Wutbürger aller Milieus, vereinigt euch!

von Wolfgang Behrens

Cottbus, 21. November 2014. "Warum wird da niemand wütend?", heißt es in Andres Veiels "Das Himbeerreich" einmal. "Wird hier denn keiner wütend?", spricht hingegen, mit einem leichten Dreh ins Hier und Jetzt, der Schauspieler Amadeus Gollner ins Publikum und katapultiert die Frage so in die Realität eines Freitagabends in Cottbus. Für einige Augenblicke geht das Saallicht an – ein Mittel, das nicht zuletzt der Opernregisseur Peter Konwitschny kultiviert hat, um den Zuschauern zu signalisieren: "Hallo, aufwachen! Ihr seid gemeint!"

Der Moment könnte dazu einladen, tatsächlich die Stimme zu erheben. Man könnte Diskussionen vom Zaun brechen (wie sie ja beispielsweise in Thomas Ostermeiers Berliner "Volksfeind"-Inszenierung regelmäßig stattfinden), könnte sich Luft machen. Allein: Da ist gar keine Wut! Die Stille, die herrscht, während die Frage nachhallt, wirkt eher apathisch: Soll man sich wirklich aufregen, weil ein paar Luftikusse, die sich Investmentbanker nennen, mal eben ein paar Milliarden verzocken, für die dann letztlich der Staat einspringt?

Kapitalistenchargen mit Champagnerflöten
In der ersten Szene hatte Schauspieldirektor Mario Holetzeck doch bereits gezeigt, was das für welche sind, diese Banker. Fastnachtshütchen auf dem Hohlkopf, Schampus-Gläser in der gierigen Hand, erzählen sie sich albern-zynische Witze und plustern sich auf ob der Geldsummen, die durch ihre Finger rinnen. Doch genau mit dieser klischeebeladensten aller Kapitalisten-Denunziationen hat die Inszenierung in der Folge arg zu kämpfen: Das wissen wir eh schon, dass die Gründung einer Bank schlimmer ist als ein Einbruch in eine Bank. Diese Erkenntnis Brechts ist zu alt, als dass sie einen noch in Rage bringen könnte.

deutschland himbeerreich 560 marlieskrossAngedeutete Arbeitszellen im "Himbeerreich" © Marlies Kross

Was Holetzeck und seine Kapitalistenchargen dadurch verpassen, ist, den wahren Schmerzpunkt zu finden. Denn nicht die Banken, nicht die Börse und auch nicht die Finanzströme sind per se böse – das zynische Spiel beginnt erst, wenn sich die Märkte völlig von den realen Gegenwerten entkoppeln. Von diesem Drama des Kapitals erzählt Andres Veiels dokumentarisches, aus zahllosen Gesprächen mit Bankern entstandenes Stück eine ganze Menge – Holetzecks Inszenierung freilich fast nichts. Weil wir in den Bankern von Anfang an nur die Windbeutel sehen dürfen. Da wird das Publikum doch ein wenig für zu dumm verkauft.

Teil 2: "Alles Gold was glänzt"
Der Abend in der Kammerbühne des Staatstheaters Cottbus heißt jedoch nicht "Das Himbeerreich", sondern "Deutschland. Wunder und Wunden", denn Holetzeck lässt es bei Veiels Finanzstück nicht bewenden – glücklicherweise! Nach der Pause schließt sich die Komödie "Alles Gold was glänzt" von Mario Salazar an, und nun wird ein ganz anderer Ton angeschlagen: Die Milliarden der Banker sind längst versenkt, auf den Straßen tobt ein von Occupy-Anarchisten entfachter Aufstand – doch im Plattenbau (dessen da noch camouflierte Fassade schon im ersten Teil als – naturgemäß abschüssige – Spielfläche diente) sitzt die prekäre Familie Neumann und sieht fern. Gezwungenermaßen schauen sich die Neumanns auch die Nachrichten vom Aufstand an – den sie auch sehen könnten, wenn sie zum Fenster hinausschauten. Der Aufstand freilich nervt, denn eigentlich will man doch die Spielshow "Alles Gold was glänzt" gucken, in der eine andere prekäre Familie mit einem Löwen kämpft, um den Hauptgewinn zu ergattern: Arbeitsplätze.

