Ostermeier Backstage - Gerhard Jörders Gesprächsporträt des Regisseurs und Schaubühnenintendanten Thomas Ostermeier
Hilflos der eigenen Perfektion gegenüber
von André Mumot
7. Oktober 2014. Man kann es sich vorstellen, bildlich, wie er sich dann zwischendurch, inmitten der schönsten Aufbrauserei, an den Kopf fasst und ganz fassungslos ausstößt: "Alles, was ich hier sage, klingt ja wahnsinnig reaktionär!" Aber wenn Thomas Ostermeier einmal im Schwung ist, wird eben ausgeteilt – gegen eine Gegenwartsgesellschaft, die "widerspruchsfrei ist und befriedet und larmoyant" und deshalb auch meistens das Theater bekommt, das sie verdient.
Facebook und Discofox
Da muss dann auch, ganz pauschal, das Internet den Kopf hinhalten, das, "wenn es einem die Möglichkeit gibt, sich hinter der Anonymität zu verstecken, ein Drecksladen ist. Ein unzivilisierter Drecksladen." Weil es "wahrscheinlich eher einschläfernd und entsolidarisierend und vereinsamend als bewusstseinsfördernd ist." Die Hoffnung auf Besserung aber gibt Ostermeier nicht auf, sieht die Zeitenwende schon zum Greifen nahe, "weil die digitale Welt die Sehnsucht nach dreidimensionalen Erlebnissen steigert". Smartphone also aus, rein in die Schaubühne und das Twittern auf später verschieben? "Die Entwicklung ist doch schon überdeutlich: Anti-Facebook-Bewegung, Anti-Internet-Bewegung. (...) Facebook ist ein Phänomen wie Discofox, tanzt heute auch keiner mehr."
So grollt und räsoniert Thomas Ostermeier, 150 eher schmale Seiten lang, befragt vom ZEIT-Autor und langjährigem Theatertreffen-Jury-Mitglied Gerhard Jörder im neuen Band der schlanken "Backstage"-Reihe im Theater-der-Zeit-Verlag. Das Ergebnis ist ein größtenteils moderat ablaufendes Interview, das sich en passant durch die persönliche Biographie des Befragten arbeitet, durch die Rebellen-Jugend in der Lüneburger Heide und in Landshut, sich vor allem aber die Etappen der künstlerischen Karriere vornimmt, die ersten Erfolge in der Baracke des Deutschen Theaters und die bis heute andauernde Leitung der Berliner Schaubühne mit ihren Hoch- und Tiefpunkten im In- und Ausland.
Es wird Einschlägiges über Sarah Kane, Ibsen und Shakespeare verlautbart, und dann und wann darf auch mal eine kleine Episode zur Auflockerung dienen: Wie etwa beim Hamlet-Gastspiel in Ramallah die Kalaschnikow geklemmt hat und Lars Eidinger ins Publikum gefragt hat, ob sich jemand mit diesen Dingern auskenne: "Antwort: Alle! Und einer sprang sofort auf die Bühne, unser Bühnenmeister dazu, und dann hat die Waffe wieder funktioniert."
Großer Bruder, kleiner Bruder
Das alles gibt nicht viel her, es ist ein Punkte-Abhaken, erfüllte Chronistenpflicht ohne tiefere Erkundungen. Umso mehr Fahrt nimmt die Sache auf, wenn es darum geht, Ostermeiers Künstlerpersönlichkeit, sein Arbeits-Credo zu definieren. Hier zeigt sich dann der hochfliegende Realpolitiker und sachliche Choleriker, der konservativ und radikal zugleich sein möchte, in einer bärbeißigen Suada der Selbstwidersprüche – irgendwo zwischen demütiger Bescheidenheit ("Weil ich denke, dass die größte Regieleistung wahrscheinlich ohnehin darin liegt, als Regisseur ganz hinter einer Aufführung zu verschwinden") und fröhlichem Größenwahn ("Ich bin irgendwie hilflos meiner eigenen Perfektion gegenüber.") Fest steht jedenfalls, und das kann er nicht oft genug betonen, dass seine Inszenierungen auf den Auslandstourneen quer über den Globus jährlich 80.000 Zuschauer finden und wegen ihrer Gewagtheiten geliebt und bewundert werden, während die deutsche Kritik ihm permanent glattgebügelte Fernsehästhetik unterstellt: "Aber vielleicht könnte einer auch mal wachsende künstlerische Anteile in meiner Arbeit ausmachen!"
Dabei sieht er sich selbst als dringend notweniges Korrektiv im zeitgenössischen Theaterbetrieb, als den kleinen Bruder der Dekonstruktivisten: "Wenn die großen Brüder alles eingerissen haben, muss einer ja die Scherben wieder aufsammeln und zusammensetzen – das mache ich." Ostermeiers Theater will sich abheben von postmodernen, postdramatischen Ironiegeplänkel, sucht seit jeher einen handfesten Gegenpol im gesellschaftskritischen Edel-Realismus: "Unfassbar", sagt er, "dass dieses Spiel mit Ableitungen, mit Medien, mit tausend Formen so überhandgenommen hat, dass das eigentliche Thema, den Menschen zu begreifen, derart in den Hintergrund getreten ist."
