Aufgekratzes Beziehungskistchen

von Shirin Sojitrawalla

Mainz, 12. September 2009. Ob es sich anbietet, aus Schnitzlers "Traumnovelle", die sich im Unbewussten suhlt wie in einem ungemachten Bett, ein Stück zu generieren, sei einmal dahingestellt. Fest steht, man muss sich etwas einfallen lassen, auch weil sich vieles in dieser Novelle nur im Kopf der Hauptfigur Fridolin abspielt. Dem jungen Regisseur Jan Philipp Gloger (Jahrgang 1981), der die Theaterfassung gemeinsam mit seiner Dramaturgin Marie Rötzer schrieb, ist eingefallen, seinen Fridolin zu klonen.

So treten auch andere Figuren im Stück in seinem Outfit auf – Anzug grau in dunkelgrau mit schwarzem Schlips. Und die beschreiben dann Schauplätze und Personen, verraten, worüber Fridolin sich insgeheim Gedanken macht oder kommentieren auch schon mal. Sie gleichen widerstreitenden Stimmen in einem verwirrten Kopf, der zwischen Traum und Wirklichkeit hängt. Fridolins Kopf.

Laue Geilheit, statt fiebertraumhafte Leidenschaft
In Mainz ist dieser Mensch, verkörpert von Stefan Graf, ein hyperventilierender Leisetreter, der irgendwie x-beinig durch sein an sich vorbildliches Leben schleicht. Immer eine Spur zu feige und stattdessen voller Schwermut ist dieser Mann. Er ist Arzt von Beruf, um die dreißig Jahre alt und hat eine liebreizende Frau (Johanna Paliatsou ) sowie eine Tochter, die wir nicht zu Gesicht bekommen. Nach einer gemeinsam verbrachten Ballnacht, platzen dann die geheimen Sehnsüchte des Ehepaars auf wie schlecht vernähte Wunden, und Fridolin wittert fortan Abenteuer, Freiheit und Gefahr.

Später dann ergibt sich für ihn die Gelegenheit, unerlaubterweise an einer surrealen Orgie teilzunehmen, bei der er auf eine unbekannte Schöne trifft. Er wird entdeckt und verwarnt, woraus sich bei Schnitzler ein spannendes Psychodrama entwickelt, in Mainz aber in weiten Teilen nur ein aufgekratztes Beziehungskistchen. Das liegt auch daran, dass die fiebertraumhafte Leidenschaft an diesem Abend zumeist lauer Geilheit gleicht, und die Erotik sich nicht selten auf dem Niveau von Boulevardkomödien räkelt.

Der ernstgemeinte Schmerz, den Fridolin und Albertine in ihren außerehelichen Begierden spüren, weicht hier einer sexualtherapeutisch zu klärenden Verstimmung. Dabei lässt Gloger seine "Traumnovelle" im Einheitsbühnenbild (Franziska Bornkamm) spielen – ein karg und nobel eingerichtetes Schlafzimmer: Bett, Schrank, Kommode, Sessel. Am linken Rand sitzt merkwürdigerweise ein Musiker mit Gitarre, der es freilich im Laufe des Abends versteht, mit seinen behutsam eingesetzten Klängen genau jene weiten Assoziationsräume zu öffnen, denen sich die Inszenierung zu oft versperrt.

Irre Pirouetten, alptraumkonfuse Bilder
Das Geheimnisvolle, nicht Ausgesprochene, nicht Sagbare, Unbewusste, Vage und Unheimliche des Stoffes verliert sich bei Gloger nämlich schon mal im Trockennebel. Dabei gelingen ihm durchaus gute Bilder, etwa wenn die Tochter des Kostümverleihers (Katharina Knap) im Lichtkreis irre Pirouetten dreht oder sich das Ensemble im Schrank zum Ficken trifft und nur Fridolin draußen bleiben muss. Auch das sonderbare Gefühl, aus der Welt zu fallen, das Fridolin heimsucht, verdeutlicht Gloger in alptraumkonfusen Bildern.

Dann aber wieder gebärdet sich der nur eineinhalbstündige Abend richtiggehend zäh. Und das liegt auch daran, dass man zuweilen den Eindruck gewinnt, man wohne einem Hörspiel bei. Das gilt etwa für die fremden Körperwelten, die Fridolin bei seinem nächtlichen Ausbruch entdeckt. In Mainz wird bloß das eingespielte Stöhnen immer lauter, als lüsternes Crescendo hängt es über dem Saal, und wer die Augen zumacht, bekommt eine Ahnung von der Zügellosigkeit der Szene.

Wer sie allerdings wieder aufmacht, sieht nur einen zappeligen Fridolin im Lichtkreis an der Rampe, der sich Arme und Beine verrenkt, um wieder zu sich zu kommen. Den Ort der Lustbarkeit bekommt man ohnehin nicht zu sehen, wie gesagt, spielt sich ja alles im ehelichen Schlafzimmer ab, was die Interpretation, alles ereigne sich nur im Kopf des Ehepaars allzu nahe legt. Kurz: ein bisschen unbefriedigend das Ganze.

 

Traumnovelle
nach Arthur Schnitzler
Fassung von Jan Philipp Gloger und Marie Rötzer (UA)
Regie: Jan Philipp Gloger, Bühne: Franziska Bornkamm, Kostüme: Karin Jud.
Mit: Tatjana Kästel, Lorenz Klee, Katharina Knap, Marcus Mislin, Johanna Paliatsou und Thomas Prazak.

www.staatstheater-mainz.com


Mehr lesen? Im Mai 2009 inszenierte der achtundzwanzigjährige Jan Philipp Gloger im Marstall des Bayerischen Staatsschauspiels die Uraufführung der surrealistischen Parabel Gegen den Fortschritt des spanischen Dramatikers Esteve Soler.

 

Kritikenrundschau

Gleich in der ersten Szene werde das Muster deutlich, nach dem Marie Rötzer und Jan Philipp Gloger, der auch Regie führt, Schnitzlers "Traumnovelle" am Staatstheater Mainz für die Bühne umgesetzt haben, schreibt Rotraut Hock in der Mainzer Allgemeinen Zeitung: "Sie lassen die verborgenen Sehnsüchte und Begierden von Albertine (Johanna Paliatsou) und Fridolin (Stefan Graf) als reale Gestalten auf der Bühne erscheinen und dennoch – nicht zuletzt, weil sie beständig ihre Funktionen wechseln – bleibt jederzeit deutlich, dass diese Gestalten in die geträumte Innenwelt gehören." Mit witzigen Regieeinfällen bekomme "die Inszenierung eine erfreuliche Leichtigkeit, ohne dass man auch nur für einen Augenblick fürchten müsste, die 'Traumnovelle' würde hier zum Klamauk gemacht. Vielmehr ist von den ersten Sätzen an deutlich, dass Schnitzlers Erzählung mit großem Respekt behandelt wird". Denn Stefan Graf und Johanna Paliatsou verstünden es beide, "dem ernsten Aspekt dieser psychiatrischen 'Traumnovelle' den gebührenden Raum zu geben".

 

 

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