Horváth, Hipster, High-Heels

von Esther Slevogt

Berlin, 6. November 2014. "Fräulein! Die Menschen sind weder gut noch böse. Allerdings werden sie durch unser heutiges wirtschaftliches System gezwungen, egoistischer zu sein, als sie es eigentlich wären." – Es sind Sätze wie diese, denen Ödön von Horváths berühmte Liebesgeschichte vom Münchner Oktoberfest anno 1929 ihre andauernde Beliebtheit verdankt. Gerade steht sie eigentlich so ungefähr auf jedem besseren Spielplan: weil sich daran wunderbar vorführen lässt, wie das praktisch funktioniert mit der viel beschriebenen Durchökonomisierung aller Beziehungen durch die Ideologie des Neoliberalismus, der inzwischen noch bis in die letzten Winkel unserer Herzen gedrungen ist. So wie in das Herz von Karoline, die feiern will, auch wenn ihr Freund Kasimir gerade seine Arbeit verloren hat.

kasimir-karoline-1 560 gianmarco-bresadola uInnig aneinander geklammert: Moritz Gottwald (Kasimir) und Jenny König (Karoline).
Merkl Franz (Sebastian Schwarz) und Erna (Iris Becher) schauen zu. © Gian Marco Bresadola

Von Marshmallow-Mäusen und Menschen

Jan Philipp Gloger, der das Stück nun an der Berliner Schaubühne inszenierte, lässt die Oktoberfeststimmung noch als Regieanweisungen in den Abend wehen, die auf eine schwarze Wand projiziert werden. Davor stellt er das auf die Hauptfiguren reduzierte Personal der Geschichte in unterschiedlichen Anordnungen auf: szenige Hipster, deren Oktoberfest heute eher das (Berliner) Clubleben ist. Und da stehen sie also, erst noch aneinander geklammert in inniger Umarmung: Kasimir und Karoline. Moritz Gottwald und Jenny König spielen allergrößte, zärtliche Liebe, tauschen augenrollende anhimmelnde Blicke aus. Und anrührende kleine Gesten zwischen ihnen erzählen uns noch immer von dieser großen Liebe, als sie längst schon zerbrochen ist: Kasimir, der Karoline als Entschuldigung für sein Misstrauen scheu eine Marshmallow-Maus reicht. Karoline, die sie in verlegener Rührung erst annimmt, und Kasimir im nächsten Satz dann trotzdem kalt das Herz bricht.

Zwischen den vielen Mini-Szenen (117 sind es bei Horváth, bei Gloger gefühlt die Hälfte) geht das Licht aus und immer wieder an. Dunkle Musik sorgt für dunkle Atmosphäre. Und wenn Kasimir sich schließlich ins Liebes-Aus fügt, ertönt als Pop-Version des Horváth-Mottos "Die Liebe höret nimmer auf" die Hymne The Everlasting. Immer wieder stehen neue Figurenkonstellationen vor Glogers schwarzer Wand: Träumer, Loser, Egoisten. Verlorene, die sich immer wieder aufs Neue verlieren. Der kriminelle Merkl Franz und "seine Erna" in Gestalt von Sebastian Schwarz und Iris Becher zum Beispiel: ein prolliger und doch irgendwie blasser Testosteronheld mit seiner High-Heel-Bitch. Sie ziehen Kasimir und seine naive Seele zu sich hinab. Auf der anderen Seite wird die nach gesellschaftlichem und ökonomischem Halt suchende Karoline von Männern wie Rauch (Robert Beyer) und Speer (Ulrich Hoppe) begafft und begrabscht. Und sie läßt es zu. Dann wäre da noch Eugen Schürzinger (David Ruland), der Karoline erst für den eigenen Aufstieg verrät und am Ende doch noch abschleppen kann.

kasimir karoline 560a gianmarcobresadola uErst verraten, dann abschleppen – so macht das der Eugen mit der Karoline:
David Ruland und Jenny König © Gian Marco Bresadola

