Monotonie und Witz

von Petra Hallmayer

München, 4. April 2013. Dass diese Premiere nicht ausfiel, ist Johan Simons zu verdanken. Nachdem Karin Henkel erkrankte, übernahm der Kammerspiel-Intendant die Regie und vollendete ihre Inszenierung von Anton Tschechows "Onkel Wanja". Das verdient großen Respekt, erschwert allerdings die kritische Auseinandersetzung mit diesem Abend. Wie stark Simons ihn geprägt hat, lässt sich nur mutmaßen.

onkelwanja1 560 julian roeder uWie farbige Scherenschnitte: Maximilian Simonischek, Stephan Bissmeier, Anna Drexler, Stefan Merki, Benny Claessens und Wiebke Puls © Julian Roeder

Die Schauspieler stecken in einem kleinen in eine schwarze Wand eingelassenen Guckkasten, der ihre Bewegungsfreiheit beschränkt. So wie die Enge, in der die Figuren gefangen sind, schon im Bühnenbild verdeutlicht wird, sind die Rollen kinderbuchhaft klar verteilt. Die vergebens um die Liebe des Arztes Astrow bettelnde Sonja ist ein bebrilltes Mauerblümchen im Sackkleid. Der Trinker Astrow ist ein verlotterter Loser mit speckigem Haar und einem schäbigen verknitterten Sakko. Nur eine leuchtet als Fixstern inmitten der farblosen Gestalten. Wie aus einem alten Hollywood-Film entsprungen tastet sich die blondgelockte Jelena im roten Ballkleid an die Wand geschmiegt in die ihr fremde Welt hinein.

Betäubung im Hamsterrad

In seinen 1899 uraufgeführten "Szenen aus dem Landleben" führt der Autor todtrauriger Komödien eine in Erstarrung verfallene Gesellschaft vor. Jahrelang hat der emeritierte Professor Serebrjakow andere für sich arbeiten lassen. In blinder Verehrung haben seine Tochter Sonja und Onkel Wanja für ihn ein Gut verwaltet. Als er mit seiner neuen Frau Jelena dorthin zieht, erkennen sie, dass der Mann, den sie für einen bedeutenden Wissenschaftler hielten, ein egozentrischer Parasit, Hohlschwätzer und jämmerlicher Hypochonder ist. Damit beraubt er sie ihrer Vergangenheit, die plötzlich entwertet und sinnlos geworden ist. Serebrjakows Ankündigung, das Gut zu verkaufen, reißt Wanja aus seinem Phlegma. Er schießt auf den Professor, doch wie alles, so misslingt ihm auch dies.

Tschechows Drama der Resignation und Desillusionierung kreist um unerfüllte Träume und versäumte Möglichkeiten. Unter anderen Umständen, glaubt Wanja, hätte aus ihm ein Schopenhauer oder Dostojewski werden können. Die Arbeit verspricht nicht wie in manchen Tschechow-Stücken Erlösung und Erfüllung, sie dient als Mittel der Betäubung, als Motor des Hamsterrades, in dem sich die Figuren abstrampeln. Sobald sie innehalten, wird ihnen ihre Enttäuschung über ihr glanzloses Leben, ihr Versagen vor dem eigenen Ich-Ideal grausam bewusst.

Keine bittersüßen Momente der Rührung

Henkels und Simons' Inszenierung findet in ihrer formalen Strenge, plakativen Zeichenhaftigkeit und radikalen Reduktion einen überzeugenden Zugriff auf den Text und veranschaulicht die Monotonie, Langeweile und Leere eines Lebens im Stillstand mitunter fast quälend. Die Schauspieler stehen wie Figurinen aufgereiht nebeneinander, sitzen zusammengesunken am Rand des dunklen Kastens und sagen immer wieder mit gezielter Eintönigkeit Textpassagen auf. Sie erlauben uns keine bittersüßen Momente der Rührung.

Wiebke Puls als alle becircende, in ihrem Unglück empathielos selbstsüchtige Jelena verhehlt ihre Verachtung für die Provinzler nicht, deren Dummheit sie beständig zum Lachen reizt. Stephan Bissmeier macht Serebrjakow mit kabarettreifen Tänzeleien zu einem lächerlichen, tattrigen Greis, der gern noch einmal jung wäre, Anna Drexler glänzt als dusseliges Lämmchen Sonja mit punktgenauer Komik – zur Freude des unmäßig lachbereiten Kammerspielpublikums.

