Paul Pode - Kulturfiliale und das Staatstheater Schwerin machen die Stasi neu spürbar
Schreiben und Schreddern
von Christian Rakow
Schwerin, 30. August 2013. Vorab für Freunde hoher Zuwachsraten: Fünfmal mehr Zuschauer als noch in der Vorgängerarbeit T.R.I.P. aus dem April gibt es heute zu vermelden. Macht: ganze fünf! Und die Auslastung liegt wieder bei 100 Prozent. Denn mehr als diese Handvoll Besucher sind pro Aufführung auch nicht vorgesehen bei "Paul Pode", der neuen Audio-Tour durch Schwerin, mit der die Ultraexklusivtheatermacher der "Kulturfiliale" und das Mecklenburgische Staatstheater ihre Doppelpass-geförderte Zusammenarbeit "Spielstätte Stadt" fortsetzen.
Die Stunde der Lauschangreifer
Diese Exklusivität hat Methode. Schon bei ihrem Single-Player-Event "T.R.I.P." zelebrierten Kulturfiliale die individuelle Wahrnehmung jener Detailereignisse und Kleinstinszenierungen, mit denen die Akteure eine geheimnisvolle fiktive Paargeschichte live in den städtischen Alltag einfügten. Und der umspielte Solo-Zuschauer konnte dabei für sich testen, wie weit er als "Lauschangreifer" in die intime Geschichte eindringen mochte. In "Paul Pode", das man als Gruppe weit weniger interaktiv, vielmehr recht streng per Funkkopfhörer gesteuert erlebt, begegnet man wieder einem Überwachungsszenario. Dieses Mal als Motiv der Erzählung selbst.
Paul Pode, ein zu DDR-Zeiten mit Kultur-Orden dekorierter fiktiver Schweriner Schriftsteller, ist tot. Die letzten Jahre nach der Wende verbrachte er in Einsamkeit, schrieb an dem Roman seines Lebens und zerstörte sogleich jedes neu verfasste Kapitel. Schreiben und Schreddern in trostloser Manie – das Ende eines Künstlerschicksals. Und das Ende eines Mannes, der sich einst zu Karrierezwecken mit der Staatssicherheit eingelassen hatte. Wenn die Netzrecherchen nicht trügen, haben sich Kulturfiliale für ihre Fiktion an der Biographie des Pasewalker Autoren Peter Tille orientiert.
IM Peter hört mit
Auf der Audio-Tour erhält man episodenhaft Einblicke in Podes ungeschriebenen Roman. Ein VW-Van fährt die Zuschauergruppe zu einem Bootshaus am Schweriner See, wo man den Schriftsteller beim Bier mit seinem Freund Siegfried belauscht. Siegfried ist soeben aus der NVA ausgeschieden, liest Rolf-Dieter Brinkmann und wird, wie man bald erfährt, im Operativen Vorgang "Journalist" observiert. Pode, so zeigt sich an der nächsten Station, einer leeren Berufsschule, hat sich von der Stasi als "IM Peter" anwerben lassen.
In Zeitsprüngen, gleichsam wie in Snapshots, werden Podes Verwicklungen skizziert, teilweise live in kurzen Spielszenen an diversen Orten vorgestellt, teilweise via Hörspiel auf den Transferfahrten eingespeist. Man lauscht Podes Dichtungen, Kultsongs der Puhdys ("Wenn ein Mensch lebt"), Politkost ("Die Partei hat immer Recht") und DDR-Archivmaterialien wie dem Auftritt des Schweriner Oberbürgermeisters im Krankenhaus anlässlich der Geburt des 100.000. "Bürgers" Manuela, durch die Schwerin einst zur Großstadt wurde.
Atmosphären, die die Stasi neu spürbar machen
Kulturfiliale sind keine analysierenden oder einlässlich psychologisierenden Erzähler; sie schnipseln und collagieren. Der Mechanismus des Überwachungsapparats interessiert sie weniger – Anklänge des Stücktitels an den mythischen Chef der Roten Khmer, Pol Pot, bleiben assoziatives Beiwerk. Um das Überwachungsthema zu fokussieren, genügt es ihnen, die Zuschauer an die Seite von Akteuren in schwarzen Overalls zu setzen, die mit Richtantennen Gespräche von Paul Pode belauschen. Dann wieder verändern sie die Perspektive, indem sie die Fenster des VW-Vans abdunkeln, um bei den Zuschauern diskret ein Gefühl von Ohnmacht zu evozieren. Es geht um Atmosphären, die das Gemeinwissen um die Staatssicherheit neu spürbar machen, es geht um abseitige Stadträume wie eine verfallene Fabrikhalle oder eine verlassene Schule, die Resonanz erzeugen für eine Geschichte, die – wie eine Lektorin Podes im Audiotake einmal selbst sagt – durchaus kolportagehafte Züge besitzt und einer linearen Darbietungsform zwischen zwei Buchdeckeln oder auf einer Theaterbühne womöglich kaum standhalten würde.
Kulturfiliale sind Impressionisten. Sie peilen unverbundene, prägnante Einzelmomente an – eben Schredder-Überbleibsel, wie sie Pode in seiner Wohnung (die auch abseits der Audio-Tour quasi als Museumsraum zu besichtigen ist) hinterließ. Entsprechend stark tritt das Lyrische in ihrer Audiospur hervor. Podes späte penible Protokolle über den eigenen Tagesablauf künden vom tiefen Strudel der Depression, vom Exzess manischer Selbstkontrollversuche. Und dort, wo wortreichere Epiker ganze Kapitel zur Psychologisierung eines Wendepunkts im Leben schalten würden, genügen ihnen wenige Verse von Peter Tille: "Am Fenster / ein zages Blau / besonnte Wand / ich spür die Hand nur ungenau // Tapetenriss / der alte Bau / zerfällt gewiss / noch vor uns."
Paul Pode
Eine Audio-Obervation
Konzeption: Franziska Oehme, Ramona Rauchbach, Ralph Reichel, Robert Schmidt, Nils Zapfe.
Realisation: Marie Albrecht, Brit Claudia Dehler, Franziska Oehme, Ramona Rauchbach, Klaus Bieligk, Jan Cziharz, Niklas Kammertöns, Bernhard Meindl, Robert Schmidt, Jens Tramsen, Nils Zapfe.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.theater-schwerin.de
"Das Gänsehaut produzierende Theater geht weiter. Ein Theater jenseits von Guckkastenbühne und Zuschauerraum", hebt Holger Kankel von der Schweriner Volkszeitung (14.9.2013) an. "Paul Pode" sei eine "fantastisch-observative Fortsetzung" des Projektes "Spielstätte Stadt". Der Kritiker wünscht sich, "mit dieser Form von Theater auch in thematisch andere Sphären gelockt zu werden".
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