Als ob kein Staat wäre

von Matthias Warstat

Leipzig, 28. Mai 2014. Erstens: Spätestens seit den 1980er Jahren hat sich in der Theaterwissenschaft ein weit gefasster Theaterbegriff durchgesetzt: Als theatral werden höchst diverse Diskurse und Praktiken betrachtet, die auf Denkfiguren des Zeigens oder des Verbergens Bezug nehmen.

Von einem solchen Verständnis des Gegenstandsbereichs ausgehend, gehört es zu den Aufgaben des Faches, die Theatralität des Politischen im Allgemeinen und die theatrale Dimension politischer Bewegungen im Besonderen zu analysieren.

Nicht alles ist politisch

In letzter Zeit haben diese Bemühungen neuen Auftrieb erhalten, denn die inszenatorische Komplexität der aktuellen Protestbewegungen liegt offen zutage: Kaum ein Bericht über den Majdan, die Occupy-Bewegung, den Arabischen Frühling oder die Demonstrationen in Athen und Istanbul, in dem nicht auch auf die Inszenierungsformen des Protests eingegangen würde. Die Orchestrierung des Protests in neuen medialen Rahmungen (soziale Netzwerke, Videoplattformen etc.) und Versammlungstypen (Flashmob, Smartmob etc.) wird aufmerksam wahrgenommen. 'Politische Theatralität' markiert ein sich rasch wandelndes Forschungsfeld, das von der Theaterwissenschaft intensiv bearbeitet wird.

Zweitens: Dabei wird das Attribut 'politisch' im Theaterdiskurs bisweilen etwas leichtfertig verwendet. Nur weil Theateraufführungen gesellschaftliche Themen ansprechen oder sich theatrale Handlungen im öffentlichen Raum vollziehen, müssen sie noch lange nicht als 'politisch' eingestuft werden.

Von einem strenger gefassten Verständnis des Politischen ausgehend – etwa im Sinne von Mouffe/Laclau oder im Rekurs auf einen Rancière, der nicht als harmloser Advokat von 'Teilhabe' missverstanden wird – muss man es noch nicht zwangsläufig 'politisch' finden, wenn einzelnen sozialen Gruppen, die von der Gesellschaft sonst weithin ignoriert werden, im Rahmen einer Aufführung zu öffentlicher Sichtbarkeit verholfen wird. Die pauschale Behauptung 'Das Theatrale ist politisch' erscheint problematisch, weil sie dazu verleiten kann, konkreten politischen Wirkungen gar nicht mehr im Einzelnen nachzugehen.

Blockaden, Boykotte, Besetzungen

Drittens: In der Theaterwissenschaft haben sich bestimmte Muster etabliert, wie auf politische Bewegungen Bezug genommen wird: Untersucht wird etwa die performative Hervorbringung von Kollektivkörpern im Rahmen von Straßenprotesten und Versammlungen. Protestkulturen werden als affektive Netzwerke verstanden, deren Entstehen und Vergehen sich als politisch wirksame Kraft deuten lässt. Verschiedene Lesarten von 'Bewegung' (etwa körperliche, emotionale und politische Bewegungen) werden zueinander in Beziehung gesetzt.

Eine nicht unwesentliche Richtung des theaterwissenschaftlichen Diskurses baut politisch auf Momente der Absenz und des Entzugs: Sie vertraut darauf, dass sich in der Verweigerung stabiler Repräsentation, wie sie das postdramatische Theater auszeichnet, auch eine Geste politischer Dissidenz verbirgt.

Viertens: Ein neuer Ansatz könnte darin bestehen, die in den letzten Jahren intensiv betriebenen Forschungen zum Thema 'Theaterfeindlichkeit' verstärkt auf die Geschichte politischer Bewegungen zu beziehen. Angesichts der allgegenwärtigen Theatralität des Protests gerät leicht aus dem Blick, dass es seit dem 19. Jahrhundert einflussreiche Protestformen gibt, die sich als nicht-theatral oder sogar antitheatral kennzeichnen lassen.

Ein Beispiel dafür ist die 'direkte Aktion'. Sie hat ihre Wurzeln im frühmodernen Anarchismus, der sich von marxistischen Denkrichtungen durch die Überzeugung unterschied, dass Veränderungen durch individuelle Akte hervorgebracht werden müssen. Klassische Beispiele für direkte Aktionen sind Blockaden, Sabotagen, Boykotte und Besetzungen.

