Ssssssst oder 'S große Rascheln und Röcheln

von Wolfgang Behrens

29. Januar 2019. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass es nicht statthaft sei, Texte oder gar Kolumnen über die Verspätungen und Servicepannen der Deutschen Bahn zu verfassen, da diese ein viel zu wohlfeiles Opfer darstelle. Schade eigentlich, denn als zwischen Berlin und Wiesbaden pendelnde dramaturgische Schienenexistenz hätte ich da viel zu erzählen. Ähnlich verhält es sich wohl mit Texten über das hustende, röchelnde, raschelnde Publikum bei Veranstaltungen der Hochkultur. Auch das ist ein überaus dankbares Spottobjekt, und wirklich jeder kennt diese Geschichten: "Und just in dem Moment, als Harnoncourt den Taktstock zum Einsatz hob, klingelte ein Handy." Oder: "Und dann hat eine Oma (#PoliticallyIncorrect, I know) hinter mir an der leisesten Stelle ein Bonbon ausgepackt …" Wobei mir einfällt – ja, das muss ich erzählen: Gerade neulich hat eine Oma hinter mir an der leisesten Stelle ein Bonbon ausgepackt, und zwar so quälend langsam, als gälte es, die Vorfreude auf die gaumenbefeuchtende Leckerei so lange wie möglich auszukosten – als plötzlich eine tiefe Greisenstimme in Zimmerlautstärke dazwischenfuhr: "Kannste mir auch eins geben?"

Das Hervornesteln der Knisterbömbchen

Immerhin hat der englische Romancier Julian Barnes in seinem Erzählungsband "Der Zitronentisch" mit der ungeschriebenen Regel, das ungezogene Publikum von karikierender Betrachtung auszunehmen, gebrochen. "Das Publikum war, wie gesagt, ganz normal", heißt es da etwa, "achtzig Prozent Freigänger aus Londoner Krankenhäusern mit besonderen Kartenkontingenten für Lungenstationen und HNO-Kliniken. Frühbucherrabatt für Patienten mit einem Husten von mehr als 95 Dezibel. Wenigstens furzt im Konzert keiner. Jedenfalls hab ich noch nie einen furzen hören." Nun ja, gehört habe ich auch noch keinen, aber – – – egal!

17 Kolumne behrens k 3PSo, und da ich nun schon mal dabei bin: Warum – das habe ich mich schon oft gefragt – erreicht das große Husten und Bonbonauspacken seine frühen Höhepunkte meist genau mit dem Aufgehen des Vorhangs oder auch direkt nach der Pause? Warum fällt es den Herrschaften nicht schon vorher – zum Beispiel in der Pause – ein, dass sie an einem trockenen Hals leiden? Nein, man wartet den ersten atmosphärischen Moment ab, und – zack! – gleitet die Hand ins Täschchen und nestelt ein Knisterbömbchen hervor. Und das Räuspern: Also, bei allem Respekt!, aber was manch älteres Semester da an Resonanz entwickelt, da muss man eigentlich Vorsatz unterstellen! Müssen diese Leute vielleicht gar nicht ihre Kehle von was auch immer befreien, wollen sie nicht vielmehr ihren Mitmenschen geräuschhaft beweisen, dass sie gegen allen äußeren Anschein noch sehr lebendig sind?

Ssssssst! oder Das monströse Schallen

Seltsam wiederum mutet jener Personenkreis an, der sich immerhin bemüßigt fühlt, zum Husten den Platz zu verlassen, dabei aber nur bis in einen der Zugangsschläuche zum Auditorium kommt. Frei nach dem kindlichen Motto "Wer mich nicht sieht, der hört mich wohl auch nicht" wird dann genüsslich der Schleim aus allen Röhren hochgezogen und lautstark abgehustet, was – verstärkt durch die trichterförmigen Gänge – monströs in den Zuschauersaal zurückschallt.

Auch Gespräche im Publikum sind keine Seltenheit, wobei das daraufhin zahlreich und scharf ertönende "Ssssssst" meist nicht weniger störend ist. Was die Inhalte der Unterhaltungen betrifft, scheinen die Zuschauer keinen Anstoß daran zu nehmen, dass sie auch auf der Bühne gehört werden. Ein aufgeschrecktes "Wer ist das denn?" samt der Antwort "Kenn' ich nicht, die Andere war jedenfalls besser" wirkt auf eine Schauspielerin, die gerade eine Umbesetzung spielt, zumindest nicht unbedingt motivationsfördernd. Auf der Bühne stehend, erlauschte mein Intendant einmal auch die Frage: "Ist der Bauch eigentlich echt?" (Beide Beispiele sind insofern noch positiv zu bewerten, als sie zum Thema sprechen.)

Man riecht und leidet

Geräuschbelästigung durch die Sitznachbarn im Parkett ist das eine. Man kann ihrer mitunter Herr werden, indem man freundlich, aber bestimmt: "Schnauze halten!" oder Ähnliches in die Richtung der Störung raunt. Ein anderes jedoch ist die Geruchsbelästigung, und gegen die ist man gänzlich ohnmächtig. "Entduften Sie sich!" ist keine sinnvolle Aufforderung, und ich kann den in schlecht dosierten Wohlgerüchen Badenden um mich herum das Parfüm auch nicht abreiben, ohne selbst in Debatten über körperliche Übergriffigkeit verwickelt zu werden. Also riecht man und leidet.

So! Tut auch mal ganz gut, über die Deutsche Bahn, äh, über all die Störenfriede im Publikum zu schreiben, auch wenn's halt recht billig ist. Ich könnte noch stundenlang so weiterlästern, schließlich habe ich bislang nicht einmal die Worte "Als ich noch ein Kritiker war" untergebracht, und von den Menschen, die – anders als die Beschriebenen – mit voller Absicht eine Veranstaltung stören, war auch noch nicht die Rede. Na dann: Nächstens mehr!

 

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit letzter Spielzeit Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er u.a. in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

 

Zuletzt verriet Wolfgang Behrens in seiner Kolumne, welche Inszenierungen insbesondere Kritiker*innen glücklich machen.

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