Der Kasten, das Bett, die Psyche

von Reinhard Kriechbaum

Salzburg, 27. Juli 2010. Dem Kasten im Schlafzimmer ist absolut nicht zu trauen. Da kann schon mal ein Mann herauskommen mit Zahnbürste im Mund. In der letzten Szene werden es gleich sieben Zähneputzer sein, die auf diese Weise auftauchen und trotzdem im Kasten auch noch ihre Hemden und Anzüge vorfinden: Schlafzimmerschrank reloaded!

Aber zu diesem Zeitpunkt wundert einen schon gar nichts mehr, man hat schließlich schon anderthalb Stunden Bühnenmagie hinter sich. Da vergnügt sich eine junge Frau im Bett, als ob sie zu zweit wäre. Ist sie aber nicht. Ein Mann taucht auf (schon wieder war der Kleiderkasten mit im Spiel), er hebt die Decke hoch - aber da ist die Frau weg. Schon kommen zwei Herren im grauen Anzug (aus dem Kasten, es ist ein running gag), Detektive wohl. Sie finden das Kleid der Dame im eben noch ganz leeren Bett.

 

hires-innenschau7Jakop Ahlboms "Innenschau" © Arjan Benning

Wer ist wer? Und wo?

Der Schwede Jakop Ahlbom, der in den Niederlanden als freier Theatermann mit seinen sparten-grenzgängerischen Produktionen hoch gerühmt wird, eröffnete heuer das Young Director's Project der Salzburger Festspiele. "Innenschau" heißt das hinterlistige, hintersinnige Rätselspiel, das uns zuerst einmal vorführt, wovon Kriminalbeamte ein Lied singen können: Auf Augenzeugen ist nicht der geringste Verlass. Es mangelt an Beobachtungsschärfe und schon nach kürzester Zeit sind Details kaum mehr zu hinterfragen. Das Theaterpublikum ist wohl nicht besser.

Oberflächlich also ein Kriminalfall, in dem nicht mal herauskommt, welcher von zwei Hauptverdächtigen nun der ominöse Herr Priznan ist. Der Glatzkopf oder der große schlacksige Kerl, der immer so gierig dreinschaut? Der eine behauptet, er sei's nicht, der andere schon. Beides muss nicht stimmen. Jedenfalls war eine Dame im Glitzer-Abendkleid im Spiel. Dann ist die Ehefrau des Einen verschwunden und taucht zuletzt als Leiche wieder auf. Nicht im Keller, sondern im Bett ist sie verscharrt worden, wo wir bis dahin eigentlich eine Matratze vermuteten.

Vexierspiele der Ur-Instinkte und Ur-Ängste

Jakop Ahlbom ist auch ausgebildeter Zauberkünstler, er lässt Menschen verschwinden und auftauchen. Die Requisiten fahren in der Gegend herum. Eine Frau macht sich während des Sexualakts davon, der Mann macht unbeirrt weiter. Da gewinnt die Bettdecke Eigenleben, verwandelt sich in eine riesenhafte Aufblas-Sexpuppe, in die der Mann hineinkriecht (eine Frau wird nachher herauskommen).

Ahlbohm erzählt uns nicht einfach einen Krimi und auch nicht eine Beziehungskiste. Die im Detail ironisch-witzigen Vexierspiele decken Ur-Instinkte und Ur-Ängste auf. Mit Verführung und Getriebensein hat das alles zu tun. Vor allem auch damit, dass Beobachter zwangsweise draußen bleiben und die Wahrnehmung immer bruchstückhaft, nicht mal eine halbe Sache ist. Aus nur leicht geänderter Perspektive betrachtet, werden aus Verführerinnen Opfer, aus draufgängerischen Männern arme Getriebene. Und das in allen denkbaren Varianten. "Innenschau" ist anregend, weil so gar nicht lehrhaft, sondern mit Poesie und sogar Humor vorgeführt wird, wie uns das Unterbewusstsein ein Schnippchen schlägt. Szene um Szene sind wir damit beschäftigt, Sinn und Ordnung in Dingen zu sehen, die vielleicht ganz anders - viel harmloser oder ungleich bösartiger - gemeint sind, als wir sie gerade einstufen.

Refugien wirklichen Ensembletheaters

Eine tolle Artistin macht zirkuswürdige Verrenkungen und steigt wundersam gelenkig aus einer Pappschachtel. Eine Band auf der Bühne produziert Schmuse-Pop und Rock, und dazu wird auch getanzt. Gesprochen wird ganz wenig.

