Fieberfantasie eines sterbenden Dichters

von Christian Rakow

Berlin, 8. November 2014. Als er 27 Jahre alt war und bereits Schriftsteller, änderte der Italiener Kurt Erich Suckert (1898–1957), Sohn eines Textilingenieurs aus Zittau/Sachsen, seinen Namen in Curzio Malaparte, mit Anklang an Bonaparte, so wie einer, der nicht Gutfried heißen will, sondern Bösefried, weil er lieber von der dunklen Seite des Lebens kostet.

Und Malaparte hat sie ausgiebig gekostet: als Mitglied der faschistischen Partei unter Mussolini, zeitweise in Ungnade gefallen und inhaftiert, dann wieder protegiert. Als Kriegsberichterstatter reiste er an die Ostfront und ging bei Nazigrößen wie dem Generalgouverneur im besetzten Polen Hans Frank ein und aus. Seine Erfahrungen sind in dem gut 550seitigen Kriegsroman "Kaputt" (1944) verarbeitet. Ein Welterfolg. Am Ende seines Lebens wandte sich Malaparte dem Kommunismus zu und vermachte sein Anwesen auf Capri der maoistischen Volksrepublik China.

Knackige Bonmots, Festgelage & Pogrome

Das Wort "kaputt", so lernt man in dem Roman, stammt aus dem Hebräischen von "Kapparoth" und heißt so viel wie Opfer. Und das Opfer, um das es in diesem zweiten Weltkrieg gehe, sei das des deutschen Siegfried, des scheinbar unbezwingbaren Helden, der Angst vor niemandem hat, nur vor den Schwachen und Kranken. Kein Wunder, dass Frank Castorf, der Spezialist fürs Kaputte, der jüngst Wagners "Ring des Nibelungen" samt Siegfried am Grünen Hügel Bayreuths als bewährter Störenfried anrichtete, nun beim Bösefried Malaparte gelandet ist. Mit Célines Reise ans Ende der Nacht hatte er in München auch grad einen Autor aus dem rechten Friedhofseck am Wickel.

kaputt4 560 thomas aurin hUnbezwingbare Helden? © Thomas Aurin

In "Kaputt" tourt Malaparte als Ich-Erzähler in eigener Sache zu alten und neuen Feudalhöfen, zu abgewirtschafteten Aristokraten und zur neuen adelig auftretenden Nazioberschicht. Wobei er die leutselig zynischen Gespräche auf den Festgelagen regelmäßig wie in einem Novellenzyklus durch schockierende Fronterzählungen konterkariert und durch Gräuelberichte wie dem vom Pogrom an den Juden von Jassy (Rumänien). Und während er hier beklemmend nahansichtig den Tod einfängt, geriert er sich vor den Nazioberen als hintersinnig kritisches Enfant terrible mit einem Faible für knackige Bonmots: "In gewissem Sinne wäre ein mit einem Paar richtiger deutscher Fäuste begabter Christus nicht sehr verschieden von Himmler."

Solche Sprüche und manche schon im Roman angelegte Groteske reizt Castorf wie gewohnt weidlich aus, egal ob es um Himmler beim Saunabesuch geht, oder Max Schmelings Darmkolik als Durchfall auf dem Blecheimer zelebriert wird. Aber die eitle Selbstfeier als Narr am Hofe der Mächtigen lässt Castorf Malaparte denn doch nicht durchgehen. Mit Mex Schlüpfer stellt er ihm schon eingangs einen famos garstigen Biographen an die Seite, der in Malapartes Nachkriegsleben bis zum Tumor-Tod stochert ("Er hatte den Teufel im Leib."). Unter Hinzuziehung des Malaparte-Romans "Die Haut" (1949), der die US-Besatzung in Neapel als Sodom & Gomorrha ausmalt, wird in die Historie zurückgeblendet. Dann weiter zurück. Man vernimmt Anspielungen auf die Avantgarde-Literatur der Zwischenkriegszeit (die wie Malaparte selbst nicht unwesentlich dem Faschismus zusprach) und hört vom Leiden der Jünglinge, die die Schützengräben geboren haben.

Memory-Spiel für Gelehrte in Bösefrieds Böseburg

Nach gut einer halben Stunde tritt einer dieser Jünglinge, noch immer mit blutverschmiertem Gesicht, in neuer Machtposition auf: Patrick Güldenberg als Hans Frank, mit versonnenem, aber scharf aufloderndem Antlitz. Man ist im Kriegssetting von "Kaputt" angekommen. Jeanne Balibar gibt Malaparte als diabolischen Hermaphroditen mit Oberlippenbart und französischem Akzent (wenngleich natürlich mehrere Spieler hin und wieder die Malaparte-Rolle übernehmen). Je länger der Abend, desto radikaler, zerrissener, explosiver spielt sie auf, gern auch im intimen Doppel mit gefallenen Frauen: Margarita Breitkreiz (u.a. mit krachendem Russisch) und Britta Hammelstein (u.a. als Nixe im knöcheltiefen Swimmingpool).

