Die Banalität des Subjektiven

von Dirk Pilz

Februar 2008. Diskutiert wird ja gern und viel rund ums Theater und die einzelnen Inszenierungen. Eines scheint dabei stets unverbrüchlich zu gelten: Nichts ist objektiv in Sachen ästhetischer Urteilsbildung, alles bleibt letztlich ein Produkt der je eigenen Subjektivität. Objektivität in der Theaterkritik zum Beispiel? Gibt es nicht, kann es nicht geben, braucht es auch nicht.

Das schallt einem jedenfalls allerorten entgegen. Der Konsens lautet: Das ästhetische Urteil ist und bleibt eine zutiefst subjektive Angelegenheit, die sich der Überprüfbarkeit entzieht. Entsprechend die rhetorisch mehr oder wenig offenherzig hinausposaunten Leer-Formeln in den Foyers, Kantinen und Kritiken: Ich kann damit nichts anfangen; das ist nicht mein Theater; ich mag das nicht .... Als ob auf diese Weise irgend etwas Relevantes gesagt sei. Als ob so mehr als eine Meinung veröffentlicht wäre. Als ob eine Meinung schon ein Urteil abgeben würde.

Jenseits von subjektiv contra objektiv

Warum aber diese Meinungshuberei derzeit so fröhlich Urstände feiert, hat mit der Geschichte der Objektivität zu tun. Und über diese Geschichte haben Lorraine Daston und Peter Galison, beide Wissenschaftshistoriker, ein überaus aufschlussreiches Buch geschrieben. Es handelt zwar vom Begriff der Objektivität in den Naturwissenschaften, erzählt jedoch viel über jenen klappernden Dualismus, der sich nach wie vor auch in Bezug auf die ästhetische Urteilsbildung großer Beliebtheit erfreut: die Dichotomie von subjektiv und objektiv.

Die These des Buches nun: Das Konzept der Objektivität ist erst Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden und hat keine hundert Jahre überdauert. Danach wurde es nicht überwunden (es gibt kein Überwinden vorheriger Ideen in der Geistesgeschichte), sondern aufgrund innerer Widerstände transformiert. Die wissenschaftliche Objektivität hat also eine Geschichte, und sie, die Objektivität, ist nicht identisch mit Wahrheit oder Gewissheit.

Mehr als eine Wissenschaftsgeschichte

Es geht diesem reich illustrierten und gut lesbaren Band demnach um die Historisierung eines angeblich ahistorischen Begriffs: eben dem der Objektivität resp. der Subjektivität. Das Buch besticht dabei durch seine Materialfülle und intime Kenntnis historischer Zusammenhänge. Vor allem aber vermögen Daston und Galison die große Linie im Dickicht der Details zu erkennen. Und diese Linie arbeitet die Geschichte des spannungsreichen Wechselverhältnisses zwischen dem Untersuchungsgegenstand der einzelnen Naturwissenschaftler und ihren wissenschaftlichen Methoden heraus, vornehmlich am Beispiel des Verfertigens von Atlanten.

Die Objektivität im Sinne des 19. Jahrhunderts, nämlich das Ideal einer mechanischen Reproduktion, wird so als die Reaktion auf jenes Ideal deutlich, dem etwa Goethe huldigte – für ihn hatte die Wissenschaft nicht das tatsächlich Vorfindbare abzubilden, sondern den Idealtypus zu zeigen.

Mit dieser historischen Verortung des Objektivitätskonzepts ist mehr geleistet als die Aufarbeitung von Wissenschaftsgeschichte. Es wird der schlichten Verdammung wie der blinden Glorifizierung des Subjektiven oder Objektiven der argumentative Boden entzogen: weder das bloß Subjektive noch das rein Objektive sind sinnvolle Kriterien. Entscheidend ist immer die Art und Weise, wie beides aufeinander bezogen wird.