Dauerloop des Scheiterns

Das sieht erst mal alles sehr schön aus. Und ist sehr schön gespielt. So schaut man eine Weile gerne zu, fiebert mit, wenn sich das titelgebende Liebespaar immer wieder fast versöhnt, um sich dann doch knapp zu verfehlen. Moritz Gottwald ist wirklich ein toller melancholischer Clown, Jenny König eine schmollende Kiezprinzessin und David Ruland ein nerdiger Spießer, dessen grobmotorische Liebesversuche fast rührend sind. Trotzdem fängt man nach 40 Minuten an, auf die Uhr zu schauen. Weil's dann doch arg karikaturistisch und zappelig wird, besonders wenn die beiden Vertreter des "wirtschaftlichen Systems, das aus Menschen Egoisten macht", Rauch und Speer, in Erscheinung treten: Robert Beyers Kommerzienrat Rauch (ja, so heißt er auch in dieser Hipster-Horváth-Version noch) trägt Toupet, das selbstredend irgendwann herunterfallen muss; den Landgerichtsrat Speer spielt Ulrich Hoppe als verklemmten Bürokraten. Da gibt sich der Abend gedanklich geschlagen, bevor das Denken überhaupt angefangen hat zwischen all den emotional vom System Verstümmelten, deren Dauerloop des Scheiterns hier mit so großer handwerklicher Finesse in Szene gesetzt worden ist. Ein schick angezogener Abend, der dann aber nichts drunter hat.

 

Kasimir und Karoline
von Ödön von Horváth
Regie und Bühne: Jan Philipp Gloger, Kostüme: Karin Jud, Video: Clemens Walter, Musik: Kostia Rapoport, Mitarbeit Bühne: Céline Demars, Dramaturgie: Nils Haarmann, Florian Borchmeyer.
Mit: Moritz Gottwald, Jenny König, Robert Beyer, Ulrich Hoppe, David Ruland, Sebastian Schwarz, Iris Becher.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de

 

Mit Anfang 30 inszenierte Jan Philipp Gloger bereits die Holländer-Eröffnung der Bayreuther Festspiele 2012.

 

Kritikenrundschau

Als "ein durchaus streitbares, aber prinzipiell gar nicht mal unspannendes Experiment" beschreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (8.11.2014) die Inszenierung. U.a. auch deshalb, weil die Schauspieler der Titelrollen "die Klaviatur des klassischen Zweisamkeitseinfühlungsdramas erstklassig beherrschen". Doch am Ende drehe der Abend unverständlicherweise in die Karrikatur, "und zwar in die der allervorhersehbarsten Sorte".

Trotz aller behaupteten Emotionen wirkt "dieses düstere Oktoberfest" auf Andrea Gerk in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (6.11.2014) seltsam blutleer und beliebig. Zwar vergegenwärtigen aus Sicht dieser Kritikerin die Schauspieler ihre Figuren allesamt sehr intensiv: "Früh Verzweifelte taumeln hier aneinander vorbei, bleiben sich fremd, auch wenn sie einander (körperlich) berühren". Allein die Sprachbehandlung überzeugt sie nicht wirklich: "Horváths Stilmittel der Stille, in der all das Ungesagte und Unsagbare zwischen den Menschen hörbar wird, geht zu oft unter."

Bei Horváth sieht Dirk Pilz von der Berliner Zeitung (8.11.2014) hinter dem unbarmherzigen Blick auf die Lebens- und Liebesumstände seines Personals immerhin noch "die vorsichtig-verzweifelte Hoffnung auf ein Dennoch", in Glogers "Horváth-Einschulung in die Gegenwart" herrsche "nackte, unbestechliche Unerbittlichkeit". Folglich sehe man hier Menschen, "die wie aufgezogene Spielzeugfiguren auf Achterbahnschienen dem Untergang entgegenstürzen", Marionetten, aufgehängt an zwei dünnen, aber rissfesten Fäden: "den Trieben und dem Gelde, der Biologie und der Ökonomie". Doch damit hat sich der Abend aus Sicht dieses Kritikers "ein Korsett geschaffen, an dem er zusehends zu ersticken droht".

"Was bei Horvath die Sprache vermittelt, das müssen bei Regisseur Gloger ihre Handlungen tun", so Hartmut Krug im Deutschlandfunk (7.11.2014). "Die allerdings ihre Figuren in keiner Weise sozial charakterisieren, sondern eher auf Effekte setzen. Und so langweilt man sich bald in der kaum anderthalbstündigen Inszenierung."

"Krisn ohne Wiesn", resümiert Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (11.11.2014). Horváths Sprache wirke in Glogers Inszenierung "trotz ihrer Schönheit und Melancholie" lächerlich. "Es ist, als würde ein Ethnologe durch ein Fernrohr schauen: Schon merkwürdig, diese Kleinbürger, die Oberammergau für die große, weite Welt halten." Diese "blutleere Inszenierung" tue nicht weh. "Sie rührt kaum an. Sie ist einfach da."

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