Schlüssiges Konzept

Henkel und Simons zeigen kein Fest der psychologischen Feinzeichnung, sondern eher ein Typenkabinett. Die Überzeichnung birgt natürlich auch Gefahren. So muss der emotional abgestumpfte Landarzt und Naturschützer Astrow (Maximilian Simonischek) gar zu pennerhaft versoffen herumtorkeln und büßt dadurch seine Brüche und seine verführerische Faszination ein. Der für sein expressives Körpertheater bekannte Benny Claessens als in seiner Perspektivlosigkeit paralysierter Wanja drosselt seine Spielfreude so sehr, dass er schließlich etwas blass und nuancenarm bleibt.

Frei von Schwächen ist der Abend, den Polina Lapkovskaja dekorativ am Bühnenrand mit russischen Liedern begleitet, nicht. Einige Witzeleien, die die beklemmende Tristesse der Aufführung abmilderten, hätte es nicht gebraucht und die unablässig vorüberlaufenden Spruchbänder mit Fragen wie "What are you afraid of?" wirken irgendwann nur mehr aufdringlich. Letztlich aber gelingt dem Regieduo ein auf einem schlüssigen Konzept basierendes, bestechend konzentriertes und dichtes Porträt einer im Lähmung verharrenden Gesellschaft, das die Zuschauer mit stürmischem Applaus feierten.

 

Onkel Wanja
von Anton Tschechow, aus dem Russischen übertragen von Ulrike Zemme
Regie: Karin Henkel /Johan Simons, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüme: Klaus Bruns, Musik: Pollyester, Licht: Stephan Mariani, Dramaturgie: Julia Lochte.
Mit: Stephan Bissmeier, Wiebke Puls, Benny Claessens, Anna Drexler, Hans Kremer, Maximilian Simonischek, Stefan Merki, Polina Lapkovskaja.
Dauer: zwei Stunden, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

"Unterhaltsames Theater, das bei der Premiere am Donnerstag für viel Gelächter sorgte", schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (6.4.2013). "Die Inszenierung arbeitet durch ihre formale Strenge, ihre Reduktion von Spiel und Text sehr überzeugend eben jene Erstarrung heraus, in der die Gesellschaft so hilflos gefangen ist." Mit ihrem plakativen Zugriff auf das Stück konzentrieren sich die Regisseure aus Sicht des Kritikers "vor allem auf dessen Komik: Tschechows Menschen – hier sind sie ein Typenkabinett, Pointenmaterial." Doch dass Tschechows Komik eine verzweifelte sei, "dass bei ihm das Lachen und der Schmerz zusammengehören, dass seine Figuren nicht herausfinden aus der Trostlosigkeit ihres Daseins, dafür fehlt dieser Inszenierung leider oft das Gespür." Nur Wiebke Puls lässt den Kritiker diese Tragik erahnen.

Einen "spannenden Sog" bescheinigt Gabriella Lorenz in der Münchner Abendzeitung (6.4.2013) dem Abend, trotz der Lethargie der Figuren. Sie berichtet vom frenetischen Jubel des Premierenpublikums und von ihrer eigenen Begeisterung über die Akteure.

"Was anderswo leicht ins Triviale, Plakative, Kunstgewerbliche kippen könnte, kippt an den Kammerspielen schon deshalb nicht, weil die Schauspieler einfach so blitzgenau und großartig sind", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (6.4.2013). Doch jeder einelne Spieler sei "in Winzigkeiten berührend groß", allein Bissmeiers Gestik eine Einzelbesprechung wert. Besonders hebt die Kritikerin Anna Drexel in der Rolle der Sonja hervor: "Weiß man dann noch, dass diese junge, das Publikum schon mal zu Szenenapplaus hinreißende Schauspielschülerin erst zwei Wochen vor der Premiere eingesprungen ist (für Katja Bürkle), muss man vor so viel Chuzpe den Hut ziehen.

Sowohl Henkels als auch Simons hätten überaus liebevoll mit den Schauspielern an den Figuren gearbeitet," so Sven Ricklefs in der Sendung "Kultur heute" vom Deutschlandfunk (5.4.2013). Doch das "Grundkonzept und die szenische Setzung durch den genialen Bühnenraum von Muriel Gerstner ist aus der Arbeit von Karin Henkel entstanden und so ist diese Inszenierung sicherlich ihr Kind, dass Johan Simons aus der Taufe gehoben hat und dem das großartige Ensemble nun in den Münchner Kammerspielen einen riesigen Erfolg erspielte."

Der Abend "bewegt sich am Rande der Parodie", schreibt Paul Jandl in der Welt (8.4.2013). Während Tschechows Figuren im Stück "die von sich selbst gelangweilten Karikaturen dessen sind, wofür sie sich einst gehalten haben, sind sie hier die Karikaturen dieser Karikaturen. Das macht die Sache zwar erheblich witziger, nimmt der Not aber auch den Stachel."

