Hinab in den Brunnen der Vergangenheit

von Ulrike Gondorf

Düsseldorf, 15. Februar 2009. John von Düffel, Romanautor, Dramatiker und Dramaturg, hat am Schnittpunkt dieser drei Professionen eine vierte gefunden: spätestens seit seiner mehrfach mit Erfolg aufgeführten Bühnenfassung der "Buddenbrooks" gilt er als Spezialist für ein Genre, das augenblicklich sehr gefragt ist auf der Schauspielbühne. Zu den meistgespielten Stücken zählen derzeit nämlich dramatisierte Romane, in denen das Theater zu finden scheint, was die aktuellen Bühnenautoren nicht so recht liefern wollen: pralle Geschichten, psychologisch ausgefeilte Charaktere, tragfähige, "welthaltige" Konflikte.

"Joseph und seine Brüder", das Werk, das Thomas Mann sechzehn Jahre lang beschäftigte und schließlich auf vier Bücher mit insgesamt über 2000 Druckseiten anwuchs, hat von alledem reichlich zu bieten. In den Augen seines Verfassers war es ein orientalisch-heiterer, lebensbejahender Menschheitsmythos, den er dem nordisch-düsteren, destruktiven der Nibelungensage entgegensetzen wollte. Welches Unheil im Namen dieses germanischen Denkmodells gestiftet wurde, hatte er deutlich vor Augen in der Zeitspanne dieser Arbeit, die von den späten 20er Jahren über die Machtergreifung der Nazis und die Stationen des Exils der Familie Mann in der Schweiz und in den USA bis mitten in den Zweiten Weltkrieg reichte.

Das Muster des Schicksals
"Joseph und seine Brüder" haben jetzt also auch die Bühne erreicht. Rund sechs Stunden Spielzeit hat die mehrere Generationen umspannende Geschichte in der Inszenierung von Wolfgang Engel in Düsseldorf. Der Bearbeiter John von Düffel setzt nämlich auf epische Breite, filtert zwar viele Episoden und Figuren aus dem Mann'schen Text heraus, lässt aber die verbliebenen Teile mit langem Atem, großem Detailreichtum und vielen Wiederholungen ablaufen.

Letztere sind bei Thomas Mann angelegt und bestimmen die Struktur, den Sinn des Ganzen. Josephs Geschichte wird im Roman immer wieder als eine erzählte Geschichte, als die Wiederkehr bestimmter allgemeiner Muster im individuellen Schicksal dargestellt. Diese Perspektive des Erzählers mit seinem sinnstiftenden Wissensvorsprung kann im Medium des Theaters aber nicht aufrechterhalten werden, und so hätte eine gewisse Straffung hier sicher mehr genützt als geschadet. Die Ökonomie des Ganzen und das Verhältnis der Teile zueinander ist in John von Düffels Bearbeitung nicht überzeugend gelöst – und die Realisierung von Wolfgang Engel hat diese Schwäche nicht behoben.

Vom Sklaven zum Statthalter
Die große Stärke des Abends ist demgegenüber die unvermindert wirkende sprachliche und imaginative Kraft von Thomas Mann. Wo das möglich war, hat John von Düffel sich des Originaltextes bedient, hat Erzählpassagen in vielstimmige Chöre der Darsteller verwandelt und Dialoge übernommen. Wo er zusammenfassen und Übergänge schaffen musste, gelingt ihm das, ohne dass Brüche und Abfälle bemerkbar würden. Die Macht des Wortes und die Kraft der Phantasie, durch die Joseph in Ägypten seine erstaunliche Karriere vom Sklaven zum Statthalter des Pharaos macht, behaupten auch auf der Bühne ihre zentrale Rolle und zwingende Ausstrahlung auf das Geschehen.

Und diese Qualität der Bühnenversion macht Regisseur Wolfgang Engel zur Grundlage seiner Inszenierung. Sie setzt ganz auf das Wort, auf die Bilder und Vorstellungen, die der Text erzeugen kann. Das Publikum sitzt auf der Bühne um eine quadratische Spielfläche herum, die wie eine nackte, nüchterne Arena für die Kämpfe wirkt, die Joseph zu bestehen hat: in der Rivalität mit seinen Brüdern, die ihm die Bevorzugung durch den Vater neiden und ihn beinahe ums Leben bringen, in der Fremde in Ägypten, wo er sich der Verführung durch Potiphars Weib erwehren muss und gegen viele Intrigen den sozialen Aufstieg schafft,  schließlich in der Auseinandersetzung mit sich selbst, wenn er am Ende auf Rache an den Brüdern verzichtet und die lange getrennte Familie wieder zusammenführt.

