Welt von gestern

von Martin Thomas Pesl

St. Pölten, 3. Oktober 2014. In St. Pölten haben sie Halloween einen Monat vorverlegt. Von der Bühne des Landestheaters gaffen tiefschwarze Augenringe aus knochigen Totenköpfen. Je später der Abend, desto toter die Gäste. Wenn der titelgebende "Radetzkymarsch" von Johann Strauss (Vater) nach zweieinhalb Stunden endlich in einer grotesk verzerrten Fassung ertönt und jemand die Ermordung des Thronfolgers ankündigt, ist fast jeder in Zombieland angekommen. "Wir alle leben nicht mehr", hat kurz vorher der Graf Chojnicki zum Baron von Trotta gesagt und damit die verblassende österreichisch-ungarische Monarchie unter Kaiser Franz Joseph gemeint. Aber zu diesem Zeitpunkt haben alle schon verstanden, dass es auch für die Beteiligten der heutigen Eröffnungspremiere gilt.

Die Untotheit eines Systems, das sich längst überlebt hat, ist konzeptueller Ausgangspunkt der Inszenierung von Burgschauspieler Philipp Hauß. Er hat sich am Landestheater Niederösterreich bereits mit einer Nestroypreis-nominierten Inszenierung von "Mamma Medea" bewährt und erzählt jetzt dem allgemeinen Jahresmotto "Stell dir vor, es ist Krieg" folgend eine Geschichte, die aus österreichischer Sicht zum Ersten Weltkrieg hinführt.

Helden und ihre Opfer

Joseph Roths Monarchie-Abgesang "Radetzkymarsch" schildert das Leben des Leutnants Carl Joseph von Trotta und seiner Vorfahren, deren einer dem Kaiser in der Schlacht von Solferino das Leben rettete und zum Helden stilisiert wurde. Die Allgegenwart des Großvaters, des Helden, und die kühle Strenge des Vaters, des musterhaften Beamten, lasten auf Carl Joseph, er findet nie so richtig zu sich, obwohl bzw. weil er zwangsläufig auch die Militärlaufbahn antritt.

radetzkymarsch voigt joers schroder walter van brouwer schratt vierboom gro wiesinger 560 alexipelekanosStramm in Uniformen: "Radetzkymarsch und Die Rebellion" © Alexi Pelekanos

Die zahlreichen Figuren und Handlungsstränge haben in Hauß' Stückfassung alle Platz. Er hat sie sogar so zusammengestutzt, dass ihm noch Zeit bleibt, im Schuss-Gegenschuss-Stil eine zweite Erzählung von Joseph Roth einzustreuen, die ihrerseits vom Weltkrieg wegführt: "Die Rebellion" schildert das Schicksal des Kriegsinvaliden Andreas Pum, der im Krieg ein Bein und später auch noch seine Menschenwürde verliert, bis er erst im Tode lernt aufzubegehren und sich trotzig wünscht, von Gott in die Hölle geschickt zu werden.

Blau-lila Perücken 

Vorne an der Rampe bei unbarmherzig kaltem Licht ist Michael Scherff dieser Pum, hinten mit grusliger Langhaarperücke und aus der Schlinge befreitem Bein der Baron von Trotta, Carl Josephs Vater. Zwischen Naivling und Wertewahrer zieht Scherff mühelos eine scharfe Grenze. Überhaupt sind die Wechsel zwischen den beiden Stoffen stets äußerst klar gekennzeichnet, wodurch aber nur wenig Berührungspunkte entstehen.

radetzkymarsch3 myriamschrder wojovanbrouwe janwalter alexi pelekanos uRoss und Reiter im "Radetzkymarsch": Wojo van Brouwe und Myriam Schröder
© Alexi Pelekanos