Kommentare  
Onkel Wanja, München: eindrucksvoll
Mich hat die Inszenierung sehr angesprochen. Ein eindrucksvoller Abend. Die auf Guckkastengröße verengte Bühne erlaubt den Blick in eine erstarrte Welt, die sich der Langeweile hilflos ausliefert und diesen Zustand beklagt. Die Figuren wirken skurril und entwickeln eine ganz eigene destruktive Dynamik. Man ahnt was da unter der Decke brodelt. Deshalb fand ich die oft erstarrte und karge Szenerie nie und zu keinem Zeitpunkt langweilig. Trotz der Schriftlaufbänder, die dem nichtwissenden Teil des Publikums auch eine gewisse Orientierung zum Stück gaben, wurde für meinen Geschmack viel zu viel gelacht. Den meisten erschloss sich die Grundthematik scheinbar überhaupt nicht. Nichtverstehen wird mit lautem, dümmlichen Lachen kompensiert, das ist mir schon sehr oft aufgefallen. Schade. Ist wohl heute leider ein Ergebnis des auf billige Effekte ausgerichteten Privatfernsehens oder von Comedyserien.
Sehr gut auch Polina Lapkovskaja von Pollyester, die mit ihren russischen Liedern die Szenerie effektvoll bereicherte.
Onkel Wanja, München: Gosch-Kasten?
Das Konzept mit dem Bühnenkasten erinnert doch sehr stark an die Gosch-Inszenierung am DT!
Onkel Wanja, München: Berührung und Lachen
@Darjeeling.
Ich war gestern in der Vorstellung und muss Ihnen zustimmen über die Kurzweiligkeit. Was ich allerdings unbedingt ablehnen muss ist ihre pauschalisierung "dümmliches Lachen kompensiert Nichtverstehen".
Ich musste gestern oft Lachen und habe die Dringlichkeit und Tiefe des Themas sehr wohl begriffen und war sehr berührt. Lachen musste ich über menschliche Züge und Fehler die der Mensch nun aufweist. Jeder Mensch besitzt eine andere Kanalisation von Emotionen. Daher auf Dummheit zu schliessen finde ich äusserst falsch und unpassend.

Viele Grüsse
Onkel Wanja, München: wollte nicht pauschalisieren
@Wodka:
Sorry, da gebe ich Ihnen natürlich recht. Ich will da nicht pauschalisieren, aber die Kommentare derer, die in meiner Nähe lachten, untermauern doch eher meine Wahrnehmung. Mein Fehler: mich überhaupt davon beeinflussen zu lassen.
Onkel Wanja, München: oft urkomisch
Treffende Kritik!

Bei dieser Premiere schien mir übermäßig viel hauseigenes Publikum vor Ort - da wurde über Insidergags gelacht und am Ende einer starken, aber nicht brillanten Aufführung zu stürmisch gejubelt. Kann das sein?

Die etwas vielen Lacher gehen aber auch aufs Konto der Regie: ja, es war oft urkomisch, aber der Klamauk wurde auch ausgestellt. Die tragische Geschichte ging darüber unter.

Bei aller Kritik: die - mit Ausnahmen - genialen Schauspieler und der konsequente Zugriff machen diesen Tschechow sehr sehenswert.
Onkel Wanja, München: klare Defizite
Liebe Nachtkritik,
"Überwiegend Begeisterung" bei der Münchener Kritik ist ja wohl eher durch die Rosa Brille gelesen. Frau Lorenz und Frau Hallmayer zeigen wie immer sehr klar die Defizite.
In München gibt es eine große Sehnsucht nach Theater, wie es Barbara Frey oder Karin Beier machen. Diese Frauen wären die Richtigen für die Leitung der Kammerspiele.
Eine Veränderung ist jedenfalls wünschenswert.
Eine städtische Lösung wäre übrigens auch möglich:
Jochen Schölch vom Metropol-Theater wäre Ideal, aber das traut sich leider das Kulturreferat nicht. Man(n) sollte mal Lorenz und Hallmayer
fragen, die haben viel gesehen und kennen die guten Arbeiten in der Stadt.
Onkel Wanja, München: erinnert an Gosch
Das Konzept mit dem Bühnenkasten erinnert doch sehr stark an die Gosch-Inszenierung am DT!
Onkel Wanja, München: Ball flach halten?
Naja, an den Wanja von Barbara Frey kommt dieser Wanja auch beim besten Willen nicht heran...aber der Abend ist nett aber man sollte das Ensemble der Kammerspiele nicht überschätzen..Ball flach halten..
Onkel Wanja, München: mehr Salz
in den münchner kammerspielen ist bei premieren meistens das halbe haus voll mit hauseigenen - man möge mir verzeihen - applausmaschinen. das erklärt auch das viele Lachen. geht man in das gleiche stück nochmal in die, sagen wir, vierte Vorstellung, wird viel weniger und an anderen stellen gelacht. naja, wen wunderts.
die spitze sei erlaubt: hier sitzt also in den premieren meist die 'firma' selbst und beklatscht sich auch selbst. wer würde das nicht machen? schließlich darf man stolz auf sein haus und seine arbeit sein.

