Schiller spielt immer noch mit

von Sascha Westphal

Dortmund, 8. Dezember 2013. Schon seit einiger Zeit führen Theatermacher und Theatergänger, Kritiker und Theoretiker einen lebhaften Diskurs über Theater und Gaming. Gruppen wie machina eX und Invisible Playground greifen ganz direkt aus Computer- und Videospielen bekannte Strukturen und Motive auf und adaptieren sie. Ihre Projekte holen digitale Spiele in die Welt des Theaters und in den städtischen Raum. Damit sind sie zu Vorreitern einer Entwicklung geworden, die immer weitere Kreise zieht. Gaming-Elemente finden sich zum Beispiel auch in den Arbeiten der etablierten Performance-Kollektive Signa und Rimini Protokoll, deren "Situation Rooms" explizit Computerspiel-Konventionen aufgegriffen haben.

Haben diese Arbeiten, die das Publikum direkt ins Geschehen einbeziehen, die es zum Mitspieler machen und so ein basisdemokratisches Element ins Spiel bringen, das nächste Level erreicht, lassen sie das klassische Theater hinter sich? Gibt es in der Kunst überhaupt so etwas wie Level? Muss die Geschichte der Kunst wie des Theaters nicht eher als eine Ausbreitung ins Horizontale verstanden werden? Überlegungen dieser Art haben die vierte next level conference, die am 6. und 7. Dezember im Dortmunder U stattgefunden hat, geprägt.

Das Verhältnis zwischen Theater und Gaming stand an diesen beiden Tagen zwar nicht gerade im Vordergrund der vielfältigen Betrachtungen zu Video- und Computerspielen. Der wurde eher von pädagogischen und wirtschaftlichen Fragen bestimmt. Dennoch war das Theater zumindest implizit die ganze Zeit über präsent. Und das nicht nur, weil in Deutschland keine Diskussion über Spiele, analoge wie digitale, an Friedrich Schiller vorbeikommt.

Das Spiel als Kritik an der Wirklichkeit
"Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Dieses berühmte Diktum Schillers war Dreh- und Angelpunkt von Bazon Brocks gewohnt eigenwilliger und radikaler Keynote "Next Level 1914. Algorithmus als Feuerkraft: Großväter erzählen vom kommenden Krieg". Zu spielen heißt für Brock die alltägliche Wirklichkeit, die den Menschen vor prinzipiell unlösbare Probleme stellt, durch die Eröffnung eines Möglichkeitshorizonts zu erweitern. Dabei geht es gerade nicht darum, das Wirkliche durch eine andere, eine neue Vision zu ersetzen oder mittels einer Ideologie umzuformen. Das Spiel ist vielmehr eine Form von Kritik an der Wirklichkeit, die einfach eine andere Variante des Wirklichen durchexerziert und sich damit zugleich von dieser Möglichkeit befreit.

Für Brock geht es darum, dass wir lernen, "das, was durch Spielentwickler in der Wirklichkeit verhindert und unterlassen wurde, in einem angemessenen Maß zu schätzen, anstatt nur das zu schätzen, was realisiert wurde". Diese Idee würdigt nicht nur die Leistung von Spielentwicklern, die jedem Einzelnen die Chance geben, Phantasien bis in ihre letzte, oft gefährliche Konsequenz in einem abgegrenzten Rahmen auszuleben. Sie führt zugleich direkt ins Theater. Wenn wir etwa Macbeths blutigen Weg zur Macht und seinen Untergang auf der Bühne verfolgen, ist das auch eine Chance, sich von den eigenen Macbeth-Fantasien zu lösen.

Bazon Brock: Vergangenheit = Zukunft
Kein Zuschauer wird versuchen, Macbeth aufzuhalten oder ihn später vor seinen vorrückenden Feinden zu beschützen. Das Spiel bleibt für das Publikum ein Gedankenspiel, das aber durch das reale Geschehen auf der Bühne ganz direkt als alternative Möglichkeit der Wirklichkeit jenseits der Theatermauern erfahrbar wird. Der bewusste Verzicht auf Interaktion ist dabei keineswegs mit Passivität gleichzusetzen, so wie die Möglichkeit der aktiven Beteiligung in theatralen Gaming-Projekten nicht ohne weiteres gleichbedeutend mit Freiheit ist. Schließlich funktionieren diese inszenierten Spiele nur durch einen Rahmen aus Regeln und Vorgaben, auf die das zu Teilnehmern werdende Publikum keinen oder nur sehr geringen Einfluss hat.

