Mangelnder Schillerfaktor

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 25. Januar 2013. Nicht Schmetterlinge, sondern Hühner, ganze Hühner hat der Oberst (Ulrich Hoppe) in seinem Bauch, in den man hineinschauen kann, denn er ist nicht mit Haut, sondern mit transparenter Plastikfolie bespannt. Und in den Taschen hat er auch welche, die wirft er den dunklen Gestalten in zu weiten Mänteln hin, die sich wie die Spatzen drum balgen. Dann plötzlich einen Chor formieren und dem mit seinen gesunden, weißen Zähnen an einem weiteren Brathuhn reißenden, schmatzenden Dickwanst ihr Leid zu klagen beginnen.

Sie schildern unter anderem einen grausigen Traum, in dem Tote mit schrecklichen Wunden wiederauferstehen und wilde Musik spielen. Oder sich zusammenrotten, so wie sie, die Erzählenden, selbst, und "donnernde, drohende, dumpfe Sprechchöre" von sich geben. Drohend klingt das alles nicht, aber dumpf wohl, und hilf- und ratlos. So dass der Oberst, der eine Weile verblüfften Blicks zugehört hat oder auch nur abgewartet, selbst donnern muss: "Was wollt ihr eigentlich von mir?"

Unter Leisetretern

Ja, stimmt eigentlich. Was wollen die eigentlich. Oder der, Wolfgang Borcherts Kriegsheimkehrer Beckmann, der bei Regisseur Volker Lösch in dieser Szene als Chor auftritt, was macht der eigentlich diese vielen Worte. Was lässt er sich eigentlich zu Anfang des Stücks von der Elbe, in die er sich in Selbstmordabsicht hat fallen lassen, wieder ans Ufer transportieren und nimmt seinen Lebensfaden noch mal auf. Bei Volker Lösch wird Beckmann (Sebastian Nakajew) noch zusätzlich vereinsamt, indem ihm manche von Borcherts Figuren als Masse, also als Chor begegnen. Er steht verzweifelt schwitzend zwischen ihnen herum, gliedert sich auch mal ein, spricht mit und fällt dann doch immer wieder heraus, macht sich wieder alleine auf den Weg auf dem überdimensionalen Frottierhandtuch in Deutschlandfarben, das die gesamte Bühnenfläche bedeckt. Kein Wunder, dass Beckmann hier nur Leisetretern über den Weg läuft.

draussenvorder3 h280 heiko schaefer uAuf deutschem Frottiertuch  © Heiko Schäfer

Er könnte sich, selbst wenn er wollen könnte und wollte, nicht mit ihnen gemein machen, denn er hat den Anschluss verloren an den Mainstream der Verdrängung, der bei Borchert diskret im Hintergrund rauscht.

Mainstream der Verdrängung

Lösch hat ihn verstärkt, ihm eine eigene Diskursebene gewidmet, indem er Beckmanns Niedergang mit Texten aus "Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben" von Sönke Neitzel und Harald Welzer durchsetzt hat. Diese Protokolle dokumentieren abgehörte Gespräche zwischen deutschen Kriegsgefangenen des 2. Weltkriegs in von Briten und Amerikanern eingerichteten Lagern.

Inszeniert sind die Einwürfe von Lösch als plakative Illustration der Banalität des Bösen: So feilt einer der Schauspieler sich die Nägel, während er berichtet, wie so eine Massenexekution funktioniert. Ein anderer poliert seine Stiefel und geilt sich an der Erinnerung an ein "prächtiges Judenweib" auf. Schade, dass sie den Erschießungen zum Opfer fiel, aber, auch nicht zu verachten, die Mordaktion hat ihm die doppelte Ration Verpflegung beschert.

Matt

All das kommt merkwürdig matt daher. Es ist wenig Bewegung auf dem Bühnenhandtuch, meistens wird arrangiert herumgestanden. Von Theaterzauber keine Spur. Dem spricht ja aber auch Wolfgang Borchert, liest man ihn sehr wörtlich, sein Vertrauen ab, indem er ihn als individuelle Verdrängungsdroge eines unsympathischen Kabarettdirektors vorkommen lässt. "Das schillert nicht genug", sagt der zu Beckmann, der sich auf Anregung des hühnerfressenden Oberst als Schausteller bei ihm beworben hat und dem beim Vorsingen aber natürlich nur ein Lied der Hoffnungslosigkeit über die Lippen kam.

Widerspruch

Und die Aneinanderreihung von Verpuffungen, die dieser Theaterabend bis dahin gewesen ist und auch weiter, fast bis zum Ende sein wird, wird einem sehr sympathisch in ihrer Uneitelkeit. Volker Lösch führt vor, wie das ganze Theater nichts bringt. Nach 90 Minuten Borchert/Protokoll-Melange ist das Publikum ausgenüchtert. Das könnte es gewesen sein, gar nicht schlecht, doch halt: wir sitzen immer noch drinnen im Warmen. Draußen kommt nun herein zu uns. In Gestalt eines echten Veteranen, der sich zunächst von der Geschichte, die hier gerade gelaufen ist, abgrenzt – mit der Wehrmacht und den Nazis und auch Beckmann habe er nichts zu tun – und dann zu einem kurzen, konzentrierten, berührenden Appell anhebt, ihn und seinesgleichen nicht auszugrenzen, das Gespräch mit den traumatisierten Kriegsheimkehrern zu suchen, sozusagen: Borchert nicht nachzuspielen.