ein bißchen viel gemütlichkeit und mirsanmir. das kennt man aber leider mittlerweile auch aus anderen häusern in anderen städten, sei das nun das ein oder andere haus in hamburg, wien oder berlin.....
es gibt aber auch große häuser, da ist das noch anders.

mir ist mittlerweile wohler, wenn danach geklatscht und gebuht, draussen geschimpft und gelacht wird. dann hat das theater was bewirkt. dann wird geredet. das fehlt mir manchmal (...).

ähnlich geht es mir mit rezensionen des ein oder anderen kritikers oder kritikerin in den tageszeitungen:
es kann schon einfältig werden. da werden von manchem alle inszenierungen eines hauses mehr oder weniger durchweg über den grünen klee gelobt, inszenierungen eines anderen hauses durchweg verrissen. da wird nicht mehr über theaterstücke geschrieben, da wird partei ergriffen für ein ganzes theater oder eben gegen eines. das bekommt schnell einen faden beigeschmack und wirkt immer weniger überzeugend, erinnert an den stammtisch, an dem über hsv oder st. pauli, bayern oder 1860, opel oder vw gesprochen wird.

vielen dank übrigens, auf dieser seite, die ich mittlerweile gerne lese, ist mir dieses bisher nicht aufgefallen.

ein letztes:
daß an einer inszenierung nicht immer alles neu ist, ist auch nicht neu - und auch nicht schlimm, auch an anderen häusern kommt das häufig vor.
das ist natürlich auch sehr subjektiv. wenn man ein ähnliches bühnenbild vorher in einen anderen theater zum ersten mal gesehen hat, neigt man natürlich dazu zu sagen: also irgendwie erinnert mich das an......, wenn ich aber wiederum ein ähnliches bühnenbild noch früher an anderer stelle gesehen habe, ist mir natürlich auch das zweite nicht mehr neu gewesen, usf.
ich denke mit 'kenn ich schon aus und von...' sollte man sehr vorsichtig sein. es gibt da immer noch eins davor, das man halt selbst nicht kennt.....

so und mein kommentar zum stück?
theaterlaie fands gut; allein kürzlich versaut durch einen genialen Faust-Marathon am Thaliatheater. Das ist wie nach einem längeren Indienaufenthalt: Da braucht man ein paar Wochen, bis das essen in europa überhaupt wieder nach etwas schmeckt. Sehenswert fand ich es, berauscht hat es nicht, aber das muß auch nicht jedes stück. Trotzdem könnte es mal wieder mehr streit über eine inszenierung an den münchner kammerspielen geben. Mehr Salz. Auf Wiedersehen.
Onkel Wanja, München: der glücklichste Münchner!
Ein wunderbar trauriger und dann auch wieder komischer Abend. Die reine Katharsis! Der Souffleur, der jede Vorstellung miterlebt, muss der glücklichste und heiterste Mensch Münchens sein.
Onkel Wanja, München: Orgie der Resignation, herrlich
Die Suche nach dem verlorenen Glück und dem Sinn des Lebens, sind nun wahrlich keine kontemporären Herausforderungen, die viel überraschendes zu bieten hätten. Sind die Suchenden auch noch gelangweilte Bourgeois, deren Probleme so oberflächlich und weit weg, wie der Schauplatz, ein Landgut irgendwo in Russland, vom ehrlichen Überlebenskampf sind, dann schließt sich der Kreis zur Romankultur Ende des 19. Jahrhunderts.
Die Inszenierung von Anton Tschechows "Onkel Wanja", durch Karin Henkel und Johan Simons, drückt dem exzessiven Selbstmitleid der Probanden jedoch einen solch zynischen, sarkastischen, humorvollen, warmherzigen, leidenschaftlichen und erbarmungslos hoffnungslosen Stempel auf, dass das Ganze zu einer Orgie der lebensmüden, höchst unterhaltenden und zutiefst lächerlichen Herrlichkeit zwischenmenschlicher resignierter Beziehungen wird!
Das Ende bietet keine Zuversicht. Die kleine Bühnebox lässt niemanden entkommen. Die melancholische Begleitung durch die russische, singende E-Bass Spielern am äußersten Rande des Spektakels, bleibt der einzige Hoffnungsschimmer eines selbstmitleidigen Perpetuum mobile.
Wie zuversichtlich ist die Welt, dass sie Euch alle trägt.
Unbedingt ansehen!
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