Der Gott der Algen

von Sabine Leucht

München, 25. September 2014. Braunalgen sind braun, Grünalgen sind grün. Das ist nicht weiter kompliziert. Dass sie auch in den Ritzen zwischen vergilbten Tapetenbahnen wachsen, ist hingegen neu und liegt vermutlich daran, dass auf der Bühne des Münchner Volkstheaters sehr viel von dem vorhanden ist, was Algen gerne mögen: Wasser – denn Pawel Fjodorowitsch Protassow hat seine chemischen Experimente rund um einen stark frequentierten, aber erst halb ausgepackten Whirlpool angelegt. Und Sonne – weil von der in Maxim Gorkis Stück immer dann die Rede ist, wenn es um jene bessere, erhabenere Art von Menschen geht, zu der das Stückpersonal aus Wissenschaftlern und Künstlern sich zählt.

Philosophieren in Zeiten der Cholera

Als Gorki 1905 "Kinder der Sonne", schrieb, saß er gerade aufgrund von regierungsfeindlichen Aktionen in Haft. Das Stück ist ihm zu einer flotten Abrechnung mit der Intelligenz seines Landes geraten, die nicht nur die Belange der Besitzlosen, sondern auch die Realität selbst aus dem Blick verloren hat. Während ringsum die Cholera ihre Opfer fordert, ergeht man sich im Philosophieren. Die große Liebe verliert man fast an die Arbeitswut oder an den Wahn, unheilbar krank zu sein.

kinder der sonne-7941 560 arno declair uTurbulenzen am neuen Whirlpool: Gusztáv Molnár, Barbara Romaner, Diána Magdolna Kiss, Mara Widmann, Justin Mühlenhardt, Leon Pfannenmüller © Arno Declair

Der junge ungarische Regisseur Csaba Polgár, der seit seinem hinreißenden Gastspiel mit Shakespeares Coriolanus beim Radikal jung-Festival bereits einen durchwachsenen Julius Cäsar mit vielen starken Bildern in München inszeniert hat, besitzt einen Hang zur augenzwinkernden Osteuropa-Folklore. Die Schauspieler, unter ihnen auch diesmal wieder vier ungarische Kollegen, tragen ausgesucht hässliche Synthetik-Klamotten und Blumenmuster; die rotbäckigen Diener und Handwerker sind in bunten Arbeitskitteln und neckischen Latzshorts an der Bühnenrückwand aufgereiht und halten die Hände starr an Hammer und Sichel oder wackeln putzig herum. Immer wieder wird gesummt oder ein Lied angestimmt. Auf Russisch, Ungarisch, Englisch oder Deutsch. Melancholisch, ironisch oder einfach nur zum Spaß.

Taufkerzen und Stolperfalle

Bis zur Pause trägt die Mischung aus berückender Musikalität, schrägen Typen und exquisiter Geschmacklosigkeit den Abend sehr gut. Man ist neugierig, ob die mit einer Stolperfalle á la "Dinner for one", witzig hinzuerfundenen Schweine-Träumen und möglicherweise heilsamen Äpfeln angereicherte Handlung dadurch zu einer neuen Schärfe und Aktualität finden wird. Man rätselt noch, ob die im Tapetenmuster gewandete Amme Antonowna, die in einem fort Taufkerzen und Kruzifixe abstaubt, bei Polgár noch ein besonderes Gewicht erlangen wird, auch wenn Ursula Maria Burkhart die Figur eher plump überzeichnet. Und man freut sich bereits über den ersten Hinweis darauf, dass der stets spitzbübisch-leicht agierende Max Wagner als unglücklich verliebter Tierarzt Techepurnoj doch keine Fehlbesetzung ist. Denn hat er eben noch locker charmiert und ein wenig gekaspert, fällt er im Handumdrehen äußerst glaubhaft in ein tiefes Schwermutsloch.

kinder der sonne-7700 560 arno declair uAnbetung des Chemikers : Mara Widmann als Melanija und Oliver Möller als Protassow
© Arno Declair

Nach der Pause aber verfestigt sich zwar der Eindruck, dass München so einen marthalerischen Abend auf einer Fast-Viebrock-Bühne ganz gut brauchen kann, aber Personenführung und Dramaturgie verlieren an Stringenz. Liebesgeständnisse und Versöhnungen werden recht konventionell ausgewalzt – mit viel Wassergespritze, dick aufgetragenen Emotionen, aber einem sich geschickt davor wegduckenden Oliver Möller als Pawel.

Realität kennengelernt

Allzu viel geschieht ohne rechten Rhythmus gleichzeitig und auch das neue Ende geht nicht wirklich auf: Bei Gorki wüten die kleinen Leute gegen die Herren, die die Cholera nur erfunden haben sollen, um an ihr zu verdienen. Bei Polgár wüten sie mit Grund, weil sie Pawel zuvor angefleht hatten, das Wasser mit Chlordioxyd zu sterilisieren, was dieser seltsame Chemiker ihnen verweigerte. "Ein Massaker" wäre das für den Herrn der Mikroorganismen, der Algen an seinen Wänden zieht und auf Hygiene pfeift – und dafür auch noch von vielen vergöttert wird.

Seine Schwester Lisa, die sich mit der schönen Wendung "früher hatte Pawel auf mich die gleiche Wirkung. Dann war ich draußen und habe die Realität kennengelernt" als einzige Seherin der Bande empfiehlt, folgt hier nicht dem von ihr zurückgewiesenen Tschepurnoj in den Freitod, sondern ruft Gott an und richtet die Waffe auf die Anderen. Die Logik dieser Handlung ist wohl irgendwo in den vielen losen Enden zu finden, die dieser Abend zu verknüpfen versäumt hat. In dem ansehnlichen Symboldschungel aus Schweinen. Fledermäusen, Religion – und Algen.


Kinder der Sonne
von Maxim Gorki
Deutsch von Ulrike Zemme
Regie: Csaba Polgár, Bühne und Kostüme: Lili Izsák, Musik: Tamás Matkó, Künstlerische Mitarbeit und Dramaturgie: Ildikó Gáspár, Licht: Günther E. Weiss, Dramaturgie: Katja Friedrich.
Mit: Oliver Möller, Constanze Wächter, Barbara Romaner, Tobias van Dieken, Max Wagner, Mara Widmann, Leon Pfannenmüller, Gusztáv Molnár, Katalin Szilágyi, Jean-Luc Bubert, Ursula Maria Burkhart, Justin Mühlenhardt, Diána Magdolna Kiss, Tamás Keresztény.
Dauer: 2 Stunden, eine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

 

Kritikenrundschau

"Gerade zu den Liebeswirren finden Regie und Darsteller herrlich schräge Bilder, die sich schlüssig zusammenfügen", befindet Michael Schleicher im Münchner Merkur (27./28.9.2014). Csaba Polgár misstraue Schwarz-Weiß-Malerei und den allzu einfachen Antworten. "Und er scheut das Pathos." Offensichtlich zum Gefallen des Rezensenten.

Vom "Privileg der Nachgeborenen, zu wissen, wie die Geschichte weiterging", mache Polgar schlau Gebrauch, findet Mathias Heijny in der Abendzeitung (27./28.9.2014). Die Reflexionen auf gesellschaftlicher und historischer Ebene würden "rein äußerlich" der Ausstattung überlassen. Polgar erzähle darin einen "hysterischen Liebesreigen in Zeiten der Cholera". Was den zweieinhalb Stunden an Tiefe und Biss fehle, mache die mal mehr, mal weniger schräge Kurzweil wieder wett.

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