Sie dienen nicht primär der Artikulation einer Forderung, der Symbolpolitik oder der Propaganda, sondern fungieren als direkte Umsetzung eines konkreten Interesses. Staatliche und soziale Autoritätsstrukturen werden dabei konsequent ignoriert: "Man erbettelt nichts vom Staat. Man widersetzt sich ihm nicht einmal mit großer Geste. Soweit man dazu in der Lage ist, geht man so vor, als existiere der Staat gar nicht."

Das sozialtherapeutische Theater

Die Definition lässt erkennen, dass direkte Aktionen im Bereich der Künste und des Theaters nicht leicht zu haben sind – nicht nur aufgrund der Staatsnähe der institutionellen Strukturen dieser Bereiche. Der Kunst- oder Theaterrahmen trennt das Geschehen von direkter Interessenverfolgung, indem er es, der Tendenz nach, von praktischen Zwecken distanziert.

Fünftens: Interessant erscheint ein Vergleich der direkten Aktion mit Theaterformen, die auf ihre Art besondere 'Direktheit' für sich beanspruchen – etwa in der unmittelbaren Adressierung gesellschaftlicher Probleme. Unter Begriffen wie social theatre, community theatre oder applied theatre gewinnen weltweit Theaterformen an Bedeutung, die einer sozialen, pädagogischen oder therapeutischen Agenda folgen. In ihrer Massierung verändern sie die globale Theaterlandschaft: Dort, wo vorher kommerzielle Theatersysteme dominiert haben, schaffen sie einen beträchtlichen non-profit-Sektor. Wo hingegen – wie in Deutschland – ein kunstaffines Stadt-, Staats- und Festivaltheater vorherrscht, bedeuten die neuen Formen eine Herausforderung für das angestammte Autonomie-Ideal, weil sie von explizit definierten Zwecken ausgehen.

Im weitesten Sinne sind diese als 'sozialtechnisch' bzw. 'sozialtherapeutisch' zu charakterisieren, so dass ihr politischer Gehalt nicht überschätzt werden sollte. Auffallend ist jedoch der Anspruch, mit Theater direkte Veränderungen von größter Konkretion herbeizuführen.


warstat matthias 120 uMatthias Warstat
ist seit 2012 Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Vorher war er Inhaber des Lehrstuhls für Theater- und Medienwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2012 leitet er ein international vergleichendes Forschungsprojekt zu angewandtem Theater (gefördert vom European Research Council), das u.a. social theatre im südlichen Afrika, Mexico, Griechenland und dem Nahen Osten untersucht. Weitere Arbeitsschwerpunkte: Theater und Gesellschaft, Theatralität des Politischen, Theorien des Ästhetischen, Theatergeschichte der Moderne.

 

Diese Thesen sind die Kurzfassung eines Vortrages, den Matthias Warstat im Rahmen der Ringvorlesung Theaterwissenschaft: Aus Tradition Grenzen überschreiten am 28. Mai 2014 an der Universität Leipzig gehalten hat. Die Ringvorlesung findet aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums des Instituts für Theaterwissenschaft Leipzig statt. Dem Institut droht die Schließung.

Das Programm der Ringvorlesung finden Sie hier. In den Leipziger Thesen zur Theaterwissenschaft II befasst sich Christopher Balme mit der globalen Theatergeschichte.

Mehr zu Matthias Warstat: Im September 2011 hat nachtkritik.de sein Buch Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters besprochen.

 

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Kommentare  
Leipziger Thesen I: Leistung eines kunstaffinen Theaters?
Diese kleine Gelehrtenserie lese ich mit großem Interesse und bin neugierig auf die weiteren Folgen. Wenn man seit längerem heraus ist aus den aktuellen, unmittelbaren Wissenschaftsdiskursen ist zudem ein solcher Überblick sehr nützlich. Und dem Leipziger Institut möge es nutzen!

An Herrn Warstat bleibt mir eine Frage. Er schreibt in seinen Thesen: "Wo hingegen – wie in Deutschland – ein kunstaffines Stadt-, Staats- und Festivaltheater vorherrscht, bedeuten die neuen Formen eine Herausforderung für das angestammte Autonomie-Ideal, weil sie von explizit definierten Zwecken ausgehen."

Was kann dieses "kunstaffine Theater" Ihrer Ansicht nach noch leisten? Gerade auch in politischer Hinsicht? - Mit Interesse erwarte ich auch in den nächsten Beiträgen Antworten auf diese Frage, die einige tausend deutschsprachige Theatermenschen (und nicht nur diese) umtreibt. Die Theaterwissenschaft sollte der verbreiteten Ansicht argumentativ entgegentreten, dass dieses "überkommene" Theater von ihr unterschätzt oder gar abgewertet wird.
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