kaputt2 560 thomas aurin hEinchecken in alte und neue Feudalhöfe  © Thomas Aurin

Wie eine Fieberphantasie des sterbenden Dichters ist dieses Stück angelegt. Es kreist von den Nachkriegsjahren in die Kriegszeit und zurück. Fast durchweg bleibt die Bühne finster ausgeleuchtet wie ein Bergwerk mit teerschwarzen Quadern im giftgelb ausgeschlagenen Rund. Bösefrieds Böseburg. Das Geschehen spielt meist in einer schwarzen Wellblechhütte, innen gülden dekoriert. Man verfolgt es via Livevideo auf einer bewährt grobkörnigen Leinwand. Man verfolgt und leidet es, nicht weil alles enervierend flimmert, die Schnitte so wild hin und her wechseln, dass überhaupt nicht auffällt, dass Georg Friedrich mit gebrochenem Ellenbogen (vom Unfall in der Generalprobe) unter seinem gewohnten Aktionsradius mitmischt. Auch nicht, weil Castorfs notorische Zermürbungsdramaturgie hier unbarmherzig wie lange nicht zuschlägt. Nach zehn Minuten finden Szenen ihren Punkt, nach fünfzehn verlieren sie ihn wieder, nach zwanzig dauern sie noch immer. Wer grad noch ein ukrainischer Mechaniker war, ist jetzt schon Adliger in Stockholm. Alles fließt. Das Stück wird zum Memory-Spiel für Gelehrte, ohne Buch- oder besser gleich Gesamtwerkkenntnis Malapartes dürfte der Genuss gen Null tendieren.

Verherrlichung des ewig Bestialischen

Nein, das alles wäre nicht schlimm, wenn der sechsstündige Abend nur einen Funken mehr abwerfen würde als die schlichte Einsicht, dass Menschen niederträchtig, böse und gewalttätig sind. Was sicher richtig ist, wenn man allein auf den Ausnahmezustand schaut und den Krieg zum Vater aller Dinge erhebt. Noch die Befreier aus den USA erscheinen Malaparte in all der Prostitution als Verlängerung des humanen Desasters, das sich an den Weltkriegsfronten darbot. Castorf setzt ihm da nichts entgegen, stellt alles vielmehr neutral als radikale Künstlerfantasie mit Provo-Appeal hin. Apokalyptiker haben noch immer ästhetischen Mehrwert abgeworfen. Ihre Verherrlichung des ewig Bestialischen bürgt für Schaudern.

Dabei ist Castorfs Ästhetisierung des Falls Malaparte selbst Ausdruck einer gänzlich anderen Epoche. 1955 rollten US-Panzer auf West-Berlin zu, in dem launigen Musikfilm "Liebe, Tanz und 1000 Schlager". Und hinter ihnen fuhr ein bunter Tour-Bus mit dem italienischen Allroundtalent Caterina Valente, dem smarten österreichischen Sänger Peter Alexander und einer ganzen Reihe US-Jazzmusiker, Stepptänzer und weiterer Artisten neuen Typus an Bord. Es ist der Auftakt des Pop in Deutschland, des schillernden Spiels mit Zeichen und variablen kulturellen Codes. Ganz sicher eine unheroische Zeit, aber keine finstere.

 

Kaputt. Tour de force européenne
nach Curzio Malaparte
Regie: Frank Castorf, Bühne und Kostüme: Bert Neumann, Licht: Lothar Baumgarte, Kamera: Andreas Deinert, Mathias Klütz, Video-Schnitt: Jens Crull, Ton: Wolfgang Urzendowsky, Christopher von Nathusius, Ton-Angel: William Minke, Dramaturgie: Sebastian Kaiser.
Mit: Jeanne Balibar, Margarita Breitkreiz, Bärbel Bolle, Frank Büttner, Georg Friedrich, Patrick Güldenberg, Britta Hammelstein, Horst Günter Marx, Mex Schlüpfer, Axel Wandtke und Harald Warmbrunn.
Dauer: 6 Stunde, eine Pause

www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

In der Frankfurter Allgemeinen (10.11.2014) konstatiert Irene Bazinger: "Ob es um Massaker an Juden geht oder die Schönheit deutscher Frauen, um Havanna-Zigarren oder Wehrmachtsbordelle, um Max Schmeling oder Friedrich Hölderlin, immer lautet die Devise: Auf sie mit Gebrüll! Im Container tobt auf engem Raum das pralle Leben, im Zuschauersaal überwiegt Erschöpfung und Resignation." Penetrant dräue "Kunstnebel in die bizarren Szenerien, doch von Kunst kann trotzdem keine Rede sein." Mit Kaputt habe sich "Frank Castorf gehörig verhoben – was angesichts des zwiespältigen Romans eigentlich auch ganz gut ist."

"Erzählökonomie sei Castorfs Sache nicht", meint Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (10.11.2014). "Und so gibt es auch an diesem Abend von allem: zu viel." Castorf schaue "sich die Welt von unten an, von ihrer schlechten Seite. Und sucht dort nach Menschlichkeit. Irgendwann lichten sich die Reihen. Die Schauspieler haben ihren Ekel herausgeschrien und sind heiser. Es wird still im Saal. Auf der Bühne fragen sich die kriegsversehrten Figuren, was das eigentlich ist, der Mensch. Der Zuschauer findet keine Antwort."