Vor diesem Hintergrund gewinnt eine andere zentrale These Bazon Brocks eine besondere Bedeutung für den gegenwärtigen Theaterdiskurs. In Brocks Wahrnehmung der Welt und ihrer Geschichte ist unsere Vergangenheit zugleich auch unsere Zukunft. Für ihn wiederholt sich stets alles. Nur die Gewänder ändern sich entsprechend der Mode und dem Fortschritt der Technik. Doch sie werden durchsichtig, sobald man sich erst einmal von Antagonismen wie "Alt und Neu", "Tradition und Innovation" freigemacht hat.

Nicht die Gedanken und Ideen, die hinter den modernen Videospielen stehen, sind neu, sondern die Techniken, die sie ermöglichen. Aber die werden schon in nächster Zukunft wieder hoffnungslos veraltet sein. Spürt man dagegen den Überlegungen und Fragestellungen nach, die hinter und unter den ständig wechselnden Formen liegen, wird man stets wieder bei Brocks Möglichkeitshorizont landen. Und den eröffnen analoge Gesellschaftsspiele genauso wie digitale Computer Games, traditionelle Stadttheateraufführungen genauso wie partizipative Spiel-Projekte von machina eX und anderen Performern.

Performative Erkundung: "Can I leave now?"
Das eine folgt nicht dem anderen und löst es schon gar nicht ab. Den nächsten Level des Theaters gibt es so nicht, dafür gibt es aber viele verschiedene Formen nebeneinander. Das betont auch Professor Friedrich Kirschner, der an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch zeitgenössische Puppenspielkunst lehrt und bei der "next level conference" die gemeinsam mit Studierenden erarbeitete Performance "Can I Leave Now?" präsentiert hat: "Was ich mir wünschen würde, wäre eine Wahrnehmung, die nicht einzelne Formen als etwas ganz Neues feiert und sie damit auf ein Podest stellt." Für Kirschner repräsentieren Gaming-Projekte, die er als "Erlebnis- oder mediales Theater" bezeichnet, eine Form unter vielen. Sie aktivieren nur andere Kulturtechniken als traditionelle Aufführungen. Doch beide ermöglichen dem Einzelnen, einmal über spielerische Interaktionen, einmal über ein empathisches oder auch distanziertes Mit-Erleben, sich immer wieder anders innerhalb der Gemeinschaft zu positionieren.

In fünf kurzen, an wechselnden Orten im Raum spielenden Szenen kreisen die Spieler der Performance "Can I leave now?" immer wieder um Fragen nach unserem Verhältnis zu den Medien wie zu unseren Mitmenschen. Jede dieser Szenen könnte zugleich ein Level in einem bizarren Spiel, einem Indie-Game sein, das seine eigenen Bedingungen und Konventionen stets mitthematisiert.

CanILeaveNow2 560 SaschaWestphal uIronische Überhöhung des Interaktivitätsdiktums: Szene aus der Performance "Can I leave now"
© Sascha Westphal

Zunächst reflektiert ein Reisender seine Emotionen während eines Langstreckenflugs und lässt sich dabei immer wieder von dem Film gefangen nehmen, den sich ein Passagier auf seinem Bildschirm ansieht. Und so wie er sich fortwährend ablenken lässt und in seinen Betrachtungen abschweift, so wandert auch die Aufmerksamkeit der Zuschauer ständig hin und her. Mal gilt sie dem Treiben der Performer, mal dem Mobiltelefon in der Hand. Schließlich ist dieses über fünf Level gehende Spiel mit Motiven und Variationen auch ein Game, in das jeder im Publikum mittels seines Smartphones eingreifen kann. Ein für die Performance geschriebenes Programm gibt ihm die Möglichkeit in bestimmten Momenten, die jeweils durch ein akustisches Signal angekündigt werden, mittels Anklicken oder auch Feuern das Geschehen zu beeinflussen. Nur weiß man erstmal gar nicht, warum man gerade in jenem Augenblick auf den Handybildschirm klickt und was man damit nun genau bewirkt.

Folgenarme Klicks
In dem einen Level sind die Auswirkungen offensichtlich. So schaltet sich in der dritten Szene das Publikum, das von dem Programm in zwei Lager geteilt wird, unmittelbar ein. Ein Mann und eine Frau kommen in einer Bar ins Gespräch. Es ist ihre erste Begegnung, doch statt sich einfach zu unterhalten und zu flirten, spielen sie ein Kartenspiel, bei dem jeder den anderen unbedingt übertrumpfen will. Währenddessen können die beiden Lager im Publikum ihrem Spieler durch schnelles wiederholtes Klicken Punkte verschaffen. Wer die meisten dieser Punkte hat, gewinnt die Partie.

