Auch das ist also der Mensch

von Teresa Präauer

Wien, 20. Oktober 2013. Geboren in den 10er, 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sind sie die "letzten Zeugen" einer Kindheit und Jugend unter dem Regime der Nationalsozialisten. Sie haben die Anfänge miterlebt auf den Straßen Wiens, in den Schulen, sie haben mit ihren Eltern und Großeltern die Wohnungen verlassen müssen, im Versteck leben, sind ins Ghetto gebracht worden, in Zwangsarbeits- und Vernichtungslager.

In Wien also – mit der Ausnahme von Suzanne-Lucienne Rabinovici, die im damals polnischen Wilna gelebt hat – hat dieser Weg für diese Kinder seinen Anfang genommen, und in Wien, am Burgtheater, sitzen sie nun, im Jahr 2013, 75 Jahre nach den Novemberpogromen, als betagte Berichterstatter vor einem vollen Saal an aufmerksamen Zuhörenden. Auf dieser Bühne zusammengebracht haben sie der Historiker und Schriftsteller Doron Rabinovici, dessen Mutter eine der Mitwirkenden ist, und Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann.

Ein Teil unserer Gegenwart

Gesprochen wird, basierend auf den Büchern der Zeitzeugen, eine Textcollage, die deren Erlebnisse und Erfahrungen chronologisch neben- und nacheinander setzt (Dramaturgie: Andreas Erdmann). Was darin erzählt wird, ist traurig, schmerzhaft und brutal, und dabei auch, als die Geschichte eines Menschen, den man sieht und hört: unerhört. Hörenswert als ein Teil unserer Geschichte und als ein Teil unserer Gegenwart: auch das ist der Mensch also. Und daher ist, neben den Schulen und Vortragssälen des Landes, auch das Theater der geeignete Ort dafür.zeugen2 560 reinhard werner uZeitzeugin auf der Leinwand: Vilma Neuwirth © Reinhard Werner

Nun sind die theatralen Mittel, mit denen dies an jenem Abend vonstatten geht, sparsam eingesetzt: Im Hintergrund einer abgedunkelten Bühne sitzen die Zeitzeugen Lucia Heilman, Vilma Neuwirth, Suzanne-Lucienne Rabinovici, Marko Feingold, Rudolf Gelbard und Ari Rath. Als Platzhalter für Ceija Stojka, die im Januar dieses Jahres verstorben ist, steht in dieser Reihe ein leerer Sessel, nur ein geblümtes Tuch soll an die – in Österreich recht bekannte – Angehörige der Lovara-Roma erinnern.

Projektionen und stumme Zeugen

Zwischen dem Publikum und den Zeitzeugen hängen zwei Schichten halbtransparenter Projektionsleinwand, als Layer, die mitunter mit Bildmaterial aus den Büchern der Anwesenden oder aus dem Bestand des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands bespielt werden, teilweise überblendet oder gefolgt von Nahaufnahmen der Gesichter der Zeitzeugen, live und in schwarz-weiß, und Farbaufnahmen von Plätzen des heutigen Wien.

Die Schauspieler sitzen am rechten Bühnenrand, gekleidet in dezentes Dunkelblau oder Hellbeige (Kostüme: Lejla Ganic), sie treten einzeln nach vorne zum Rednerpult und lesen abwechselnd aus den Texten. Während die Zeitzeugen stumm bleiben, leihen ihnen die Schauspieler, gleichsam als Avatare, ihre Stimme. Zwischen den Leinwänden sitzt eine stumme Schreiberin, sie schreibt die Texte, die vorgelesen werden, auf einer langen weißen Papierbahn mit: den einen großen Text, an dem alle schreiben.

Die Schauspieler haben in diesem Setting den Bericht der Zeugen übernommen, haben ihn gelesen und tragen ihn weiter, das Geschriebene wird durch den Sprechakt lebendig. Die dazwischengelegten Schichten der Leinwände schaffen eine vermittelte Distanz zu den Zeitzeugen, die am Ende durchbrochen wird, indem diese vor den weißen Vorhang treten und kurz, aber doch, selbst das Wort ergreifen.

