Die DDR im Herzen

von Georg Kasch

Berlin, 7. November 2014. "Wer jetzt aufhört zu ficken, sollte aufhörn zu rauchen trinken essen arbeiten autofahrn spraydosen benutzen lackfarbe plastik radios kinos menschen", schrieb Ronald M. Schernikau zu Beginn der AIDS-Krise. Nicht nur darin war er auf tragische Weise konsequent: Wenige Jahre später war er tot, mit 31. Und bald danach ziemlich vergessen im Taumel der Wiedervereinigung. Dabei hat er in seiner aphorismenhaften Diktion Dinge formuliert, die einen heute merkwürdig anfahren: "Wer die buntheit des westens will, wird die verzweiflung des westens kriegen" zum Beispiel.

Dass er es jetzt, zum Mauerfalljubiläum, auf die Bühne seines Lieblingstheaters schafft, das Deutsche Theater in Berlin, dürfte zuerst an seiner Biografie liegen. Geboren in der DDR, flieht seine Mutter der Liebe wegen in den Westen – nur um dort festzustellen, dass ihr Mann eine andere Familie hat. Sein Coming-Out-Roman "Kleinstadtnovelle" wird zum Überraschungserfolg. Das literarische Wunderkind und enfant terrible mit der Wunde DDR im Herzen geht zum Studium nach West-Berlin, dann ans Leipziger Literaturinstitut – und lässt sich auf Empfehlung von Peter Hacks einbürgern: Am 1. September 1989. Da hat er nur noch zwei Jahre zu leben.

Kommunismus, Schlager, schwuler Sex

Jetzt also, 25 Jahre nach dem Zusammenbruch jenes Landes, das er verzweifelt liebte, setzen Bastian Kraft und sein Team Schernikau mit "Die Schönheit von Ost-Berlin" ein äußerst lebendiges Denkmal. Biografie und Werk haben sie zu einer halbwegs linearen Erzählung montiert und in den Kammerspielen auf eine Insel gesetzt: Peter Baur türmt dicht gedrängt Bett neben Pissoir neben rosafarbene Marxbüste, ein Audi-Heck schiebt sich unter einen Ausguck, "ich bins!" leuchtet neben einem Kaugummiautomaten. Schernikaus Kleinstadt-Isolation steckt darin, natürlich West-Berlin, aber auch ein dichterisches Universum, in dem Kommunismus, Schlager und schwuler Sex einander nicht ausschließen, sondern bedingen.

schoenheit von ostberlin1 560 arno declair hVier Schernikau-Lookalikes im Audi-Heck: Elias Arens, Thorsten Hierse, Wiebke
Mollenhauer, Bernd Moss – und Margit Bendokat als Mutter © Arno Declair

Darauf und darin turnen die vier Schernikau-Lookalikes herum, mit Langhaarperücken, zartem Schnauz und Brille, dazu ein bisschen Strass und Schmuck. Sie alle sind Schernikau (oder seine Alter Egos), teilen sich aber auch mal auf in Lehrer und Schüler oder WG-Mitbewohner. Einmal spielt Thorsten Hierse mit scheuer Grandezza "b.", der sich in Elias Arens' Leif verliebt und, als dessen Eltern (es sind die späten 70er in der westdeutschen Provinz) ihn zu erpressen versuchen, den Skandal ausruft. Ihr Kuss ist zugleich narzisstisches Spiegelbild. Später spreizt sich Bernd Moss gönnerhaft als Peter Hacks, der selbstzufrieden Wiebke Mollenhauer als Hund den Hals krault, während er Schernikau attestiert, Genie-Potential zu besitzen.

"Ich bin privat hier"

Kraft inszeniert das als wirbelndes Treiben, in dem die vier Schauspieler die schönsten Schernikau-Zitate zu Pointen abschmecken, ein Grand Prix der treffendsten Bonmots, eine intellektuelle Schlagerparade der Paradoxien – für einen, der so gerne Schlagersängerin geworden wäre. Einmal spielen sie Schernikaus überdrehten Krimi "Die Schönheit" nach, 1987 für eine Tuntengruppe geschrieben: im Bauch der Bühnen-Insel, mit Hollywood-Soundkulisse und hastigem Perückenwechsel, übertragen von der Handkamera auf die Bühnenrückwand. Trashiger kann's auch Frank Castorf nicht. Überhaupt spart Kraft nicht mit Hollywood-Pathos – das ist erstaunlich viel Herz und Schmerz für einen, der das romantische Glotz-Verbot in jeden seiner leidenschaftlich glühenden Texte trieb.

