Presseschau vom 25. September 2014 – Die Süddeutsche Zeitung über das Theater Darmstadt, das mit Jana Zöll und Samuel Koch zwei Schauspieler im Rollstuhl engagiert hat

Hyper-sichtbare Körper

Hyper-sichtbare Körper

25. September 2014. Von dieser Spielzeit an hat das Theater Darmstadt zwei Schauspieler im Ensemble, die im Rollstuhl sitzen, Samuel Koch und Jana Zöll. Sie sollen sein wie alle anderen. Kann das funktionieren, fragt sich Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung.

Samuel Koch probt "Madame Bovary". Er spielt einen berühmten Arzt, eine Koryphäe. Keinen Kranken, sondern einen, der Kranke heilt. "Und während er auftritt, ertappt man sich bei dem Gedanken: Geht das überhaupt? Es klingt verrückt. Da will einer, der vom Hals abwärts gelähmt ist, Theater spielen. Eine Figur verkörpern. Bloß: Womit? Mit welchem Körper? Lässt sich eine Figur nur mit dem Gesicht und mit der Stimme erschaffen?"

"Am Staatstheater Darmstadt glaubt man: ja." Samuel Koch und Jana Zöll, seit dieser Spielzeit im Ensemble engagiert, werden große Rollen spielen und kleine. Ihr Äußeres soll mal eine Rolle bei der Besetzung spielen, mal nicht. Das sei neu, zumindest für ein Staats- und Stadttheater. "Wenn doch, dann ist oft die Behinderung das Thema der Inszenierung, wie bei Jérôme Bels gefeierten 'Disabled Theater', das im vergangenen Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen war."

Der neue Intendant Karsten Wiegand, will das anders machen. Es ist ein Versuch. "Was passiert, wenn der Zuschauer immer wieder Schauspieler sieht, die im Rollstuhl sitzen, in verschiedenen Rollen? Gewöhnt er sich daran? Wird es normal?" Künstlerische Kriterien seien entscheidend gewesen. "Wir haben die beiden Schauspieler ausgewählt, weil sie im Vorsprechen unsere Phantasie geweckt haben", sagt er.

Jana Zöll spielt in "Der Kaufmann von Venedig" den Dogen. "Eine kleine Rolle, aber die mächtigste Figur im Stück." Shylock werde von einer Frau gespielt, die Amme von einem Mann, der Salarino ist schwarz, "so what? Könnte man denken". Aber in Darmstadt müsse sich vielleicht so mancher Zuschauer daran gewöhnen. "Auch daran, dass diese Besetzung kein Statement sein muss, weder zu Genderfragen noch zur Integrationsdebatte."

Samuel Koch spiele in "Madame Bovary" verschiedene Rollen, wie die anderen Schauspieler auch. "Und das stellt eine zentrale Frage über das Verhältnis von Rolle und Schauspieler. Soll jede der vier Figuren, die er spielt, im Rollstuhl sitzen? Oder sitzt nur der Schauspieler im Rollstuhl?" Der amerikanische Literaturwissenschaftler Tobin Siebers spreche davon, dass ein behinderter Körper auf der Bühne "hyper-sichtbar" ist, dass er gewissermaßen vor die Rolle tritt.

Fazit des Texts: "Ein Schauspieler kann heute vieles sein. Eines aber hat sich nicht geändert: Besetzungsfragen sind immer noch Fragen der Macht und der Repräsentanz. Geprägt davon, was wir als Norm und was als Abweichung empfinden. (…) Wie viel Versehrtheit auf der Bühne Platz hat, wie viel Realität die Kunst verträgt – das wird sich weiter zeigen."

 

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