Dabei wäre von Philipp Hauß, der als eher intellektueller Schauspieler gilt und auch äußerlich an einen Tschechow'schen Studenten erinnert, ein abstrakter Zugang zu erwarten gewesen, vielleicht ein Verschmelzen der geistigen Essenzen jedes der beiden Romane. Stattdessen kommt durch braves abwechselndes Dahinerzählen nichts im Heute an, während die blau-lila-haarige Witwe des im Duell gefallenen Arztes erörtert, dass dieses Prinzip des Ehrenkodex doch sooo neunzehntes Jahrhundert sei. Warum sie blau-lila Haare hat? Vielleicht weil die zu den pinken Leggings des anderen Leutnants passen? Und weil eben alle kostümiert sind wie nach der Zombie-Apokalypse.

Ungerührte Grabreden

Leblosigkeit zur Devise zu erklären ist freilich auch in Hinblick auf die Schauspielführung ein riskantes Unterfangen. Wenn zu Beginn das Ensemble der Reihe nach die Vorgeschichte, wie der Held von Solferino zu ebendiesem wurde, vorträgt und dann der naturgemäß nicht sprechtrainierte Kinderdarsteller Felix Riegler dran ist, klingt der Vortrag bei ihm auch nicht weniger mitreißend.

Roths Prosa ist traurig, aber pointiert. Der Ton dieses Abends jedoch, den vor allem Wojo van Brouwer als Carl Joseph angibt, ist der einer ungerührten Grabrede auf das Leben mit etwas verordnetem Klagegeschrei, und wenn doch mal Leidenschaft und Energie erlaubt sind, klingen sie nach Pathos auf der Moll- und nach Zickenkrieg auf der Durseite. Letzteres gilt besonders für Myriam Schröders diversen Frauenfiguren, in deren aufgesetzte Grimassen sich Männer sowohl im "Radetzkymarsch" als auch in der "Rebellion" verlieben dürfen. Da wird der Untergang des Abendlandes zur Selbstverständlichkeit.

Radetzkymarsch und Die Rebellion
von Joseph Roth, in einer Fassung von Philipp Hauß
Regie: Philipp Hauß, Bühne: Martin Schepers, Kostüme: Lane Schäfer, Musik: Lukas Kranzelbinder.
Mit: Pascal Groß, Christine Jirku, Aline Joers, Marcel Korbar/Thomas Raab/Felix Riegler, Michael Scherff, Othmar Schratt, Myriam Schröder, Wojo van Brouwer, Moritz Vierboom, Tobias Voigt, Jan Walter, Helmut Wiesinger.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause.

www.landestheater.net

 

Kritikenrundschau

In Die Presse (5.10.2014) schreibt Barbara Petsch, die Aufführung erinnere "in ihrer 1980er-Ästhetik etwas an Claus Peymann", trotz irritierender Momente sei es aber "ein beeindruckender, vor allem schauspielerisch großartiger Abend". "Angesichts der vielen Aufarbeitungen des Kriegs im heurigen Gedenkjahr muss man sagen: Ja, da hat St. Pölten etwas Besonderes gewonnen." Regisseur Hauss sei stilistisch "nicht unbedingt originell", verstehe aber viel von Schauspielerführung und Zeichnung der Figuren "– und er scheint seinen Stoff zu lieben."

"Das Kaiserreich geht unter doch die Welt von gestern, sie war auf dieser Bühne nie spürbar", klagt Barbara Mader im Kurier (4.10.2014). Der Aufführung fehle die "Fallhöhe", auch wenn die Zusammenspannung der beiden Prosatexte Roths "inhaltlich" gut funktioniere.

Hauß schwelgt in einem "Gruselkabinett" und biete groteske, "überzeichnete Figuren" auf, "mehr Symbol als Charakter, mehr Bild eines Zustands als Abbildung einer fiktiven Person", schreibt Oliver A. Lang in der Kronenzeitung (4.10.2014). Es fehlten "die Atmosphäre des Buches und die Vielfalt der Stimmungen"; so bleibe ein "schrilles Panoptikum, Fragmentiertes" übrig.

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