Im Glauben an die Illusion

von Ralph Gambihler

Chemnitz, 3. Oktober 2008. Es werden vermutlich noch nicht viele Programmhefte gedruckt worden sein, von denen man sagen kann, dass sie eine ganze Passage aus Margaret Mitchells Südstaaten-Epos "Vom Winde verweht" enthalten. Man fahre also nach Chemnitz und lese! "Mit dem Trotz ihrer Vorfahren, die auch nie eine unausweichliche Niederlage hinnahmen, warf sie das Kinn empor."

Das ist nicht nur eine schöne Handreichung für das notorische Mitchell-Banausentum des Theaterbetriebs, sondern auch für den Besucher der Tennessee Williams-Inszenierung des neuen Chemnitzer Schauspieldirektors Enrico Lübbe (der zuletzt Hausregisseur in Halle war). In den zweieinhalb Stunden kann es nämlich durchaus passieren, dass ein Kinn geworfen wird, in die eine oder andere Richtung, jedoch hinreichend theatralisch.

Gehäuse ohne Privatheit
Eine mögliche Begründung dafür lautet: "Die Hölle, das sind die anderen." Das ist schon wieder ein Zitat aus dem Programmheft, nun aber nicht von Mitchell, sondern von Sartre, einem anderen Kenner menschlicher Verheerungen. In Chemnitz also geben sie "Endstation Sehnsucht" (1947), die erste Regiearbeit Lübbes an der neuen Wirkungsstätte, und dieser Abend wirkte schon bei der Premiere historisch.

Die Bühne von Hugo Gretler bleibt noch vergleichsweise unverbindlich. Sie besteht aus einem Wohnklo-Kasten, in dem, schön aufgeräumt, Mobiliarspärlichkeiten für Geringverdiener stehen. Die Enge ist beinahe zeitlos, die Tristesse mit einem irritierend strahlenden Weiß übertüncht. Bedarfsweise dient einer dieser halbtransparenten Plastikvorhänge, hinter denen normalerweise die Genitalien von Duschenden zur Unkenntlichkeit verschwimmen, als provisorischer Raumteiler. In diesem Gehäuse ohne Privatheit wird eine Frau verrückt. Man könnte sagen: nach alter Schule.

Zerstörerische Konfrontation
Tennessee Williams' Südstaaten-Klassiker "Endstation Sehnsucht" ist das Gruppenbild einer zerstörerischen Konfrontation zwischen Realismus und Romantik, jene allerdings schon in der Schwundstufe eines prekären Realitätsverlustes. Peinlich genau beleuchtet der Autor das Missverhältnis von erträumter und tatsächlicher Wirklichkeit.

Seine weibliche Hauptfigur Blanche duBois, dieses Bild einer tragischen Möchtegern-Lilie, hat sich darin häuslich eingerichtet. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als Blanche bei ihrer Schwester Stella unterschlüpft. Stellas Mann Stanley ist ein Hausherr und Beherrscher von krachender Bodenständigkeit. Dem darf keiner was vormachen, schon gar nicht die Schwägerin. Auch Stanley ist eine Endstation. Soweit das Drama, das nun in Chemnitz irritierend manisch vom Blatt gespielt wird. Lübbe scheint sein Heil darin zu suchen, dem Stück nur ja nichts anzudichten. Sein Kammerspiel wirkt bisweilen, als wolle der Mann hinter dem Regiepult demnächst beim Texttreue-Fanatiker Peter Stein hospitieren.

Starren ins Textmuseum
Woher dieses rasende Vertrauen in die Vorlage? In die Aktualität ihrer moralischen Konflikte? In die Sprache? Und woher dieser ungebrochene Glaube an die perfekte Illusion der Bühne? Es geht nicht gut mit so viel Nichtregie, mit so viel Starren ins Textmuseum, mit so viel arrangiertem Herein-Heraus. Der Abend bleibt, auch in seiner merkwürdigen Bilderarmut, eine tendenziell kleine Angelegenheit ohne Sprengkraft. Der Sozialstudie merkt man es am deutlichsten an. Ihr kommt durch die tradierte Sittlichkeit – die feine Blanche ist heimlich mannstoll! – ein wichtiger Beweggrund abhanden.

In einer Gesellschaft, die sich eher über das neue Biedermeier der Jugend wundert, als über das sexuelle Freibeutertum angejahrter Frauen, hat eine Figur wie Blanche ihre Fallhöhe eingebüßt. So bleibt es bei einem Psychogramm über Einsamkeit und Sehnsucht, über materielle Enge und über die Frage, wie viel Selbstdesign und Autosuggestion das Individuum verträgt.