"Die Leinwand leuchtet, die Bühne dreht Säulentorsi im Kreis, die Schauspieler rudern durch die Textmassen: Innen glüht leer laufendes Virtuosentum, außen herrscht Finsternis. So krachend dualistisch ging es bei Castorf lange nicht zu", schreibt Dirk Pilz in der Frankfurter Rundschau und Berliner Zeitung (10.11.2014). "Und so simpel botschaftsorientiert auch nicht." Castorf schmecke "das berühmte Paradox durch, dass die Geschichte sich zwar nie wiederholt, in ihr aber immer das Gleiche geschieht. Und er hat eine handfeste Erklärung: weil der Mensch sehr böse und sehr verkommen ist. Auf dieser Basis lässt sich hervorragend schulmeistern." "Kaputt" sei "Frontalunterricht in Menschen- und Geschichtskunde. Außer Nicken, Einschlafen oder Davonlaufen sieht der Volksbelehrungsabend keine Zuschauerreaktion vor."

Peter von Becker vom Tagesspiegel (10.11.2014) hat tatsächlich "Inseln der Spannung" entdeckt, allerdings "in einem Meer von Langeweile". Zudem beklagt er, dass Jeanne Balibar leider "fast nur sentimental" erscheine: "Die französische Actrice markiert den vermutlich bisexuellen Malaparte zwar mit romanischer Grazie, aber oft auch in einem hohen Jammerton. Das Monströse, zwielichtig Spannende der Figur wird da unfreiwillig verkitscht. Castorf, wenn er nicht gerade hysterisch brüllen und zappeln lässt, versüßt und versülzt, was Malaparte als letzte Tage der europäischen Menschheit beschwört. Und am Ende geht die sonst völlig textlastige, undramatische Aufführung buchstäblich baden, apokalyptisch geflutete Leiber und Schreier, doch die Sintflut ist bloß knöcheltief."

Schon Bert Neumanns Bühne sei diesmal "unterkomplex ausgefallen", meinte André Mumot auf Deutschlandradio Kultur (9.11.2014). Die Auffürung selbst kämpfe "sich matt durch eine Szene nach der anderen, bewegt sich schleppend durch die titelgebende 'Tour de force européenne' (…), an der die Zuschauer aber nie wirklich teilnehmen können." Man erlebe eine "verkrampfte, verbissen trostlose Geschichtsstunde, die das, was sie über die Verworfenheit des Menschen zu sagen hätte, nicht über die Rampe bringt, während sie nicht aufhört, zu schwatzen, zu salbadern, zu fuchteln, zu schimpfen, zu jammern und zu greinen."

Angst sei, so meint Jan Küveler in der Welt (10.11.2014) "das zentrale Motiv des Abends", der "ein sechsstündiger Nervenkrieg" sei, ein "Potpourri aus Szenen des Kriegs wie eine defätistische 'Mutter Courage'". Irgendwann heiße es "in den sechs Stunden voller Mitleid und Mitleidverachtung: '"Kaputt' ist die Metamorphose von Siegfried zum Opfer." Das ist Castorfs metaphysische Hypothese, die Geburt des Antisemitismus aus dem Geist des Selbsthasses."

Der Roman "Kaputt" wirke wie der Stachel in aller Erinnerungsseligkeit, schreibt Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (11.11.2014): "Die Geschichte tritt hier vor allem als Gemetzel auf." Castorf klebe der Vorlage an den Lippen. "Der Abend will so eine Gesamtstimmungslage moralischer Richtungslosigkeit erschaffen: Wir sollen den Krieg fühlen, die Gewalt schmecken." Dabei mutiere die Inszenierung zur zähen Volksbelehrung: "Der Mensch ist schlecht, das (deutsche) Volk krank. Für sechs Stunden Theater ist das dann doch etwas wenig – und gibt der alten Vermutung recht, dass die Bühne als blosse Botschaftsplattform denkbar ungeeignet ist."

"Castorfs Weltverwünschungsorgie hinterlässt ein atmosphärisches Vakuum, sie stimuliert eine apokalyptische Naherwartung, das Warten auf das einschneidende Ereignis", das "alles Mögliche sein" könne, "irgendetwas Mythisches und Charismatisches, Hauptsache, es stürzt den Sieger der Geschichte in den Staub", schreibt Thomas Assheuer einlässlich und lang in der Zeit (13.11.2014). Der hier gemeinte Sieger der Geschichte ist der amerikanische Liberalismus, der bei Castorf/Malaparte nah an den Faschismus gerückt werde. "Kaputt ist das Weltkriegseuropa, und kaputt ist Europa heute. Verwüstet nicht von den Nazis, sondern vom Westen, von Amerikanern, Liberalen und Abzockern mit Dollarzeichen in den Augen." Bei Castorf im "schwarzem Weltcontainer sind die Ideologien so austauschbar wie Max Schmelings Boxhandschuhe, mal kleben die Stars and Stripes drauf, mal irgendein anderes Abzeichen, es scheint völlig egal."

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