Selbstverräterische Unumstößlichkeit

Dass aufgrund des Konstruktionscharakters unserer Wahrnehmung, der je eigenen Vorurteile und Vorlieben, nur noch die reine Subjektivität übrig bleibe, ist folglich so falsch wie banal. Banal ist diese Annahme, wenn mit Objektivität die Unumstößlichkeit eines Urteils gemeint ist. Die gibt es natürlich nicht, auch wenn kurioserweise nicht wenige ihre ach so subjektiven (ästhetischen) Urteile gerade im Gestus der Unumstößlichkeit auftreten lassen; das sagt allerdings vor allem etwas über das eigene Selbstverständnis.

Falsch ist die Annahme aber, wenn damit gemeint sein soll, dass letztlich alles "irgendwie" subjektiv sei, auch das Urteil über Theater etwa. Auf eine derartige Position kann nur Denkfaulheit führen, die mit dem Hinausreden auf die Subjektivität gern auch die Verantwortung für das eigene Urteilen zu umschiffen hofft. Und zwar Begründungsverantwortung hinsichtlich der je zu beurteilenden Sache, sei es ein Theaterabend oder ein empirischer Befund im naturwissenschaftlichen Sinne.

Eine Denkfaulheit, die aus dem Zusammenbruch des Glaubens an ein festes Konzept von Objektivität auf die unbekümmerte, vermeintliche Freiheit des Subjektiven zu schließen glaubt. Und eine Freiheit, die heute im Mantel der allgemein gültigen, unhintergehbaren Unumstößlichkeit auftritt wie einst das Konzept der mechanischen Objektivität. Allein das ist selbstverräterisch.

Die Gegenwart des 19. Jahrhunderts

Diese Form von Denkfaulheit ist jedoch historisch gebildet, wie Daston und Galison zeigen: Sie ist eben die Reaktion auf einen Begriff der Objektivität wie er im 19. Jahrhundert verwendet wurde. Der unbedarfte Rückzug auf die Subjektivität wiederholt nur die Missverständnisse des Objektivitätsbegriffes, indem sie spiegelbildlich verkehrt werden.

Oder anders: Wer heute glaubt, (ästhetische) Urteile seien nichts als subjektiv und somit objektiv, nämlich durch Begründung, nicht überprüfbar, atmet den Geist des 19. Jahrhunderts. Das ist nicht per se verwerflich, nur sollte man es wissen. Will sagen: Urteile verdienen einzig durch Begründung ihr Recht, auch und gerade dann, wenn sie sich auf subjektive Faktoren berufen. Weder das subjektive noch das vermeintlich objektive Urteilen ist falsch oder richtig; entscheidend bleibt die Begründungsqualität, und sie ist in ein kompliziertes historisches Geflecht eingewoben.

Die Techniken des Urteils

Galisons und Dastons Wissenschaftsgeschichte weiß um diese historisch wechselwirksamen Techniken des urteilenden Selbst und richtet ihr Augenmerk deshalb gerade auf deren Geschichte. "Objektivität und Subjektivität sind so untrennbar, wie konkav und konvex es sind" schreiben sie. Die Nobilitierung der Subjektivität geht Hand in Hand mit dem Affekt gegen eine (falsch, weil nur oberflächlich verstandene) Objektivität. Eine These, die man aufs Schönste durch das herrschende Dogma der Subjektivität bestätigt findet.

Man achte darauf, wie Urteile, gerade in der Theaterszene, oft begründet werden: entweder gar nicht oder mit dem nebulösen Hinweis auf den eigenen Geschmack. Das aber sagt nichts über das zu Beurteilende und einzig etwas über den Urteilenden. Und was es wie sagt, erzählt dieses Buch. Denn es ist im Kern eine Geschichte über das erkennende Subjekt, seine Techniken, seine Prämissen und Folgen.

Dieses Buch hat also durch den scharfen, genauen Blick auf die Geschichte der Objektivität gleichsam therapeutische Wirkung, indem es dem Drauflosplappern die Legitimation streitig macht. Abgesehen davon, dass man mit ihm viel Wissenschaftshistorisches lernt.

 

Lorraine Daston/Peter Galison
Objektivität.
Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger.
Suhrkamp Verlag 2007.
531 Seiten. 34, 80 Euro.

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