Fragen in den Foyers

Wie beeindruckend ist es, als, nach zwei Stunden Lesung und einer kurzen Pause, in den Foyers des Burgtheaters ebendiese Überlebenden nun tatsächlich selbst sprechen und wach sind, sehr lebhaft und divers. Als das Publikum sich zusammendrängt und Fragen stellt, und als beispielsweise Rudolf Gelbard seinen dunklen Humor durchblitzen lässt und seinen scharfen Verstand. Widerspenstig sind sie da, diese alten Herrschaften, und jung. Gerade der Kontrast zu den Publikumsgesprächen lässt die ästhetischen und inhaltlichen Fragen an den ersten Teil dieses Abends, trotz schlechter Akustik in den Foyers, lauter werden, am meisten betrifft das wohl den Umgang mit Bildern. Zu den Mitteln der Erinnerungs- und Gedächtniskultur arbeiten viele Forschende, hier wieder einmal genannt und empfohlen seien daher Georges Didi-Huberman ("Bilder trotz allem") oder Aleida Assmann.

Aller Respekt und Dank – Standing Ovations vom Publikum – gilt den Zeitzeugen, die einen wertvollen Beweis von Gegenwart liefern. Wie gut, dass der Schauspieler Daniel Sträßer sich ein paar Mal versprochen oder verlesen hat. Man selbst ist im Theatersessel gesessen und hat bald schreien wollen. Und wird sich als aufgeklärter Bürger beim nächsten Besuch eines Oberbekleidungsgeschäftes aus selbigem schnell herauswatschen müssen, hinein in die Wirklichkeit.

 

Die letzten Zeugen
Ein Projekt von Doron Rabinovici und Matthias Hartmann
Einrichtung: Matthias Hartmann, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Lejla Ganic, Licht: Peter Bandl, Video: Moritz Grewenig, Anna Bertsch, Florian Gruber, Markus Lubej, Dramaturgie: Andreas Erdmann.
Mit: Lucia Heilman, Vilma Neuwirth, Suzanne-Lucienne Rabinovici, Marko Feingold, Rudolf Gelbard, Ari Rath sowie Mavie Hörbiger, Dörte Lyssewski, Peter Knaack, Daniel Sträßer. Dauer: 2 Stunden, keine Pause, anschließend moderierte Publikumsgespräche in den Foyers des Burgtheaters

www.burgtheater.at

 

 

Kritikenrundschau

Rabinovici/Hartmann hätten "die Worte der Opfer zu einem zusammenhängenden Text klug verwoben", meint Ronald Pohl vom Standard (22.10.2013), der sich ansonsten fast ausschließlich dem in der Inszenierung Erzählten widmet. Der von Hartmann eingerichtete Abend bleibe "zu jeder Zeit schlank und auf das Notwendigste beschränkt".

Das Lied von Ceija Stojka, das am Ende vom Band komme, habe viele Zuschauer "zu Tränen" gerührt, so Norbert Mayer in der Presse (22.10.2103). Auch die Schauspieler seien "sichtlich mitgenommen" gewesen. Hartmann habe eine "konzentriert und schnörkellos inszenierte Collage" geschaffen, in der die Geschichten eine "ungeheure Intensität" bekämen. Es sei "ein noch viel stärkerer Eindruck" als bei der bloßen Lektüre, "wenn man beim Vortrag (...) das gefasste, konzentrierte Gesicht des Opfers in Großaufnahme sieht".

"Das Burgtheater wäre keine Staatsbühne, wenn dort die Österreicher nicht etwas über sich selbst erfahren würden", schreibt Paul Jandl in der Welt (26.10.2013), nachdem er durchaus beeindruckt den Abend geschildert hat. Der sei "auch eine kathartische Übung, die das Publikum mit angehaltenem Atem über sich ergehen lässt". Schließlich seien die Österreicher, die sich in der NS-Zeit bei der "Endlösung der Judenfrage" so hervorgetan hätten, "Gemütsnazis" gewesen, "denen diese Haltung auch nach 1945 nicht so leicht abzutrainieren war".

Die Schlichtheit dieser Inszenierung lasse die Wucht des Erzählten voll zur Geltung kommen, so Georg Renöckl in der Neuen Zürcher Zeitung (14.11.2013). "Der kindliche Blick auf das heute noch unbegreifliche Geschehen kontrastiere mit dem hohen Alter der Kinder des November 1938." Der intensive, auch für die Schauspieler emotional sichtlich belastende Abend war mit dem lange anhaltenden Stehapplaus für die dann doch noch vor den Vorhang geholten Zeitzeugen nicht zu Ende: Bei den moderierten Publikumsgesprächen im Anschluss an die Lesung herrschte starker Andrang. Hier drehten sich die Fragen vor allem um die Zeit seit 1945 und Österreichs schleppende Anerkennung der eigenen Verantwortung.

Zum Gastspiel beim Theatertreffen schrieb Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (15.5.2014), Stefan Kirschner in der Berliner Morgenpost (15.5.2014).

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