Verzweifeltes Lügentheater
Darstellerisch steht die Inszenierung auf solidem Grund. Susanne Stein zeigt ihre Blanche als den verzweifelt flatternden Schmetterling, dessen Absturz das Drama peinlich genau inszeniert. Ihr Lügentheater kennt die große Garderobe, die ständige Badflucht und den kräftigen Schluck aus der Pulle. Das Ätherische, Zerbrechliche, Feine an ihr steckt hinter der Maske einer ziemlich pathetischen Grande Dame. Alles in allem: viel Pelz, viel Pein.

Den machohaft dominanten Stanley von Urs Rechn darf man sich in der Nähe von Marlon Brandos legendärer Filmrolle vorstellen, wobei der Grobian etwas sozialverträgliche Ikea-Luft geschnuppert haben könnte. Seine Aggression ist aber von elementarer Plötzlichkeit. Die Szene, in der er wie ein Dampfhammer das dudelnde Kofferradio der Frauen zerstampft, gehört zu den stärksten des Abends.

Wenzel Banneyer nimmt man die grundehrliche Haut seines Blanche-Verehrers Mitch gerne ab. Julia Berke mimt als Stella das robuste, abgeklärte Gör auf dem Weg zum Heimchen. Sie ist – zumal – das erkennende Wesen unter Eingesperrten, die ihre Freiheit auf inneren und äußeren Bühnen verlieren.

 

Endstation Sehnsucht
von Tennessee Williams
Deutsch von Helmar Harald Fischer
Regie: Enrico Lübbe, Bühne: Hugo Gretler, Kostüme: Sabine Blickenstorfer.
Mit: Susanne Stein, Julia Berke, Urs Rechn, Wenzel Banneyer, Annett Sawallisch, Dirk Lange, Edgar Eckert, Bernd-Michael Baier, Franziska Wulf, Jannik Nowak.

www.theater-chemnitz.de

 

Mehr lesen, zum Beispiel wie man out of Chemnitz mit dem Drama verfuhr? Etwa am Thalia-Theater in Hamburg, wo Stefan Kimmig im Februar 2008 die Geschichte ins überflutete New Orleans verlegte. Oder im Schauspiel Essen, wo Schirin Khodadadian das Stück im September 2007 als Studie des Chauvinismus aufgefasst hat.

 

Kritikenrundschau

Beifall wie lange nicht in Chemnitz konstatieren Uta Trinks und Reinhard Oldeweme in der Freien Presse (6.10.2008) nach der Aufführung von "Endstation Sehnsucht", inszeniert vom neuen Schauspieldirektor Enrico Lübbe. Ein "tolle Mimentruppe" habe sich zusammengefunden. "Inszenatorische Effekthascherei" sei nicht "Lübbes Sache". Er nehme sich viel Zeit und zuletzt seien die Momente die "spannendsten", da auf der Bühne "vermeintlich nichts" passiere. "Ganze Kämpfe finden allein in Blickkontakten statt" zwischen Susanne Stein als Blanche, der das Leben "förmlich zwischen den Fingern zerbrösele" und Stanley, den Urs Rechn mit "gewalttäigem Gehabe" als Kerl gebe, "bei dem Tacheles geredet" werde.

Enrico Lübbe sei jemand, der Stücke "im Geist ihrer Schöpfer erforschen, aufpolieren, liebevoll herzeigen kann", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.10.2008). Bühnenbildner Hugo Gretler habe für "Endstation Sehnsucht" einen schneeweißen, kahlen Raum entworfen, den Vorhangbahnen aus Kunststoff teilen. "Ohne folkloristische Schatten, geradezu schmerzhaft überbelichtet wirkt die Geschichte von der verarmten Lehrerin Blanche, die Haus und Ruf verliert und verstört wie hochnäsig bei ihrer Schwester Stella Unterschlupf sucht." Spannend verdichtet erzähle Lübbe dies als taghellen Albtraum, "in dem alle wie die gleißenden Wiedergänger ihrer eigenen Wünsche und Gelüste erscheinen." Zwischen plastischen Momenten nehme sich die Inszenierung allerdings manchmal in ihrer "verhalten elegischen Grundierung fast zu sehr zurück, als wollte sie den Zuschauern zurufen: Kommt her, wir wollen doch nur spielen, nicht beißen!"

 

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