Mehr Demokratie wagen? Mehr Volkswagen!

von Alexander Kohlmann

Hannover, 10. Oktober 2014. Ein Kinderchor. Hannoveraner Jungen und Mädchen, unterschiedlich gekleidet, unkoordiniert und durcheinander – die kleinen Individualisten stehen ausgerechnet in einer Szene zum Schulunterricht als chinesische Schüler an der Rampe und versuchen nachzusprechen, was der Lehrer auf dem Monitor ihnen vorsagt.

Gerade weil Regisseur Stefan Kaegi hier der Versuchung widersteht, lauter kleine, uniform gekleidete Chinesen auf die Bühne zu bringen, wird deutlich wie unterschiedlich chinesische und westliche Welt sind. Und nicht nur das: Im Wirtschaftskrimi "Volksrepublik Volkswagen", führt uns Kaegi in Szenen wie dieser eindrucksvoll vor Augen, das es in unserem Verhältnis zu China um mehr geht als um bloßen Warenaustausch, sondern um einen Wettstreit der Gesellschaften.

volksrepublik volkswagen1 560 katrin ribbe uSystemwechsel? Das VW-Logo ist leicht gegen das Wappen von Chinas KP
austauschbar.  © Katrin Ribbe

Die Experten des Alltags: sie sind diesmal zu Hause geblieben. Kaegis Text liegt (wie von den Rimini-Protokoll Projekten gewohnt) eine umfassende journalistische Recherche zu Grunde. Er hat Interviews mit VW-Mitarbeitern in China geführt und klassische historische Quellenkunde betrieben. Kaegi sichtete Briefe, e-Mails und Blogs – geschrieben in den letzten Jahrzehnten. Eine Geschichte des Engagements des Autokonzerns im Reich der Mitte von den Anfängen bis in die Gegenwart.

Schattenseiten der Effizienz

In einer riesigen, ziemlich detailliert nachgebauten VW-Werkshalle, inklusive Transportband, Maschinen und Büros, erläutern Manager, wie sie einst voller Überheblichkeit ihre Arbeit in China begannen. Lustig machten sich die deutschen Ingenieure anfangs besonders über die chinesischen Autos, die schon bei leichten Aufprallen wie Tomaten zerplatzen. Immer neue Unfallfotos postet einer von ihnen an die Spinde neben dem Bühnenportal. Die smarte Öffentlichkeitsarbeiterin freut sich währenddessen an ihrem Schreibtisch, dass man sich in China als Frau alleine auf die Straße wagen könne – anders als an anderen VW-Standorten überall auf der Welt.

Während das Gros der Manager ziemlich beeindruckt entdeckt, dass man in China so schön effizient arbeiten könne, nur alle 14 Tage haben die Chinesen frei, dämmert einer anderen Führungskraft, dass das Engagement in der Diktatur auch seine Schattenseiten hat. Auf einer Videoleinwand am Rücken der Werkshalle verfolgen wir die riesigen Busse, welche täglich Landarbeiter ohne Rechte ins Werk zur Arbeit fahren. An der Rampe erzählt uns eine Mitarbeiterin, wie sie sich nach der Schicht einmal in einen dieser Menschentransporter schlich: und außerhalb der Stadt in einer Art Ghetto landete. Dort sah sie Tausende von VW-Overalls auf den Balkons hängen, Menschen in Achtbett-Zimmern hausen, die keine Aufenthaltsgenehmigung für die Stadt bekamen. Als die Rechercheurin einen Vorgesetzten auf diese Verhältnisse anspricht, kommt die Antwort des smarten Jung-Managers prompt. Dafür sind Zulieferer verantwortlich, mit denen haben wir nichts zu tun.

Das kann man mit Deutschland nicht vergleichen!

Derselbe VW-Boss richtet den Blick viel lieber auf den Parteitag der kommunistischen Partei: Während das riesige VW-Zeichen von Bühnenarbeitern gegen das Parteiwappen ausgetauscht wird und auf der Leinwand Bilder von jubelnden Parteisoldaten zu sehen sind, überlegt er neidisch: Sind wir bei VW nicht auch eine Art Volksrepublik, mit riesigen Werken, eigenen Schwimmbädern, Millionen Arbeitern und einem Boss, der sagt wo es langgeht? Auf der Leinwand laufen jetzt Bilder von der VW-Hauptversammlung.

volksrepublik volkswagen3 560 katrin ribbe uWo bitte geht's zur Demokratie?   © Katrin Ribbe

Wenn man die Bauten und den politischen und gesellschaftlichen Einfluss des Konzerns in Wolfsburg und der Region Braunschweig-Hannover anguckt – ist das ein nicht ganz uneinleuchtender Vergleich. Nur: Wenn die Wolfsburger VW-Zentrale eine Art Zentralkommitee der Kommunistische Partei sein soll, wo bleiben dann die Bundesrepublik Deutschland und ihr westliches Wertesystem, das Recht auf Streik, Gewerkschaften und Bewegungsfreiheit des Einzelnen, Kaffeepause, Weihnachtsurlaub – und nicht zuletzt die Demokratie?

