Je höher die Gipfel, desto tiefer der Sturz

von Michael Laages

Salzburg, 10. August 2012. Auch damals schon hat also Beten eher nicht geholfen. Jedenfalls verlässt der unstet durch die Welt irrende Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz die herzensgute Familie des Pfarrers Fritz Oberlin im elsässischen Steintal nach einiger Zeit wieder, wie sehr sie ihm auch die Ideale der heiligen Familie vorgelebt und wie nachdrücklich ihm der Patriarch in der Landpfarrei auch den rechten Glauben hat einzubimsen versucht. Auf Erden war ihm hier wohl nicht zu helfen, und mit Gott und immer wieder Gott schon gar nicht – Georg Büchner erzählt bekanntlich so vom Aufenthalt des Goethe-Zeitgenossen (und –Widerparts) Lenz in tiefster elsässischer Abgeschiedenheit.

Auf der Achterbahn

Mit dem Ensemble der "Montagnes Russes" aus Wien und einigen Gästen gibt Cornelia Rainer, zeitweilige Burgtheater-Assistentin Andrea Breths und dem neuen Salzburger Schauspielchef Sven-Eric Bechtolf seit gemeinsamer Arbeit an Shakespeares "Richard II." eng verbunden, der Novelle eine Spiel- und Dialogform, erweitert sie obendrein sie um einige weitere Bruchstücke und Bausteine aus der Lenz-Biographie, Oberlins Bericht vom Besuch des Dichters sowie aus Büchners Texten – und schickt sie auf die Achterbahn.

Lenz3 560 WolfgangKirchner uDer Dichter auf der Achterbahn des Lebens und des Theaters   © Wolfgang Kirchner

Das ist durchaus wörtlich zu nehmen. Schon die "Montagnes Russes", die 'russischen Berge' im Titel der freien Gruppe, meinen ja die Achterbahn vom Rummelplatz, die als russische Erfindung aus dem 16. Jahrhundert gilt und deren Idee von Napoleons Soldaten nach Frankreich gebracht wurde.

Und der Bühnenbildner Aurel Lenfert hat tatsächlich eine gebaut in den Salzburger "republic"-Saal. Zwei steile Gipfel hat sie und zwei Schleifen, kurz vor Schluss markiert ein Wagen auf dieser Bahn, dass sie vielleicht sogar befahrbar wäre. Aber natürlich sind die "russischen Berge" vor allem das elsässische Mittelgebirge. Lenz kraxelt auf die Höhen der Natur, die allein ihm zur Gottheit taugt, die allein ihn in die Höhen und in die Tiefen stürzen lässt – je höher die Gipfel, desto tiefer der Sturz.

Furiose Augen- und Ohreneröffnung

Außerdem ist die bühnenfüllende Achterbahn auch noch aus Holz und darum sozusagen doppelt Natur: virtuell und real. Wie real, das zeigt zu Beginn der Schlagzeuger Julian Sartorius, der trommelnd und klöppelnd die verschiedenen Hölzer zum Klingen bringt; aber nicht nur die, sondern auch Mobiliar und Ausstattung der Pfarrerswohnung – wie klingen Teller und Tassen, Messer und Gabeln? Wie klingen Tisch und Stuhl? Wie klingt ein Buch, das "Buch der Bücher" womöglich?

So beginnt Cornelia Rainers Inszenierung wirklich sehr verführerisch, vor allem mit der (Jazz-Kennern nicht ganz unvertrauten) Strategie des ertrommelten Klangs der Welt, wie sie ist, des Sounds der Dinge, wie sie sind. Aber außer dem Schlagzeug von Sartorius in der Achterbahnschleife rechts liegt halt auch schon Markus Meyer als Lenz vor der ärmlichen Ausstattung der Pfarre links und beschreibt hysterisch kritzelnd den Boden ... und nach der furiosen Augen- und Ohren-Verführung der Eröffnung beginnt dann doch auch das Stück. Und darin ist nun leider nichts, aber auch gar und überhaupt nichts von dem Zauber, den der Auftakt beschwor.

Selbstbewußt vorgestrig

Von "new directors", von neuen Stilen und Methoden der Regie war zum Glück ja nie die Rede im "Young Directors Project", das Jürgen Flimm vor zehn Jahren mit Hilfe eines Herstellers edler Schreibgeräte in Salzburg kreierte. Jung nur sollten sie sein, die Regie-Talente, und immer war auch Stadttheater-Tauglichkeit im Visier, mal mehr und in jüngerer und jüngster Zeit dann eher weniger.

