Zukunft auf Sand gebaut

von Christian Muggenthaler

Regensburg, 9. November 2014. Die innerdeutsche Mauer, deren Fall jetzt 25 Jahre zurück liegt, hatte auch durch Ereignisse in Ungarn Risse bekommen: Ungarn hatte im Frühjahr 1989 seine Grenzanlagen zum Westen abgebaut. Über die Grenze gingen DDR-Bürger, es kam das Ende des Kommunismus. Man begrüßte und umarmte Demokratie und Kapitalismus und wurde von letzterem bis zur Lungenquetschung zurückumarmt. Was also ist da genau passiert, in diesem Land, in diesem vergangenen Vierteljahrhundert?

Der ungarische Autor Csaba Mikó hat diese Frage in seinem Stück "Die Vaterlosen" mit einer Familiengeschichte zu behandeln versucht, die jetzt am Theater Regensburg uraufgeführt wurde: Wie wirkte sich die marktwirtschaftliche Umarmung aus auf eine handelsübliche Familie? Die Antwort lautet: nicht sehr erfreulich. Der Clan zerbricht, die Hoffnungen der einzelnen Familienmitglieder werden sorgfältig plattgedengelt, nur der jüngste Spross, Simon mit Namen, geht einen merkwürdigen, beunruhigenden, irgendwie protofaschistisch wirkenden Weg.

Eine Frage der Statik

Mikó betreibt "oral history" im Wohnzimmer der Nachbarsleute, erzählt eine Geschichte von Vater, Mutter und sechs Kindern, wobei der Vater allerdings nie in Erscheinung tritt, weil er sich, im Grund schon krank, jetzt erst recht todkrankarbeitet. Seine Hoffnungen auf die Chancen in einer neuen Zeit haben den Mann so sehr aufgesogen, dass er für seine Kinder zwar immerwährendes Gesprächsthema, aber eben auch – unsichtbar wurde. Die Familie ist entkernt.

vaterlosen3 560 sarah rubensdoerffer uEinweckgläser und Sehnsüchte aus alten Zeiten in "Die Vaterlosen" © Sarah Rubensdörffer

Jedes der Kinder versucht, für sich und mit sich selbst klarzukommen, entwickelt Lebenspläne, die in die Binsen gehen. Mikó erzählt die Geschichte nun aber nicht nur vor sich hin, sondern zieht allerlei abstrakte Ebenen ein. Er lässt die Figuren nicht nur Dialoge sprechen, sondern auch laufend Auskünfte über ihre inneren Zustände geben und sie äußeres Geschehen aus einer Beobachterposition beschreiben. So müssen Bewegungen nicht zwingend nachgespielt werden, sondern können Behauptungen bleiben. All das fördert den Eindruck einer Omnipotenz der Statik: Weil Leute sich hinter ihrem Schwall an Rhetorik ja ohnehin nie groß ändern.

Gleiche Kleidung, gleiche Macken

Und genau diese Idee dieser Statik nimmt nun in Regensburg Regisseur Michael Lippold auf. Wenn schon die Handlung zackig durch zwei Jahrzehnte schießt, so bleiben die Protagonisten doch immer gleich und unwandelbar: gleiche Kleidung, gleiche Macken, gleiche Sprachmelodien, kein Veränderungsprozess, kein Umdenken. Franziska Sörensen ist die Mutter als grämliche Anti-Mamma, verbittert und in sich gekehrt, Thomas Birnstiel Sohn Tomi, brav und wütend zugleich, Felix Steinhardt der dauerscheiternde Dauerhochstapler Laci und Jacob Keller das unheimliche, emotionslose, alles überwachende Monster Simon.

Im Zentrum des Abends stehen die beiden Töchter, charismatisch aufgeladen in ihrem Scheitern von zwei wunderbaren Darstellerinnen: Johanna Wieking macht als Fester den Zwieklang deutlich zwischen einem zutiefst verunsicherten Mädchen und seinem hibbeligen Hang zur Weltrettung, Pina Kühr ist als Doda eine elegante Frau auf der Flucht in die Welt der Kunst und bruchlandet dann doch immer wieder nur als älteste Tochter mitten im Familiensumpf.

Ruckelnde Reise

Denn all diese ratlosen, rastlosen Menschen bewegen sich keineswegs auf sicherem Grund, sondern auf rutschigem Sand zwischen Unmengen von gefüllten Einweckgläsern, die das trauliche einstige Familienidyll nur noch in Form von Bohnen, Pfirsichhälften und Soleiern birgt. Ausstatterin Anna Schurau hat für ein multifunktionales Bühnenbild gesorgt, knapp und unaufdringlich aufgefüllt mit kurzen Videosequenzen und angereichert mit Sound-Elementen von Levin Kärcher.

Und wenn auch die Videos kurze, melancholische Filmaufnahmen aus Ungarn zeigen, so geht es hier definitiv nicht um Realismus. Lippold stellt ein ruckelndes Familienbild aus, wechselt stehende Bilder ab mit plötzlichen Handlungsanfällen, lässt dann wieder Texte vom Band laufen und die Spieler sich in Position stellen. So sieht man dem Zerbersten einer Familie in Zeitlupe zu, die leidet, weil sie ihren Kern, ihren Sinn und ihre Hoffnung verloren hat. Das Stück "Die Vaterlosen" wirkt wie eine sich aus der Privatheit herauswölbende Metapher für eine Gesellschaft, die mutmaßlich an einer seit Jahrzehnten scheiternden Herztransplantation leidet. Und hat weitere theatrale Zugriffe  verdient.

Die Vaterlosen
von Csaba Mikó, Deutsch von Arpad Dobriban und Stephanie Junge
Uraufführung
Regie: Michael Lippold, Bühne und Kostüme: Anna Scharau, Sound: Levin Kärcher, Dramaturgie: Stephanie Junge.
Mit: Franziska Sörensen, Thomas Birnstiel, Pina Kühr, Felix Steinhardt, Johanna Wieking, Jacob Keller.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.theater-regensburg.de

 
Kritikenrundschau

"Mikós Stück ist so etwas wie die Theater gewordene Unterstützung der These des Schriftstellers Péter Esterházy zu dessen Heimat: Ungarn sei eine eben vaterlose Gesellschaft, der ein Bewusstsein für die eigene Vergangenheit fehle und die sich deshalb taumelnd und leicht verführbar in eine kaum selbstgestaltete Zukunft bewege. Dieses Taumeln malt Mikó kräftig und bunt aus." So schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (13.11.2014). Der "sehr aufmerksame Regisseur Michael Lippold" schaffe mit seinem "grandiosen Jungdarsteller Jacob Keller" aus Mikós "zwischen seifiger Oberfläche, monströser Behauptung und präziser Zustandsbeschreibung changierendem Stück" ein "Fanal". Lippold norde "Mikós auf seine Landsleute viel bösartiger wirkende Ambivalenz auf deutsche Wahrnehmungsmöglichkeiten ein. Und das ist gut."

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