Emotionale Temperatur und schauspielerische Verve
Das Publikum verfolgt das aus allergrößter Nähe, und die Intensität der Darsteller lässt ihm keine Möglichkeit, sich aus der Geschichte zurückzuziehen. Sieben Männer und eine Frau (die expressive Janina Sachau, die Potiphars Weib mit verzweifeltem Begehren und wilder Leidenschaft ausstattet) schlüpfen in die vielen Figuren dieses biblischen Bilderbogens. Und schon durch die immer neuen Verwandlungen dieser Darsteller wird der Grundgedanke der Variation und schicksalhaften Wiederholung archetypischer Konstellationen wirksam unterstützt, der sowohl den Roman als auch diese Bearbeitung für die Bühne trägt.

Überragend in ihrer Präsenz und psychologischen Genauigkeit und der spielfreudigen Lebendigkeit, die sie auch für ihre zahlreichen Episodenfiguren aufbringen, sind Josephs Brüder: Guntram Brattia, Matthias Leja und Wolfram Rupperti. Der Joseph von Michele Cucioffo ist stark in seiner körperlichen Ausdrucksfähigkeit, bleibt der Figur aber einiges an rhetorischem Glanz und sprachlicher Differenzierung schuldig. Emotionale Temperatur und schauspielerische Verve, potenziert durch die große räumliche Nähe zwischen Akteuren und Zuschauern, tragen den Abend über die sechs Stunden Spieldauer und sind letzten Endes ausschlaggebend für den ungetrübten Publikumserfolg dieser Düsseldorfer Premiere.

 

Joseph und seine Brüder
nach Thomas Mann von John von Düffel
Regie: Wolfgang Engel, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Zwinki Jeannée, Musik: Thomas Hertel.
Mit: Michael Abendroth, Guntram Brattia, Michele Cuciuffo, Helmut Grieser, Matthias Leja, Wolfram Rupperti, Janina Sachau, Milian Zerzawy.

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 

Mehr von Thomas Mann auf der Bühne? Am Burgtheater Wien inszenierte Friederike Heller den Doktor Faustus, Stefan Bachmann widmete sich am Maxim Gorki Theater Berlin dem Zauberberg, und am Staatsschauspiel Dresden führte Hermann Schein bei den Buddenbrooks Regie.

 

Kritikenrundschau

In Bühnenbestseller wie seine Fassung der "Buddenbrooks" würde John von Düffels neue Thomas Mann-Adaption "Joseph und seine Brüder" wohl nicht werden, prognostiziert Stefan Keim in der Frankfurter Rundschau (17.2.2009). Dazu sei der Abend mit sechs Stunden einfach zu lang. Von Düffel mute dem Publikum die Vorgeschichte von Josephs Vater Jakob genau so zu wie Manns Philosophie von "den Schichtungen der Geschichte". "Keine geringe Leistung" sei es, wie von Düffel Manns Sprache weiterführe, wie er sich "den Wechsel von großem Pathos und hintergründiger Ironie" traue. Im Mittelpunkt von Engels Inszenierung stehe der Text. Und wo der Regisseur Bilder versuche, drohe die "Mottenkiste". Da würde "mit Blut aus Eimern rumgesudelt", fern von "jedem Naturalismus, aber heute ebenso abgegriffen". Nur "die Energie der Schauspieler", die sich mit "enormer Spiellust in den langen Abend" stürzten, verhindere, "dass diese Momente ins Peinliche rutschen". Der Rest der Kritik ist Einzelcharakterisierung und Lob der Schauspieler Michael Abendroth, Wolfram Rupperti, Guntram Brattia und Janina Sachau und eine Warnung an die Theater, an die Zeit zu denken, wenn alle großen Romane einmal dramatisiert seien.

In der Süddeutschen Zeitung (17.2.2009) schreibt Martin Krumbholz: Die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern stehe an Bedeutung dem "Faust" kaum nach. Da der Roman nicht "übermäßig handlungsintensiv" sei, eigne er sich für die Bühnenadaption. In Engels Inszenierung habe man es statt eines "Thomas Manns" mit sonorer Stimme mit "vielen Erzählern zu tun, und jeder ist der Nabel seiner eigenen Welt". An der "Spiellust der Akteure" entzündeten sich "die besten Momente des Abends, getreu Manns Bemerkung über Joseph, es habe diesen ‚unwiderstehlich gejückt, so zu tun’ (nämlich anzugeben)". Es zeige sich allerdings, dass "signifikante Eingriffe in den Text" zu Lasten "nicht nur der Komplexität, sondern auch des Witzes" gingen. und dass Michele Cuciuffo mit der Doppellast des "gigantischen Josephspartes" und der Rolle des jungen Jakob "nun doch an seine Grenzen" stoße. Zwar habe die Doppelbesetzung ihre guten Gründe, doch unterschlage Cuciuffo bei seinem Joseph "die charmante Klugheit, den stupenden Mutterwitz des Nicht-Muttersohns, eben das Unwiderstehliche, vor dem Freund und Feind am Ende ihre untauglichen Waffen strecken". Dennoch verdiene das Theater, "das sich hier methodisch überfordert", Respekt. Der "kontrollierte Minimalismus der Inszenierung" weise "allemal in die richtige Richtung". "Wenn es denn überhaupt ginge, den Josephs-Roman zu dramatisieren, dann ginge es so."

