Der Hirnwütige beim Flirt

von Matthias Weigel

Berlin, 3. Oktober 2014. Klatsch, klatsch – klatsch, klatsch. Fleisch auf Fleisch, Gemächt auf Bauch. Klatsch, klatsch. Der nackte Woyzeck hüpft herum und schüttelt wild sein Becken. "Pipi los!" schreit er, es klatscht, aber kein Pipi will kommen.

Eine typische Sebastian-Hartmann-Szene, sie bricht unvermittelt herein, steht voll zu ihrem unreifen Dumme-Jungs-Humor, dauert viel zu lange, aber auch nicht so richtig extrem lange, und trifft damit zielsicher das Prädikat "nervig". Es sind Szenen wie diese, die dem Regisseur Sebastian Hartmann den Ruf des "Bürgerschrecks" einbrachten, der ihn auch während seiner Intendanz in Leipzig (2008–2013) begleitete. Hartmann hat es zur Perfektion entwickelt, zwischendurch mit plumpen Arrangements auf eine Art zu nerven, dass man die Absicht oder die Machart zwar vollständig durchschaut. Sich dadurch aber nicht weniger, sondern umso mehr herausgefordert fühlt.

Der "Natur" nachgegeben

So sehr es auch klatscht, und es klatscht oft, es kommt also kein Pipi raus. Woyzeck hat kurz zuvor schon seiner "Natur" nachgegeben und an eine Hauswand gepisst, wie der Doktor bei der Urinprobe tadelt, und kann jetzt nicht mehr. In Hartmanns Woyzeck-Inszenierung am Deutschen Theater Berlin spielen Benjamin Lillie und Katrin Wichmann nicht nur Woyzeck und Marie, sondern auch Doktor und Hauptmann, und alles in ständig verschwimmendem Wechsel. Der Text ist nicht fest aufgeteilt zwischen beiden Schauspielern, sie erschaffen ihre Fassung jeden Abend neu – und anders, heißt es. Fast die ganzen anderthalb Stunden hängen sie aneinander, spielen sich Sätze zu, wiederholen sich, klauen sich Worte. Sie lassen selten voneinander los, der "hirnwütige" Franz Woyzeck und die untreue Marie, sie schaukeln sich gegenseitig hoch, schlagen sich, küssen sich, liegen auf einander, erstechen sich.

woyzeck 560 arnodeclair hGeschlechterkampf nach Georg Büchner und Heiner Müller: mit Benjamin Lillie
und Katrin Wichmann © Arno Declair

Wichmann und Lillie nehmen Büchners Worte zu Beginn ganz frisch und unbelastet in dem Mund. Hartmann wollte laut Interview den Stoff nicht als Sozialdrama deuten. Man fragt sich unwillkürlich, was dann noch übrig bleibt von Büchners Fragment über den einfachen Soldaten, der, gedemütigt, ausgenutzt, am Boden der Gesellschaft, schließlich seine untreue Freundin, Mutter eines unehelichen Kindes, im See ersticht. Die Opferrolle wird diesem Woyzeck jedenfalls nicht zugestanden, und so klingen seine wirren Aussagen auch mehr nach Flirt, Ironie und Spaß denn nach trübem Starren oder verdruckstem Selbstgespräch.

Tänzerisch im dunklen Bühnenkasten

Ein Woyzeck, der noch ganz bei Sinnen ist. Ein Woyzeck, bei dem es nicht um feine Regungen oder subtile Andeutungen geht, bei dem keine unterdrückten Emotionen durchbrechen. Woyzeck dient hier als Rahmen, als Anordnung, innerhalb derer – so Hartmann – gespielt (und nicht "improvisiert") werden soll. Doch dieses Spielen, was ist das? Es ist zunächst ein sehr körperliches, teils tänzerisches Spielen, für das Sebastian Hartmann selbst einen schwarz-glänzenden Bühnenkasten entworfen hat, der sich nach hinten verengt – ein abstrakter Assoziationsraum, durch den die schwarz-weißen Projektionen von Voxi Bärenklau flimmern und für Bildstörungen sorgen.

