Brecht und sein iPad

1. November 2014. Unter der Überschrift "Sein oder online, das ist hier die Frage" rechnet der Schriftsteller Joachim Lottmann in der Welt (31.10.2014) mit Hauptstadtkulturstaatssekretär Tim Renners Vorschlag ab, die Berliner Theater sollten ihre Premieren per Livestream übertragen. Und heute folgt Gerhard Stadelmaier in der FAZ, der die Kamera mit Theatervernichtung gleichsetzt.

Joachim Lottmann geht in der Welt (31.10.2014) dabei zum einen seinen eigenen Theatervorlieben nach (Brecht mit seinem anti-illusionistischen Theaterbegriff finde er "bis heute überschätzt" – "lebte Brecht noch, würde er sich alle Stücke auf dem iPad anschauen"). Zum anderen dekonstruiert er Renners Argument: "Das haben wir auch in der Musikindustrie gesehen: Das Digitale pusht das Live-Erleben!" Dieses Argument, findet Lottmann, tauge nicht, "Gott sei Dank", "aber folgte man ihm dennoch, hieße das doch nur, dass das Niveau zum Teufel ginge – eben wie bei der populären Musik." Es würden mehr Karten für Live-Konzerte verkauft, "das stimmt, aber was sind das für Konzerte? Auftritte von Stars von gestern, von Udo Jürgens bis Robbie Williams." Da würden keine "Inhalte" geboten. "Die Rolling Stones sind schon wieder auf Welttournee und nehmen 100 Millionen Dollar ein, viel mehr als vor der Digitalisierung. Ein schöner 'Mehrwert', aber bestimmt kein kultureller." Jedenfalls, wenn man Kultur als gesellschaftlich wirksame Verarbeitung der Gegenwart verstehe.

Zum Schluss zweifelt Lottmann noch ausdrücklich daran, dass das Angebot vom Publikum überhaupt angenommen würde: "Angenommen, man hätte auf seinem Laptop nur zwei Buttons, der eine Claire Danes in 'Homeland', der andere 'Der Besuch der alten Dame' im Darmstädter Stadttheater. Welchen würde man drücken? Die Antwort erübrigt sich." HBO-Serien würden für den Laptop gemacht, Theaterproduktionen nicht. Wenn dennoch "diese Idee" öffentlich lanciert werde, habe das nur einen Grund. "Es klingt gut. Es klingt vernünftig. Man steht als moderner Macher da beim Angraben weiterer Fördermittel."

Gerhard Stadelmaier rechnet mit Renners Vorschlag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.11.2014) noch drastischer ab. "Der Haupteffekt läge in einer Theaterzerstörung ganz eigener Art. Durch die Kamera." Die Kamera verdamme jeden Zuschauerblick: zur Unfreiheit, und zwar sowohl die Kamera, die auf der Bühne die Szene im Video verschwinden lässt, als auch die Kamera, die eine Aufführung nach draußen übertragen soll. Der Zuschauer am Bildschirm ist nur Objekt, "der Zuschauer im Theater ist ein Subjekt. Er ist Teil der uralten, der schönsten, tollsten und herrlichsten Vereinbarung, die es zwischen Menschen gibt: dass Menschen anderen Menschen etwas vorspielen – das Menschenmögliche beziehungsweise Menschenunmögliche." Eine Kamera störe bei diesem Spiel nur, sie vernichte es. "Der Berliner Kultursenator sollte einmal so viel Kultur aufbringen und ins Theater gehen. Vielleicht kriegt er ja sogar eine Freikarte."

(sd / sik)

Mehr zum Thema Livestreaming:

- Angesichts der Forderung des Berliner Kulturstaatssekretärs Tim Renner an die Berliner Theater, ihre Produktionen zu livestreamen, dachte der Theaterverleger Bernd Schmidt im Oktober 2014 auf nachtkritik.de über das Thema nach.

- Fürs Livestreaming von Theateraufführungen plädierte bereits im April 2014 auch Tina Lorenz, Bloggerin und Kulturpolitikerin für die Piraten in Regensburg.

- Am 22. Oktober 2014 übertrug das Theater Ulm seine Inszenierung "Refugium" per Livestream. nachtkritik.de-Redakteur Georg Kasch hat sich vor den Bildschirm gesetzt und einen Testbericht verfasst.

