliche Theater" sei, dann sei "alle Aufregung im Vorfeld" umsonst gewesen.

 

 

 

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