Wichmann und Lillie spielen hier kaum konkrete Dramenhandlung, sondern erzeugen Haltungen, Beziehungen, Stimmungen zwischen sich. Und sie geraten schnell von einem Extrem ins andere, von Streit in Zärtlichkeit, von Knutschen in Tödlichkeit. So interessant das gesamte Vorhaben klingt, aber dieses "Spiel" sind am Ende doch nur Fingerübungen, sinnliche Demonstrationen, die zwar schnell oszillieren, aber in keine größere Richtung weisen.

Die Mechanismen des Mordes

Um dieses inhaltliche Vakuum zu füllen, hat Sebastian Hartmann Texte von Heiner Müller eingefügt, die geradeaus ins Publikum gesprochen werden. Sie drehen sich allesamt um Tod, Natur, Einsamkeit. Sie sorgen für den Wahnsinn, an dem Woyzeck nicht leidet. Der Exkurs gipfelt in Heiner Müllers "Bildbeschreibung", die Lillie am Ende vorträgt, ein albtraumhafter, kaum zu beherrschender Gedankengang in einem Endlossatz. Lille, gerade dem finalen und fatalen Wasserbad entstiegen, ringt mit den haarsträubenden Formulierungen, kämpft sichtlich aggressiv gegen das Textmonster, das fehlerfrei aufzusagen unmöglich ist.

Sogar seine untrennbare zweite Hälfte Katrin Wichmann hat ihn nun verlassen, und so steht er ganz allein und ausgeliefert dort oben, und darf sich noch nicht dem Schlussapplaus hingeben. Vielleicht wird in diesem Moment das Prinzip "Woyzeck" am greifbarsten. Hartmann wollte untersuchen, welche Mechanismen Menschen zu Mördern machen. Hoffen wir, dass es bei dieser Versuchsanordnung so weit nicht kommt.


Woyzeck
von Georg Büchner
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Musik: Ch. 'Mäcki' Hamann, Video: Voxi Bärenklau, Dramaturgie: Juliane Koepp.
Mit: Katrin Wichmann und Benjamin Lillie.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de


Mehr über Büchners Dramenfragment auf Berliner Bühnen: für das Berliner Ensemble inszenierte Leander Haußmann den Wozyeck, am Gorki Theater zeigt Mirko Borscht Woyzeck III.

 

Kritikenrundschau

Im Tagesspiegel (4.10.2014) schreibt Christine Wahl: "Obwohl die Schauspieler ihr Bestes tun, hat man letztlich nicht den Eindruck, dass 'Woyzeck' der für Hartmanns Erkenntnisinteresse geeignete Text ist." Zudem schmälere die Reduktion auf die Mann-Frau-Konstellation und das "Sozialdrama ohne Sozialfokus" eher das Sujet. Der Zuschauer brauche "gute Nerven" für die "Tanztheatereinlagen der eher hölzernen Sorte", die "unangenehmen Beziehungsdialogen" oder die "romantischen Umarmungsszenen mit und ohne Kunstbluteinsatz".

Als "kluge Entscheidung" begrüßt Michael Laages für "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (4.10.2014) die Idee der Zwei-Personen-Umsetzung des "Woyzeck". Die Figuren "erzählen einander sozusagen von den Abgründen im eigenen wie im anderen Ich, von den entscheidenden Momenten, an denen sich die Katastrophe der beiden abzeichnet." Die Müller-Texteinschübe "verstärken die Verrätselung wie die Frage nach den verschiedenen Formen von 'Ich', die in diesem Paar stecken." Hartmann gelinge wie Leander Haußmann, dessen BE-Inszenierung des "Woyzeck" der Rezensent zum Vergleich heranzieht, "ein jeweils recht verblüffendes, weithin überzeugendes Abenteuer".