Mikrosoziologische Aufklärung
Wer sie gesehen hat, die wirklich großen großbürgerlichen Ostermeier-Aufführungen, seine kalte, gefährliche "Hedda" vielleicht, oder wer sich in den so durchpolierten Abenden wie den "Kleinen Füchsen" neulich doch noch darauf eingelassen hat, die schauspielerischen Zwischentöne des Ensembles auf sich wirken zu lassen, weiß, dass er hier tatsächlich etwas in die Waagschale zu werfen hat, eine Genauigkeit des Menschenblicks, ein beherztes, kluges Ausmerzen hohler Darstellungsklischees. Der Anspruch aber, den er an sich und sein Theater formuliert, ist hoch, will er doch ein "aufklärerisches Theater, das in einer Art Beichtspiel untersucht, wo die eigene Anfälligkeit für Korruption, Lüge Heuchelei und umgekehrt auch die eigenen positiven Eigenschaften liegen, eine mikrosoziologische Aufklärung, die erforscht, was in den Familien und Zweierbeziehungen passiert, ohne dass es einem bewusst wäre."
Das Papier beginnt zu knistern, wenn auch erst auf den letzten dreißig Seiten, auf denen man, dem Furor des Intendanten und Regisseurs sei es gedankt, das Gefühl bekommt, ohne so ein gedankenklares No-Nonsens-Ostermeier-Theater wirklich nicht auskommen zu können. Die Welt will er verändern, sagt er, immer noch, aber eben ausgerechnet mit Geschichten und Dialogen und Schauspielern, die weder unmotiviert rumschreien, noch dumme Witze machen. Kein Reaktionär ist er also, sondern ein Revoluzzer? "Revolutionär ist es heute, wenn man wieder etwas aufbaut – und das", fügt er konziliant hinzu, "kann ja die nächste Generation wieder einreißen."
Gerhard Jörder
Ostermeier – Backstage
Mit einem Vorwort von Gert Voss
Theater der Zeit, 152 Seiten, 18 Euro
Die Buchpremiere findet am am 10. Oktober 2014 um 19:30 Uhr in der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz statt.
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Also das gilt vielleicht für den Kiez um den Lehniner Platz und Flughafen Tegel herum. Und selbst da könnte man vielleicht nochmal genauer hinschauen.
Wie hieß es doch so schön im Naturalismus? Er zeige une tranche de vie. Ostermeier zeigt seine tranche de vie, und er tut das sehr gut. Er erzählt von den Leuten vom Lehniner Platz für die Leute vom Lehniner Platz. Aber so zu tun, als sei das la vie elle même, hätte ich ihm nun doch nicht zugetraut. Hat er die anderen Personenkreise, mit denen er so fulminant anfing, den 3.1 oder Shoppen und Ficken, in der Fixierung auf das bürgerliche Heldenleben so ganz vergessen?
Vielleicht lässt sich das mit Karl Kraus verstehen: Wunderkinder sind immer auch Wunder an Zurückgebliebenheit.
Ostermeiers Kritik am heute häufig nur noch platt-epigonalen Dekonstruktivismus vieler Theatermacher kann ich dagegen nachvollziehen. Was auch mir am aktuellen Theater zunehmend fehlt, sind erzählte Geschichte(n) und Poesie. Was nichts mit "Edel-Realismus" zu tun hat. Und doch erscheint es mir als ein Bruch, dass Ostermeier von seinem privilegierten Standpunkt aus offenbar immer noch verallgemeinernd "die Revolution" fordert. Entsteht der Wunsch nach Freiheit und Gleichheit dagegen nicht immer nur aus konkreten Lebenserfahrungen heraus? Kurz: Man kann sich die Frage nach "der Revolution" möglicherweise schlicht nicht leisten, wenn man mit dem Alltag zu kämpfen und/oder nichts zu essen hat.
Man musste Leonardi da Vinci auch nicht fragen nach dem Warum. Genießt oder lasst es sein.
vor ein paar Jahren gab es einen wunderbaren Edward II. (Marlowe) nur mit Männern. Ich glaube nicht, dass Ostermeier keinen Mut hat. Ich wundere mich nur, dass er, der Weitgereiste, das deutsche Spätbürgertum, für dessen Befindlichkeiten er zweifellos ein immenses Beobachtungs- und Einfühlungstalent hat, für "die Welt" hält. Da liegt vermutlich ein Übertragungsfehler vor.
"Die Erweiterung der Möglichkeiten verkleinert des Raum für ihre Umsetzung." (Wilhem Schmid)
dass sich an der SB hinsichtlich Innen- wie Außenwirkung nur noch wenig bewegen kann; das betrifft meines Erachtens aber auch die VB und das BE usf. Mit der Länge und Größe des Erfolges findet auch stets eine Abschottung und Barrikadierung statt.
Die Laufzeit der Intendantenstellen sollten grundsätzlich auf 10 Jahre beschränkt sein, damit an allen Häüsern frischer Wind weht.
http://pagewizz.com/theater-der-zeit-thomas-ostermeier-rezension-31915/
(Werte Inga,
auf was genau in der Buchkritik oder in dem daran anschließenden Thread gründet Ihre These, dass hier ein "Kampf" zwischen Ostermeier und Hillje ausgetragen würde – außer auf der Zufallstatsache, dass zwei Veranstaltungen an den von diesen beiden jeweils geleiteten Theatern an ein und demselben Abend stattfinden?
Freundliche Grüße,
Anne Peter / Redaktion)
Und das darf ich wohl auch als Mann, stets ohne Lederjacke sagen.