 

Kommentare  
Presseschau Lottmann: mehr als zwei
Das Gute ist: Ich hab auf meinem Laptop mehr als zwei Buttons!
Presseschau Livestreaming: andere Buttons
Sagen wir mal so: Hätte ich zwei Buttons auf meinem Laptop, und der eine wäre "Game of Thrones", der andere Polleschs "Mädchen in Uniform", ich wüsste, welchen ich drücken würde. Vielleicht drückt Herr Lottmann ja den anderen … Die Antwort jedenfalls erübrigt sich nicht. Meine ich.
Presseschau Livestreaming: gewohnt kenntnisfrei
Sinnfreier Artikel, krude Argumentation und wie vom Autor gewohnt kenntnisfrei. Es soll auch andere Theater als Darmstadt geben (das übrigens kein Stadt-, sondern ein Staatstheater ist), wo bisweilen Inszenierungen zu sehen sind, die keinen Vergleich auch zu ausländischen Fernsehserien zu scheuen brauchen - wenn man denn die Empathie aufbringt, sich darauf einzulassen. Wundert mich, dass es immer noch Zeitungen gibt, die Lottmanns inhaltsloses (aber Inhalte einforderndes) Geschwurbel für originell halten. Für mich ist er nicht mehr ernstzunehmen, seitdem er im Frühjahr in der FAS hinsichtlich der Burgtheater-Turbulenzen schrieb, es sei ein "strategischer Großfehler" Hartmanns gewesen, Stantejsky zu entlassen. Jene Dame, die jetzt die Staatsanwaltschaft der Untreue, Bilanzfälschung und Abgabenhinterziehung verdächtigt und deshalb Ermittlungen gegen sie begonnen hat. Was ja damals bereits abzusehen war, weil die Fakten schon bekannt waren. Verlotterter Kulturjournalismus.
Presseschau Livestreaming: Nur Geschmack
Stadelmaier und Lottmann fehlt es leider an Argumenten. Stadelmaiers kindisches Subjekt- Objekt-Gelaber ist schier haarsträubend. Es verdeckt bloß dilettantisch, dass der Mann nur über seinen Geschmack schreiben kann. Sind denn keine Beiträge erschienen, die das Thema ernsthaft angehen?
Presseschau Livestreaming: Man kommt nicht daran vorbei
Jeder Mensch, der sich ernsthaft und analytisch mit Theater beschäftigt, kommt an Videoaufzeichnungen nicht vorbei. Im Studium, in der professionellen Auseinandersetzung mit Theater, etc. Niemand würde behaupten, dass eine Videoaufzeichnung das unmittelbare Erleben ersetzen kann, dennoch kann ein erfahrener Theaterzuschauer ein Gefühl für die Inszenierung entwickeln, das Konzept verstehen, etc. Halten Stadelmeier und Lottmann ein breiteres Publikum tatsächlich für zu beschränkt, um sich Videoaufnahmen mit Gewinn anzusehen? Natürlich kann es nicht darum gehen, den Theaterbesuch durch Livestreaming vor dem Fernseher zu ersetzen, es geht um eine Ergänzung - wie sinnvoll diese ist, das sollte man zumindest erproben.
Presseschau Livestreaming: live besser als Streaming
Leute, Leute, was für eine beschränkte Diskussion! Wir in China lieben unser Smartphone noch mehr als als ihr Western People, aber wir gehen gerne und immer mehr ins Theater! Eben weil es nicht digital ist, sondern weil du als der Zuschauer direkten Einfluss auf das Geschehen auf der Bühne hast! Dieser Berliner Kultursekretär ist wirklich eine arme Person, der muss mal ins Theatre gehen und die Ohren aufmachen und sein Herz und dann braucht er keine live streamings mehr, weil live ist besser als Streaming.
Presseschau Livestreaming: Abschaltmöglichkeit
Das ist eine prima Idee, dieses Live-streaming, eigentlich noch viel besser als twittern im Theater: Man braucht sich nicht mehr mühsam durch die Stadt zu quälen und in enge Sessel zu pferchen, man sitzt einfach bequem zu Hause und kann ja eben mal reingucken, was da so los ist. Und das Allerbeste: Man kann nach zehn Minuten abschalten.

Wo kann man das schon im Theater?
Presseschau Livestreaming: typisch
Und typisch! Mischen sich mal wieder zwei ein, die es voll nichts angeht!
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