Was kommt noch beim neunten Young Director's Project des Salzburger Festspiele? Die Pariser Truppe "d'ores et déjà" von Sylvain Creuzevault präsentiert ab 4. August "Notre Terreur". Jon Fosses "Tod in Theben" setzt die deutsche Regisseurin Angela Richter um - eine deutschsprachige Erstaufführung, die hier produziert wird (ab 11. August). "Mary Mother of Frankenstein" (ab 19. August) ist eine Produktion des Belgiers Claude Schmitz (Lüttich). Man setzt beim "Young Director's Project" auf freie Theatergruppen, "denn hier vermuten wir die letzten Refugien eines wirklichen Ensembletheaters", wie es der Schauspielchef der Salzburger Festspiele, Thomas Oberender, formuliert. Der mit 10.000 Euro dotierte Montblanc Young Directors Award 2010 wird am 21. August in Salzburg verliehen.

 

Innenschau
ein Bildertheater von Jakop Ahlbom
Regie und Konzept: Jakop Ahlbom, Musik: Alamo Race Track, Bühne: Daniel Ament, Kostüme: Zita Winnubst, Nicolien de Jong, Licht: Stefan Dijkman.
Mit Yannick Greweldinger, Judith Hazeleger, Kelly Hirina, Silke Hundertmark, Peter Kádár, Pieter van Loon, Minka Maria Parkkinen, Reinier Schimmel.

www.salzburgerfestspiele.at

 

Mehr zu Jakop Ahlbom? Schon im vergangenen Jahr becircte er in Vielfalt das Publikum des Zürcher Theaterspektakels mit Zaubertricks.

 

Kritikenrundschau

"Dererlei war um 1980 herum große avantgardistische Mode", weiß Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (29.7.2010). "Hatte aber schon um 1990 herum das absolute Ranzigkeitsgütesiegel auf dem Buckel. Dass es jetzt festspielgesegnet als neuester Jugendschick wiederkehrt, lässt einen am Witz der Zeiten doch leicht verzweifeln." Offensichtlich habe "der gute alte, weltberühmte Psychodoktor Lacan als heimlicher Chefdramaturg seine poststrukturalistischen Theoriefinger im Spiel". Was die Sache nicht besser mache: "Man kann sich dabei viel denken. Man kann es aber auch bleiben lassen."

Christine Dössel erlebte hingegen einen "Krimi nur auf den ersten Blick, der als so trügerisch entlarvt wird wie die menschliche Wahrnehmung", wie sie in der Süddeutschen Zeitung (29.7.2010) durchaus beeindruckt schreibt. "Bei Ahlbom muss man seinen Verstand ausschalten, und seinen Augen darf man nicht trauen." Seine "Innenschau" funktioniere wie ein Psychotrip in das Unbewusste: "Das ist Triebtanztheater, Tricktanztheater, Ahlboms fabelhafte Welt der Anomalie - mit rollenden Requisiten, hüpfenden Schränken und acht Schauspielern von akrobatischer Biegsamkeit."

Einen "düster-schwülstigen Bilderstrom durch (un)behagliche Traumwelten eines Mannes" hat Margarete Affenzeller gesehen, wie sie im Wiener Standard (29.7.2010) zu Protokoll gibt. "Ein Thriller, der sich aber auch auf ziemlich platte, Sexualität und Verbrechen koppelnde Männerfantasien beschränkt, in denen Frauen in erster Linie möglichst biegsame Wirbelsäulen benötigen. Auch wenn die Theatersprache dieser Innenwelten (Pantomime, Zaubertricks) schön anzusehen war - ganz so leicht ist das Schattenreich David Lynchs, der im Programmheft als Vorbild zitiert wird, nicht zu plündern."

In welchem Innenraum sind wir überhaupt, fragt verwundert und bewundernd Norbert Mayer in Die Presse (29.7.2010). Und befindet: "Ahlboms aparter kleiner Thriller dürfte gute Chancen auf den Sieg haben; sein Spiel mit dem Unbewussten, mit Schein und Sein ist flott inszeniert, abwechslungsreich, prahlt mit schwierigsten artistischen Verrenkungen, mit einem Tabledance etwa, der jedem chinesischen Zirkus Ehre erwiese. Die Bilder sind einprägsam, die Szenen leben von Ablenkung."

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