Jeder Klick zeigt unmittelbar Wirkung. Aber das verschafft ihm noch keine Bedeutung. Denn der Sieg der einen oder des anderen ändert weder etwas am grundsätzlichen Verhältnis der beiden Kartenspieler noch am Ausgang der Szene. So bekommt in dieser Szene der interaktive Aspekt der Performance eine höchst ironische Dimension. Aber genauso ist es letzten Endes auch in der digitalen Welt. Was bedeutet schon ein "Like" auf Facebook? Vielleicht alles oder doch eher nichts?

So entsteht eine irritierende und extrem unscharfe Wechselbeziehung zwischen dem Spiel und den Aktionen des Publikums, das durch den immer wieder vom Bühnengeschehen zum Handybildschirm gehenden Blick in Einzelne zerrissen wird – und dabei doch eine anonyme (Netz-)Gemeinschaft bildet.

next level conference
6.-7. Dezember 2013 im Dortmunder U

www.next-level.org

Can I Leave Now? (UA)
Regie & Konzeption: Friedrich Kirschner zusammen mit Studierenden der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Bühne: Lena Fay, Technische Assistenz: Stefano Trambusti.
Mit: Casper Bankert, Hannes Kapsch, Janne Kummer, Viviane Podlich, Alina Weber.
Dauer: 55 Minuten, keine Pause


Mehr zum Thema Computerspiele und Theater:

- Im November 2012 hat Christian Rakow sich darüber Gedanken gemacht, wie die neue Medienkunst die Bühnenwirklichkeit verändert – und im November 2013 bei der Zürcher Konferenz rePLAYCE the:City einen Vortrag über das neue Game-Theater und seine politische Relevanz gehalten.

- Lexikoneintrag "Internet und Theater"

 

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Kommentare  
next level conference, Dortmund: auf Kommando brüllen
Die Beschreibung der Performance erinnert mich an allerdümmstes veraltetes Kindertheater, als man meinte, man müsse die Kinder aufforden, auf Kommando mal zur Bühne zu brüllen, und glaubte, man hätte damit eine zeitgemäße Form gefunden, Denken und Phantasie zu mobilisieren.
next level conference, Dortmund: Vermutungsgenerator
@evami: kommentare gewinnen, wenn sie sich auf eine inszenierung beziehen und nicht auf simple weise vermutungen generieren nach der lektüre einer kritik.
next level conference, Dortmund: Kulturtechnik "Spiel"
"Aber genauso ist es letzten Endes auch in der digitalen Welt." Nein, das ist nicht so. Auch haben "Likes" auf Facebook erst einmal wenig mit Gamedesign zu tun. Es sind vielmehr einfache Kommunikationshandlungen, die durchaus Bedeutung für diejenigen haben, die an der jeweiligen Kommunikation teilnehmen. Und um Bedeutung geht auch im Gamedesign.

Gelungene Spiele, egal in welchem Medium, zeichnen sich dadurch aus, den Spielern einen Möglichkeitsraum zu bieten, in dem sie Entscheidungen treffen können, die im Kontext des Spiels Bedeutung besitzen. Wenn das nicht gelingt, und die Spieler blind auf irgendetwas "herumtippen" ohne zu wissen wofür, nennt man das: schlechtes Gamedesign.

Mag sein, dass die besprochene Inszenierung ironisch auf das Vorhandensein misslungener Spiele anspielen wollte; vielleicht wäre es noch fruchtbarer sich produktiv mit gut gemachten Spielen auseinanderzusetzen. Ein ironisches Spiel über den letzten elenden Theaterabend zu produzieren wäre jedenfalls ebenso "low hanging fruit".

Leider führt die fortwährende Weigerung vieler Theatermacher sich ernsthaft mit der Kulturtechnik "Spiel" (diejenige der Spielemacher) auseinanderzusetzen, zu einem Diskurs, der von Theaterseite bisher bräsig, selbstzufrieden und vorwiegend auf Kindergarteniveau daherkommt. Dazu gehört auch der blödsinnige Begriff vom "Interaktivitätsdiktum", ein in Spielen konstatierter „Zwang“ zur Handlung also, der dem durchschnittlichen Fernsehzuschauer, Verzeihung Theatergänger, nicht zuzumuten sein soll.

Die Leute sollen und wollen nach einem langen Arbeitstag abends schließlich in Ruhe gelassen werden. Dann also lieber in weiche Theatersessel investieren, als sich ernsthaft mit neuen Formen zu befassen.
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