Komplexe Fragen, die dieser Abend in immer neuen szenischen Konstellationen verhandelt – ohne auf einfache Antworten und ideologische Scheinlösungen zu setzen. Mit seinen Schauspielern gelingt es Kaegi die verschiedenen Positionen in der China-Politik des VW-Konzerns mit rudimentär charakterisierten Figuren zu verknüpfen, etwa der aufstiegswilligen, gut trainierten Führungskraft, die Kritik an China mit dem Hinweis abtut, "ich finde, die müssen ihren eigenen Weg gehen, das kann man mit Deutschland nicht vergleichen". Es bleibt natürlich Spekulation: Aber mit echten Helden des Alltags wäre diese inhaltliche Verdichtung kaum möglich gewesen. Die Skripted-Reality dagegen eröffnet Möglichkeiten, die das rein dokumentarische Ausstellen nicht hat.

 

Volksrepublik Volkswagen
China Bilder Import von Stefan Kaegi (Rimini Protokoll)
Regie: Stefan Kaegi, Bühne und Kostüme: Eva-Maria Bauer, Musik: Tomek Kolczynski, Video: Hanna Linn Wiegel, Choreografie: Miki Shoji, Consulting: Constanza Macras, Dramaturgie: Aljoscha Begrich / Cao Kefei.
Mit: Mathias Max Herrmann, Susana Fernandes Genebra, Julia Schmalbrock, Hagen Oechel, Janko Kahle, Tänzerin: Fang Yun Lo, Live-Musiker: Tomek Kolczynski.

www.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

"Mit bewunderswertem Forscherdrang und unverstellter Neugier" sei Kaegi "nach Art eines Anthropologen losgezogen und hat offenbar eine ganze Menge Volkswagen-Angestellter, Deutsche wie Chinesen, dazu bekommen, ihm aus ihrem Arbeitsleben zu erzählen", schreibt Anke Dürr auf Spiegel online (Zugriff 13.10.2014). Das Problem jedoch sei: "Dutzende Aspekte werden verhandelt, aber ein Fokus fehlt." Zwei Dinge mache Kaegi "anders als sonst mit Rimini Protokoll: Er verzichtet auf einen Rahmen (…) – und er stellt nicht die Befragten selbst, die sogenannten Experten des Alltags auf die Bühne, sondern lässt Schauspieler die Texte performen. Beides ist ein Fehler, der zweite ist der schwerwiegendere: Plötzlich wirken all die authentischen Texte extrem gekünstelt und hohl."

"Die Frage, ob Schauspieler ihre Sache gut oder schlecht machen, stellt sich in solchen Arbeiten eigentlich nicht", meint Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen (13.10.2014) und konzediert zugleich: Sie "machen ihre Sache gut. Sie formen witzige, erkennbare Typen – und jeder scheint auf eine merkwürdige Art verletzt zu sein." Aber "dieses Theater will ja kein Spiel sein und keine Geschichte erzählen. Es will – tja was? Informieren vielleicht. Das tut es." Doch Kaegi versuche auch "mit großer Anstrengung sein Projekt als Theaterprojekt zu behaupten." Jedoch wirke in dieser Produktion, die doch "den den Kern des Theaters überwinden" wolle, "das theatralische Drumherum besonders verlogen."

Ähnliches beobachtet Jörg Worat auf dem Online-Portal der Kreiszeitung (13.10.2014): Von Einlagen ist hier die Rede, die "wenig organisch und eher bemüht" wirkten, "zwiespältig" sei auch "die Einbindung tänzerischer Elemente", bis hin dazu, dass etwa der Auftritt des Kinderchores "doch schnell in etwas unangemessen Putziges" drifte. Das Fazit fällt so eher mager aus: "Der Ansatz dieses Abends ist keineswegs verkehrt, die Umsetzung wirkt allerdings noch nicht ganz ausgereift."

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