Aber die Anbindung ist gut

von Falk Schreiber

Hamburg, 27. Februar 2014. Rauschen. Alle paar Minuten hört man, wie die S-Bahn unter dem St. Pauli Theater hindurchfährt, es rauscht und rattert, man glaubt, dass der Theaterraum leicht vibriert, meist fühlt man sich gestört. Meist. Heute aber passt die Bahn zum Setting von Dennis Kellys "Waisen".

Regisseur und Bühnenbildner Wilfried Minks hat das Paar Helen und Danny in eine nicht ungeschickt geschnittene Souterrain-Wohnung gesetzt: Es ist beengt, aber sie schaffen es, trotz der Enge ein halbwegs stimmungsvolles Candlelight-Dinner zu inszenieren. Sicher, jetzt wo Helen zum zweiten Mal schwanger ist, haben sie zu wenig Platz, außerdem ist die Gegend nicht optimal für Kinder (Danny wurde unlängst auf der Straße zusammengeschlagen), aber: "Die Anbindung ist gut!" Und die S-Bahn rauscht.

Vom Experimentellen zum Well-made Play

Das St. Pauli Theater ist eigentlich ein Ort der leichten Muse, aber regelmäßig inszenieren hier auch Legenden des Regietheaters härteren Stoff: Peter Zadek zeigte zu Lebzeiten immer wieder Arbeiten in dem kleinen Theater an der Reeperbahn, und auch Zadeks Weggefährte Wilfried Minks hat hier schon inszeniert, zuletzt vor zwei Jahren einen Tod eines Handlungsreisenden, der in seinem Schielen auf ein traditionalistisch tickendes Publikum irritierte. Dennis Kellys Kammerspiel "Waisen" ist im Vergleich eine dankbarere Vorlage: Das Stück ist noch nicht soweit kanonisiert, dass man unbedingt eine vor Originalität sprühende Interpretation erwarten würde, zudem markiert es Kellys Übergang von eher experimentellen Texten hin zu einem Theater, das Elemente von britischem Sozialdrama, Boulevard und Well-made Play so versiert mischt, das die Regie eigentlich vom Blatt spielen lassen könnte. Zwingend ist da einzig eine sensible Schauspielerführung, und dass er die beherrscht, hat der mittlerweile 84-jährige Minks schon mehrfach bewiesen.

waisen1 560 oliverfantitsch. ujpg Johann von Bülow, Judith Rosmair und Uwe Bohm © Oliver Fantitsch

Psychoduell unter wechselnden Voraussetzungen

Zumal er für "Waisen" eine erstklassige Besetzung zur Verfügung hat: Judith Rosmair spielt Helen als Manipulatorin, die keine Sekunde zögert, Sex als Waffe einzusetzen, Johann von Bülow Danny als Duckmäuser, dem die Gelegenheit, seinen Hang zur Gewalttätigkeit auszuleben, mehr oder weniger in den Schoß fällt. Und nicht zuletzt gibt Uwe Bohm Helens Bruder Liam, der blutüberströmt in den romantischen Pärchenabend platzt, aggressiv, intelligent, mit blitzendem Wahnsinn in den Augen. Darstellerisch holpert der Einstieg noch ein wenig, wirkt Kellys Kunstsprache ausgestellt, spätestens in der zweiten Szene hat sich das Trio aber eingespielt, und dann funktioniert der zurückhaltende, weniger auf Effekte als auf Figurenbeziehungen setzende Abend.

Was folgt, ist ein Psychoduell mit wechselnden Koalitionen: Liam behauptet, dem Opfer eines Gewaltverbrechens geholfen zu haben, wahrscheinlich war er aber selbst gewalttätig. Jedenfalls will Danny die Polizei informieren, was Helen verhindert: Liam ist vorbestraft, wen würde die Polizei wohl verdächtigen? Die inhaltliche Härte wird kontrastiert von einem gehetzten, bösen Humor, der immer wieder in den Dialogen durchscheint: "War er bei Bewusstsein?" "Nein." "Er war nicht bei Bewusstsein?" "Nein." "Er war bewusstlos?" "Wenn er nicht bei Bewusstsein war, war er bewusstlos." Wenn solche Sätze schnell genug kommen, dann hat das eine mitreißende Härte, und, ja, sie kommen schnell, auch wenn alle drei Darsteller für die Größe der Bühne im Grunde zu expressiv spielen.

Altmodisch im gentrifizierungsbedrohten St. Pauli

Szenisch ist das Gezeigte denkbar unspektakulär: Minks verlässt sich erstens auf seine Schauspieler und zweitens auf seine raffiniert-naturalistische Bühne, Regie im Sinne einer Deutung findet kaum statt. Wie fein diese Inszenierung gearbeitet ist, zeigt sich hingegen in Details: Wenn Helen ihren kleinen Sohn Shane (Benjamin Schmidt beziehungsweise Mattes Dryssen) im Arm hält und Liam Shane über die Schulter streichen möchte, dann versteift sich die Mutter, lehnt sich einige Zentimeter nach hinten, verhärtet ihre Mimik. Was viel über das Verhältnis der Figuren untereinander aussagt, aber wenig darüber, was Minks eigentlich erzählen will.

Eine Erzählung jedenfalls liegt auf der Straße: die Geschichte eines Viertels, in dem eine aufstiegswillige Familie keine Zukunft mehr für sich sieht. Das Ideal ist "ein guter Job, nette Kumpels, 'ne nette Freundin", ein Ideal, das der Verletzte vor der Tür bedroht, also wird er als Problem entsorgt: Jeder ist sich selbst der nächste, und Blut ist immer noch dicker als Wasser. "Darauf läuft es heutzutage raus" erkennt Danny atemlos: "Wen wir kennen und wen nicht." Das Gewaltopfer kennt niemand, also fühlt auch niemand mit ihm: Dennis Kelly hat mit "Waisen" ein Krimikammerspiel für neoliberale Zeiten geschrieben, sage niemand, dass so etwas im massiv gentrifizierungsbedrohten St. Pauli weit hergeholt sei. Wilfried Minks hat für diese Geschichte eine Theatersprache gefunden, die man leicht als konservativ missverstehen könnte – in Wahrheit ist sie aber nur altmodisch.

 
Waisen
von Dennis Kelly, Deutsch von John Birke
Regie und Bühne: Wilfried Minks, Kostüme: Nini von Selzam.
Mit: Uwe Bohm, Judith Rosmair, Johann von Bülow, Mattes Dyrssen/Benjamin Schmidt.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.st-pauli-theater.de


Kritikenrundschau

"Wilfried Minks und sein Ensemble erzählen das gut gebaute, aber leicht dämonisch überzeichnete Stück in vier Szenen, ohne moralisch zu werden", schreibt Armgard Seegers in der Welt (28.2.2014) wie auch im Hamburger Abendblatt (28.2.2014). Eingehend werden von ihr die Schauspieler gewürdigt: Uwe Bohm, der Liam "etwas Schutzloses, aber auch Verschlagenes" gebe; Judith Rosmair, deren Helen "mal Biest, mal Kuschelkatze, mal launische Zippe, mal eiskalte Opportunistin" sei, und Johann von Bülow, der in Danny "mit authentischer Normalität" den "liebenden Mann ebenso wie den Verzweifelten, den Angestachelten, den Täter, der keiner sein will", zeige.

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