Einerseits vertraut Lösch uns, den Zuschauern, offenbar so sehr, dass er anderthalb Stunden Theaterzeit, ja, verschwendet hat, um einer Realität, die uns alle angeht, die Bühne zu bereiten und uns in die Verantwortung zu ziehen. Andererseits traut er uns noch nicht mal zu, aus dem Theater alleine nach draußen vor die Tür zu finden. Da ist ein Widerspruch.

 

Draußen vor der Tür
von Wolfgang Borchert, mit Texten aus "Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben" von Sönke Neitzel und Harald Welzer
Textfassung: Volker Lösch, Stefan Schnabel
Regie: Volker Lösch, Chorleitung: Bernd Freytag, Bühne: Carola Reuther, Kostüme: Cary Gayler, Dramaturgie: Stefan Schnabel, Maja Zade, Licht: Erich Schneider, Sounddesign: Stefan Pinkernell.
Mit: Johanna Geißler, Moritz Gottwald, Ulrich Hoppe, Sebastian Nakajew, Felix Römer, David Ruland, Leoni Schulz und Andreas Timmermann-Levanas.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de

 

Eine andere Version von Wolfgang Borcherts berühmtem Nachkriegsdrama inszenierte David Bösch 2012 am Bochumer Schauspielhaus. Luk Perceval setzte 2011 am Thalia Theater Hamburg 2011 Draußen vor der Tür als Popkonzert in Szene.

Kritikenrundschau

"Ist das gutes Theater? Nein." – schreibt Andreas Schäfer im Berliner Tagesspiegel (27.1.2013). Dennoch empfiehlt er "unbedingt" den Besuch dieser Inszenierung. Zwar sei es wie immer bei Lösch: "Wirkenwollen durch Chor und den inszenatorischen Holzhammer". Aber es sei diesmal  auch anders: "Denn erstens stehen dieses Mal keine Echt-Menschen, sondern Schauspieler auf der Bühne, und zweitens sind ihre Geschichten so unerhört und beklemmend, dass man die derbe Vermittlung über weite Strecken ausblendet". Lösch habe Gespräche deutscher Soldaten aus dem Buch aufgenommen, "die davon erzählen, wovon Beckmann schweigt: Was im Krieg passiert ist." Das Unerhörte ist für den Kritiker "der nonchalante Ton" mit dem über die verübten Kriegsgreuel wie "auf einer Party am Küchenbuffet" gesprochen wird. "Dass die Schauspieler bei Lösch dabei effekthascherisch die Stiefel putzen oder wie in der Jugendherberge unter der Decke liegen", kann der Wirkung aus Schäfers Sicht nichts anhaben.

"Das Gewissen plagt Beckmann wegen elf Kameraden, für deren Tod er sich verantwortlich fühlt. Was er ansonsten so erlebt hat im Krieg, bleibt in der Schwebe" schreibt Ulrich Siedler in der Frankfurter Rundschau/Berliner Zeitung (28.1.2013). Diese Leerstelle werde in der Inszenierung des gesellschaftskritischen Theaterklempners und Laienchorleiters Volker Lösch gefüllt, indem Lösch Protokolle der Gespräche deutscher Kriegsgefangener in den Borchert-Text hineinmontiert. Der Zuschauer werde einer Doppelperspektive auf die Geschichte ausgesetzt, "zu der vielleicht die eigene Familiengeschichte gehört, also er selber": eine Integrationsaufgabe, die seelische Wunden aufreiße und den Preis ahnbar mache, den es kostet, Soldaten in welchen Krieg auch immer zu schicken. "Aber dann dieses Lösch-Theater! Man kommt kaum zur inhaltlichen Teilnahme, weil man von der operettenhaften, pathetischen, plakativen Brachial-Ästhetik immer wieder abgestoßen wird."

Wolfgang Borcherts Kriegsheimkehrerdrama mit Dokumentarmaterial zu collagieren, ist eine gute Idee, findet auch Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (28.1.2013). "Lösch weiß den Kontrast zwischen den zwei Textebenen aber leider nicht zu nutzen." Wichtiger als die "kraftlose 90-Minuten-Inszenierung" sei ihr Epilog. Allerdings frage man sich, "ob die Schaubühnen-Dramaturgie von allen guten Geistern verlassen ist, wenn sie die Verbrechen der Wehrmacht und die Auslandseinsätze der Bundeswehr so umstands- wie gedankenlos parallelisiert."

"Die andauernde Flut grausamer Erinnerungen, die Beckmann umtreibt, wird in dieser Aufführung durch akustische Verzerrungen und Verfremdungen verstärkt, die schließlich dessen Welt komplett erfüllen", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.1.2013). Doch den bisherigen Status als gequältes Individuum verliere er hier als freudiger wie austauschbarer Bestandteil eines mörderischen, grau uniformierten Kollektivs. "In kraftvollen, beklemmend dichten Szenen denkt diese Masse Mensch, oft im Chor sprechend, brüllend, flüsternd, nicht ohne Stolz an ihre Greueltaten zurück." In seiner locker am Stück orientierten Inszenierung gelängen Volker Lösch überzeugende Bilder für Beckmanns chronische Albträume. "So komplex und bedrückend die Thematik, so leicht und fast beschwingt setzt sie Volker Lösch um." Es sei diese kunstvoll trügerische Unbeschwertheit, die der Aufführung ihre Wirkung verleihe. Die "agitatorische Wendung" am Ende verlängere die Inszenierung unerwartet dramatisch ins Heute und werfe, "gewollt oder ungewollt", erneut Fragen auf: "Und was verschweigt jetzt dieser Soldat auf der Bühne? Denn mit sauberen Händen ist kein Krieg zu machen."      

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