Rache ist Kunstblut

von Andreas Schnell

Bremen, 12. August 2010. Ein Stück über den Krieg wollte Patrick Schimanski machen. Und stieß auf "Die Sieben gegen Theben" (Aischylos) und "Die Hilfeflehenden" (Euripides) und landete bei Einar Schleef und Ulrich Müller-Schwefe, die beide Stücke in eines schmiedeten und, indem sie die chronologische Reihenfolge verkehrten, den Kreislauf von Tod und Rache in Endlosschleife schickten. Das Stück, so ist zu lesen, wurde seit der Uraufführung in Frankfurt im Jahre 1986 nicht wieder aufgeführt.

Frauen am Grab der gefallenen Söhne

Was damit zu tun haben mag, dass Schleef das Stück auf eine Weise inszeniert hatte, die erstens Publikum und Presse seinerzeit nachhaltig verstörte. Zum anderen aber wohl auch mit dem Stück selbst, das nicht nur einen Chor ins Zentrum stellt (was damals alles andere als angesagt war), sondern auch sprachlich herausfordert, und zwar Schauspieler wie Zuschauer. Ersteres machte sich gestern Abend in der Concordia mehr als einmal bemerkbar. Was wiederum letzteres bewirkte und es nicht erleichterte, dass man sich zwischen den ganzen Göttern, Vätern, Müttern, Töchtern, Brüdern und Schwestern zurechtfand, die es in der griechischen Mythologie bekanntlich in größeren Mengen und beträchtlichen Verstrickungen gibt.

Kurz gesagt: Kreon, König von Theben, verwehrt dem geschlagenen Feind die Herausgabe der gefallenen Heerführer. Die Mütter der Gefallenen bitten König Theseus um Hilfe, damit sie ihre Toten begraben können. Das bedeutet Krieg. Den gewinnt Theseus. Was der Anlass für den nächsten Krieg ist, in dem auch wieder das geschieht, was in Kriegen offenbar immer schon zusätzlich zu all dem Gemetzel an Grausamkeiten geschah. Und wenn wir schon dabei sind: Einiges wirkt in der Tat frappierend aktuell.

Versus den konkreten politischen Problemen

Da wird im Namen einer Art Menschenrecht in den Krieg gezogen, da gibt es eine kurze, aber hübsch pointierte Diskussion über Demokratie vs. Diktatur, da gibt es traumatisierte Kriegsheimkehrer und Kriegsverlierer, die ihr Heil wiederum im Krieg suchen. Allerdings: Wenn heute die USA im Verein mit ihren Alliierten einen missliebigen Diktator aus dem Weg bomben, hat das eben ganz konkrete politische Gründe, die zumindest mit denen aus den antiken Tragödien nicht viel gemein haben.

Schleef und Müller-Schwefe haben jedenfalls nicht nur massiv in die chronologische Reihenfolge eingegriffen, sondern auch in die Sprache. Drastisch, aber keineswegs ohne bösen Witz. Einer der Gefallenen wird beispielsweise mit den Worten gewürdigt: "Bescheiden trat er auf, wie Ausländer es sollen." Dessen ungeachtet ist "Mütter" schon eher das, was man gerne "schweren Stoff" nennt. Voller "uralter Schwanzwut", Rachlust, Göttern, ein wenig Kunstblut - und eben einem Chor, der auch bei Schimanski die Hauptrolle spielt, der singt und auch perkussive Elemente bringt.

Übergeordnete Dynamik der Gewalt

Bei Schleef kommt man um die Frage kaum herum, welche Rolle die Frau im männerdominierten Macht- und Kriegstreiben eigentlich spielt. Die Ambivalenz zwischen vergewaltigten Kriegsopfern und trauernden Müttern einerseits, andererseits rachsüchtigem Furor und Kriegsttreiberei, im weiblichen Chor kollektiv artikuliert, löst sich bei Schimanski eher in der übergeordneten verhängnisvollen Dynamik von Gewalt auf, die erneut Gewalt erzeugt.

Diese Hauptrolle indes füllt das immer etwas volatile Ensemble des Theaterlabors zumindest bei seiner ersten gemeinsamen Premiere noch nicht überzeugend aus. Und man darf sich auch sonst noch ein paar Nachbesserungen wünschen. Artikulation, Nunancierung im Ausdruck, Präsenz - da waren die Leistungen doch recht heterogen. Was der minimalistische Bühnenraum natürlich auch nicht auffangen konnte. Ein paar hübsche Ideen gab es natürlich dennoch. Athene trat als reizendes Drag-Dickerchen auf, des Theseus erste Personifizierung war ein schnöseliger Lolli-Lutscher. Und nicht zuletzt, was ja auch nicht wenig ist, bescheren uns Schimanski und das Theaterlabor die auch unter diesen Vorzeichen mutige Wiederentdeckung eines Stücks.

 

Mütter
von Einar Schleef/Hans-Ulrich Müller-Schwefe
Regie: Patrick Schimanski, Bühne: Sonia Vilbonnet, Kostüme: Angela Straube, Dramaturgie: Götz Holstein, Schirin Nowrousian, Patricia Röttjer, Jana Schenk. Mit: Andrej Bahro, Ricarda Baus,  Daniela Dinnes, Kathrin Graumann, Simone Goertz, Romina Jugel, Chiara Kerschbaumer, Anna Katharina Kugel, Annelie Krügel, Joana Landsberg, Marit Lehmann, Patricia Materne, Matthias Meyendriesch, Lara-Sophie Milagro, Katharina Noppeney, Jennifer Paulus, Petra Pauzenberger, Milena Pieper, Markus Spörhase, Ronen-Sander Temerson, Axel Wagener, Katharina Walther, Katrin Wünschel.

www.theaterlab.de

 

Mehr zu Patrick Schimanski: Im März 2010 inszenierte er in Bremen Peter Hacks' Der Schuhu und die fliegende Prinzessin und im Sommer 2009 Heiner Müllers Germania Tod in Berlin.

 

Kritikenrundschau

Mehr Wucht und Sog, oder zumindest Mama-Kitsch à la Heintje hätte sich Tim Schomakers von der Bremer Kreiszeitung (14. 8. 2010) gewünscht. Schimanskis Mütter-Version rücke zwar "die Reproduktion des Todes" stark in den Mittelpunkt. Doch wären die Mittel des Theaterlaborensembles, dies wirklich auszufüllen, begrenzt, schreibt er. "Immer wieder mischen sich Unschärfen in die chorische Erzählung, immer wieder scheren Gestik und Mimik aus dem Kollektiv aus. Immer wieder ersetzt, zumal in den quasi solistischen Partien, das Schreien den Druck." Doch angesichts der Toten, die in schwarzen Müllsäcken auf die Bühne geschleift werden, fehle dann die erforderliche theatralische Wucht, um die "tragische Trauer der Mütter in den Zuschauerraum zu schleudern".

 

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