Hartmann suche nicht die Geschichte des "Wozyeck", sondern den "psychischen Subtext", berichtet Peter Hans Göpfert im Kulturradio des rbb (4.10.2014). Der Regisseur entwickle „seine Pathologie der Figuren, ihre kreatürlichen Bedrängungen, die Unausweichlichkeit ihres Fühlens und Handelns nicht aus der Sprache, nicht aus den Äußerungen des Milieus, sondern aus der Körperlichkeit." Es gebe "penetrante Live-Minimal-Musik" und Textanreicherungen durch die "bewährte Allzweck-Quelle" Heiner Müller. So geht der Daumen des Kritikers runter. "Wenn diese Inszenierung etwas deutlich macht, ist es der ungebremste Wille des Regisseurs, Büchners Stück um die Ecke anzugehen und nur ja ganz und gar ungewöhnlich aussehen zu lassen."

In der Berliner Morgenpost (5.10.2014) schriebt Katrin Pauly, Woyzeck und Marie stünden bei Hartmann auch allgemein für: Mann und Frau. Der Regisseur wolle den "existenziellen, obsessiven und zerstörerischen Kampf des Menschen mit dem Menschen zeigen". "Dieser 'Woyzeck' ist skelettiert, findet aber keine Halt gebende Form. Dieser Abend reicht über ein spielwütiges, bisweilen fast verzweifelt wirkendes Über-Strapazieren dieser Idee nicht hinaus."

Als "Textmunition" habe Hartmann das Büchner-Fragment seinen zwei Akteuren mitgegeben, schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (6.10.2014). Mitunter "öffnet das Spiel auch was", dann aber gebe es wieder "Phasen, in denen auf den Nerven und dem guten Willen des Zuschauers herumgetrampelt wird" (wie jene mit dem "exzessiven darstellerischen Einsatz des männlichen Geschlechtsteils"). Auf erhellende Szene folgten solche, die als "klarer Fall von kalauerischer Zweckentfremdung" gelten dürfen. So steht die Sinnhaftigkeit des ganzen Unterfangens für den Kritiker durchaus in Zweifel. Im Übrigen gibt Seidler auch einen kompakten Überblick zu allen jüngeren "Woyzeck"-Umsetzungen auf Berliner Bühnen.

Katrin Bettina Müller kann in der taz (6.10.2014) die schwarze Romantik der Inszenierung ästhetisch "durchaus goutieren". Dafür sorgt ihrer Schilderung zufolge nicht zuletzt auch Hartmanns Bühnenbild. "Auf die mit pastoser schwarzer Farbe bemalten und den Raum verengenden Wände werden tanzende Schatten projiziert oder Gräser und Weiden im Wind. (...) Der visuelle und akustische Raum hält das Bühnengeschehen auch da zusammen, wo die Logik der Figuren ins Schleudern gerät und weitere Texte ins Spiel gebracht werden, etwa aus Büchners Briefen an seine Braut oder von Heiner Müller."

In der Süddeutschen Zeitung (8.10.2014) schreibt Til Briegleb, Hartmann könne es nicht um das Stück "Woyzeck" gehen, da man auch von der Geschichte nichts verstehe. Es sei eher "ein Versuch über bedrohliche Zweisamkeit". "Deswegen geht es um Geschichte allgemein, um das Ringen zweier unterschiedlicher Haltungen, Ideologien, man kann das durchaus politisch sehen." Der Abend sei "eine freie Phantasie", "über Gegensätze, die durch ihre Anziehungskraft Geschichte zeugen".

Es werden alle Register gezogen, "lautes, donnerndes Schauspielertheater nimmt seinen Lauf", so Peter Kümmel in der Zeit (9.10.2014). "Woyzeck und Marie tun einander pantomimisch immerzu weh, fressen einander mimetisch auf, stellen einander nach, zerfetzen sich in einem Streit, der bis zum Letzten geht." Was Hartmann als stille Regie bezeichnee, sei doch eher laute, pompöse Herrschaft über Text und Spieler. Dass Regisseur und Schauspieler auf der Basis der "Vorlage", viel und dauerhaft improvisiert haben, merke man dem Ganzen sehr an.  "Man hat in dieser Aufführung nicht oft den Eindruck, bei etwas Wahrhaftigem dabei zu sein."

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