Aber eine Arbeit, die so selbstbewusst von vorvorgestern ist, hat der Wettbewerb vermutlich dann wohl doch nicht gesehen. Ein Kammerspiel am Küchentisch, Hausmusik nach dem Mittagessen und fleißiges Beten inklusive, lässt Rainer den Pfarrer Oberlin zelebrieren – und Manfred Böll, Urgestein vom Bochumer Schauspielhaus, stopft alle Spielplan-Routine in diesen Pfarrer, der seinem weltenrückten Heimattal Bildung brachte, sozialen Aufstieg und die Kartoffel. Ein Aufklärer also, ein "Alter Fritz" im Steintal – es lohnt sich durchaus, auf Details zu lauschen in Rainers Art zu erzählen. Ein wenig Breth-Schule ist da schon zu spüren.

Lenz1 280 WolfgangKirchner uAkkurat gewürgt    © Wolfgang Kirchner

Kleine, ordentliche Welt

Darüber hinaus aber hat diese brave Welt so gar keinen doppelten Boden. Markus Meyer als Lenz fällt auch mit derart demonstrativer Hysterie und Euphorie in diese kleine, ordentliche Welt hinein, dass die Grenze zum naiv-jauchzenden Klischee gefährlich nahe rückt. Auch das Lenz-Bild, wie es sich hier verbreitet, ist so vollkommen frei von Schattierungen, von Unter- und von Zwischentönen, auch Markus Meyer tut immer akkurat das, was die Rolle ihn gerade sagen und fühlen lässt, dass die Aufführung mit der Zeit komplett zur Fläche gerinnt, zur Oberfläche. Da mögen noch so sehr die Berge in den Bühnenhimmel ragen. Wenn die Regisseurin das halsbrecherische Auf und Ab der Achterbahn doch bloß wirklich benutzt hätte ... und nicht nur als Bild und Phantasie. Herum geklettert wird mal auf ihr: harmlos, ungefährlich. Das war's.

Salzburgs Schauspielchef Bechtolf hat sich mit allen Produktionen im "Young Directors Project" viel Mühe gegeben, im Programmbuch führt er viele der aufführungsbegleitenden Interviews selber ... in der Sache Rainer & Lenz klingt allerdings besonders viel Engagement mit: "Ich habe Dir den 'Lenz' angetragen ..." Etwa so innig ist dann leider auch Rainer umgegangen mit dem angetragenen Material.

Und Lenz, der verlorene Dichter aus dem fernen baltischen Liv-, heute Lettland, ging abermals verloren.

 

Jakob Michael Reinhold Lenz
mit Texten von Jakob Michael Reinhold Lenz, Friedrich Oberlin und Georg Büchner Fassung von Cornelia Rainer und Sibylle Dudek
Regie: Cornelia Rainer, Bühne und Kostüme: Aurel Lenfert, Komposition: Sophie Hunger, Christian Prader und Julian Sartorius, Musikalische Leitung: Christian Prader, Dramaturgie: Sibylle Dudek.
Mit: Clemens Ansorg, Manfred Böll, Markus Meyer, arola Niederhuber, Christian Prader, Gertrud Roll, Julian Sartorius, Jonathan Seissler

www.theatermontagnesrusses.at
www.salzburgerfestspiele.at

Alles über die Salzburger Festspiele auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Von "volkshochschulischen Dokuschnipseln" komplexer Geisteswelten, die behaupteten, "allergrößtes Theater" zu sein, spricht Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (13.8.2012). Eine Qualität jedoch spricht er diesem Abend zu: "Er ist seltsam". Vom bisherigen Schauspielpogramm der Festspiele fühlte er sich eher wie "mit Mottenkugeln beworfen". In diesem 'Lenz'-Abend geht seiner Ansicht nach "um nichts". Fragen an ihren Stoff zu stellen, vermeide Cornelia Rainer sorgsam. "Sie lässt sich stattdessen von Aurel Lenfert eine hinreißende Bühne bauen, eine Holz-Achterbahn, die sich um einen Küchentisch nebst Ofen ringelt – beides wie die Kostüme in detailliertem Naturalismus gehalten. In dieser Welt des ausgehenden 18. Jahrhunderts machen zwei Menschen Musik, einer klöppelt enervierend auf der Bühne herum – Perkussion als Sinnbild der Geisteszerrüttung –, der andere spielt Orgel, vor allem bei vielen muffigen Kirchenliedern. Dazu rast Markus Meyer als Lenz mit blühender Haltlosigkeit über die Bühne, ein Stürmer, ein Dränger, ein Schwärmer, den man dabei besser nicht stören sollte."

 

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