Auf der website der Kölnischen Rundschau (17.2., 19:38 2009) schreibt Günther Hennecke: Die quadratische Spielfläche von Olaf Altmann wirke "wie ein Kampfplatz". Für "Joseph und seine Brüder"  sei sie "Kanaan und Ägypten, Kerker und Palast". In diesem Raum würden "Sprache und Imaginationskraft des vierbändigen Romans" zum "umjubelten Ereignis". Der Einstieg falle schwer, doch zunehmend zögen die Bearbeitung des Stoffes durch John von Düffel und die "kongeniale, in packende Bilder umgesetzte Uraufführungs-Inszenierung durch Wolfgang Engel" in Bann. Bestechend, wie von Düffel "Original und eigene Sprachwelten ineinander" füge. Die Bühnenfassung weite sich in der Enge des Raums "zum großen Menschheitsdrama". Die Inszenierung verleihe ihm "weiten Atem", das Ensemble agiere "mitreißend". Es sei "ein wundervoll aus der Sprache heraus lebender Abend, der die Imagination beflügelt."

In der lokal zuständigen Rheinischen Post (18.2.2009) schreibt Dorothee Krings: "Um die Tiefenkrusten unserer Kultur soll es gehen, um die biblische Basis, um Urmuster des Handelns - und des Erzählens." Auch Krings schreibt, Düffel gelinge eine Fassung, die Manns "tiefgründige, Wortschatzreiche, von feiner Ironie durchlüftete Sprache erstaunlich unbeschadet auf die Bühne trägt". Auch Regisseur Engel baue ganz aufs Wort. Alle Szenen müssten "im Kopf des Zuschauers entstehen". Vor allem am Anfang sei das "harte Arbeit" für das Publikum. Doch bald gewinne die Inszenierung an Dichte undes sei "beeindruckend", wie es den Schauspielern gelinge, "allein aus Sprache Räume, Szenen, Gefühle zu formen." Zum Glück meide Engel jeden "folkloristischen Realismus", stattdessen: "minimale Mittel". Das sei "karg, ungefällig, überzeugend". Die wenigen "abgegriffenen Bilder" fielen nicht weiter ins Gewicht. Die "Länge, das Ausharren- und Zuhörenmüssen" seien ein "eigenes Erlebnis" an diesem Abend.

John von Düffel schaffe es auf 140 Typoskriptseiten tatsächlich, "einen schön konzentrierten und fürs Theater spielbaren Eindruck von dem Mann'schen Riesenepos zu geben", schreibt Peter von Becker im Tagesspiegel (18.2.2009). Allein hierfür sei die fünfeinhalbstündige Uraufführung am Ende mit Ovationen gefeiert worden. Wolfgang Engels respektable Inszenierung aktualisierte und romantisierte nicht. Bis auf ein paar helle Leinenkleider, dank derer sich die Ägypter von den schwarzgrauen, "eher an Beckett-Tramps als an Orthodoxe erinnernden alttestamentarischen Juden" unterscheiden, gebe es keine orientalisch-exotischen Anspielungen. "Licht, leicht, aber auch sehr preußisch-puritanisch dahingebrettert", sei das, so von Becker. Es "bräuchte nun sehr tolle Akteure: die ganz aus Körper und Sprache eine Welt entdecken lassen." Dieses träumerische Zwischenreich finden Düsseldorfer Akteure aber "nur immer ansatzweise."

Einerseits sei es ein aussichtsloses Unterfangen, "Joseph und seine Brüder" für die Bühne zu adaptieren, und "so fiele es leicht, aufzuzählen, was verkürzt, verflacht, vereinfacht wurde", schreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.2.2009). Andererseits sei Regie keine Philologie. "Am Ende zählt, ob es spannendes Theater ist. Und das ist dem Versuch in Düsseldorf nicht abzusprechen." "Erzählendes Theater, knapp stilisiert, elementar und intensiv in schnellen Rollenwechseln und Mehrfachbesetzungen (...) Für und Wider der Blicke, Rede und Gegenrede, mit großer Genauigkeit und voller feiner Nuancen komponiert", sah Rossmann. Michele Cuciuffo muss zum Ende dem Joseph Geschmeidigkeit und Aura schuldig bleiben. "Keiner der Schauspieler aber, und das ist Engels Hauptverdienst, ist in Düsseldorf je zu solcher Form aufgelaufen."

 

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