Das alles könnte in seiner wunderbaren, manchmal berührenden, oft himmelschreiend komischen Perfektion in die Leere laufen. Aber da ist noch die Mutter. Sie, die der Liebe, nicht der Politik wegen aus der DDR floh und vollkommen desillusioniert wurde, hat sich nicht kaufen lassen: Sie weigert sich, sich als Flüchtling "aus politischen Gründen" anerkennen zu lassen, auch wenn ihr so Hilfsgelder verloren gehen. "Ich bin privat hier", sagt sie.

Und wie sie das sagt: Margit Bendokat sitzt neben der Insel und spricht Sätze aus "Irene Binz. Befragung", in der Schernikau die Erzählungen seiner Mutter zu Blankversen von spröder Schönheit veredelte. In ihrer wunderbar schleppenden, insistierenden, scheinnaiven Diktion scheint allmählich auf, wie Schernikau als Sohn dieser Mutter die DDR ins Herz gepflanzt bekam. In seiner Erdenschwere macht jedes von Bendokats Worten spürbar, dass es auch im Westen gab (und gibt), was der dem Osten immer vorwarf: Versuche, Menschen zu verbiegen.

 

Die Schönheit von Ost-Berlin
Eine Ronald-M.-Schernikau-Collage
Regie: Bastian Kraft, Bühne: Peter Baur, Kostüme: Inga Timm, Musik: Ingo Schröder, Dramaturgie: John von Düffel.
Mit: Margit Bendokat, Elias Arens, Thorsten Hierse, Wiebke Mollenhauer, Bernd Moss.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Hundert Minuten lang wechsele Perücken-Trash mit studentischer WG-Küchen-Prosa, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (10.11.2014). Wer sich bei Schernikau (noch) nicht so gut auskenne, habe hinterher einen guten Überblick. Weil Regisseur Kraft ästhetisch fast alles auffahre, "was im Theater momentan en vogue ist, beschleichen einen Bedenken, Schernikau könnte unter dieser Formfülle ein bisschen wegrutschen, unter diesem typisch semi-ironischen Gestus, unter dem Anekdotischen". Andererseits gebe es fürs Gegenteil Margit Bendokat, die auch konzeptionell durchaus so eingesetzt ist. "Gewohnt klar, pathosfrei und gerade deswegen so berührend erzählt Bendokat die Geschichte von Schernikaus Mutter, die im Westen – in ganz anderen Denk- und Gefühlskategorien als ihr Sohn – auch nie heimisch wurde." Schernikau wäre zu Recht begeistert gewesen: Am Deutschen Theater, seiner Lieblingsbühne, gehörte Bendokat zu den von ihm ganz besonders verehrten Schauspielerinnen.

Aus Dradio Fazit (7.11.2014) würdigt auch André Mumot die Leistung von Margit Bendokat: "Nie naturalistisch, aber mit der ungeheuren, glaubhaften Eindringlichkeit der einfachen, klugen, unbeugsamen Frau erzählt sie, wie sie für einen Mann nach Westdeutschland ging, der bereits verheiratet war, wie sie zurück wollte und nicht konnte." Das Quartett hüpfe virtuos durch die hinreißenden Schernikau-Texte und seinen weltvergessen albernen Ideologie-Quatsch, durch die himmelschreiende Naivität und die scharfsinnigen Sottisen, die den selbstgefälligen Kapitalismus brillant aufspießen. "Es ist eine Hommage, die ganz nebenbei klarmacht, wie sich das großpolitische Getöse im Privaten bricht, wie das erlebte Leben die Gedanken formt, wie der Idealismus an der Wirklichkeit zerschellt."

"Ein unbequemer Autor ist hier zu entdecken, den diese Inszenierung warmherzig empfiehlt", findet Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.11.2014). In "stilistisch aufgekratzten Szenen und mit Originalzitaten" werde Schernikaus "kurzes, ungestümes Leben" aufbereitet. "Neben etwas Disco-Musik und ein paar Livevideosequenzen stützt sich die Uraufführung vor allem auf ihre Sympathie für den heute ziemlich unbekannten Schriftsteller – und die Suche nach immer wieder anderen, kunstvoll strukturierten Konstellationen, um ihm szenisch Gehör zu verschaffen."

"Das Private berührt", schreibt Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung (10.11.2014). In anderen Szene aber versande die individuelle Geschichte im platt Kabarettistischen. "Wer Schernikau kannte, erzählt von Charme, Neugier, unglaublicher Zugewandtheit. Da dies fehlt, erstickt die heftige Schönheit dieses Lebens im Außenseiter-Klischee. Schade."

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