deutschland allesgold 560 marlieskrossDer Aufstand nervt! "Alles Gold was glänzt" © Marlies Kross

Mag man auch über den stabreimenden Gesamttitel "Wunder und Wunden" ins Grübeln kommen – die Kombination des "Himbeerreichs" mit Salazars Stück erscheint auf den zweiten Blick durchaus sinnfällig. Zeigt sich bei Veiel, wie die Banker – eine abgehobene Finanzkaste in luftigen Bürotürmen – die realen Folgen ihres Handelns verdrängen, ist die Verdrängung der eigenen Realität in der Familie Neumann – der sich die Gesellschaft eher aus der entgegengesetzten, aus der Froschperspektive erschließt – zur conditio sine qua non ihrer Existenz geworden. Fernseher, Puzzle, Gameboy und die Münz- und Ordenssammlung des ehemaligen NVA-Obersten ersetzen die Auseinandersetzung mit dem Draußen und dem immer weiter fortschreitenden sozialen Abstieg.

Familie Neumann ist nicht wütend
Was Salazar da geschrieben hat, ist eine rasante, enorm theaterwirksame Farce, in der die Pointen nur so prasseln, und es ist eine Typenkomödie, in der es nicht unbedingt auf die ganz feinen Zwischentöne ankommt. Und genau so – mit präzise herausgearbeitetem Dialogwitz und hochgehaltenem Tempo – lässt Holetzeck "Alles Gold was glänzt" auch spielen. Es sind Theatertiere, die da aufeinander losgelassen werden: Sigrun Fischer als resolut nagelfeilende und ebenso resolut ihre Untätigkeit verwaltende Asi-Mutter, deren Leggings so golden glänzen wie es der Stücktitel verspricht; Thomas Harms als kleinstbürgerlich hilfloser Vater Neumann, der ein Jahr lang seine Arbeitslosigkeit vor der Familie verbergen kann – ohne auch nur aus der Wohnung zu gehen; Lucie Thiede als flippige Tochter Marianne; Michael Becker als Sarkasmen knatternder Ex-Oberst und Oliver Breite als Nachbar Wiese, der mit ein paar Papierschnipseln, einem Föhn und einem überaus treuherzigen Gesicht die schönste Schnee-Atmo zu erzeugen weiß.

Irgendwann fällt dann allerdings auch dieser Satz des Obersten Neumann, der plötzlich wie ein Echo auf die "Warum"-Frage aus dem "Himbeerreich" klingt: "Wieso macht ihr keine Revolution?" Ja, wieso eigentlich nicht? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil Familie Neumann gar nicht wütend ist. Weil sich Familie Neumann für dumm verkaufen lässt. Merkwürdig nur, dass Mario Holetzeck im ersten Teil des Abends uns Zuschauern die Rolle der Familie Neumann zugewiesen hat.

Deutschland – Wunder und Wunden
Ein Schauspielabend mit den Stücken "Das Himbeerreich" von Andres Veiel und "Alles Gold was glänzt" von Mario Salazar
Regie: Mario Holetzeck, Ausstattung: Matthias Rümmler, Video: Steffen Cieplik, Dramaturgie: Sophia Lungwitz.

Das Himbeerreich
Mit: Ariadne Pabst, Amadeus Gollner, Kai Börner, Jochen Paletschek, Michael Becker.

Alles Gold was glänzt
Mit: Sigrun Fischer, Thomas Harms, Lucie Tiede, Michael von Bennigsen, Micahel Becker, Oliver Breite, Rahul Chakraborty, Jonas Hartmann.

Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-cottbus.de



Kritikenrundschau

Starke Schauspieler im zeitkritischen Bankenstück von Andres Veiel "Das Himbeerreich" hat Uwe Stiehler von der Märkischen Oderzeitung (24.11.2014) gesehen, mit einem furiosen Schluss von Schauspieler Amadeus Gollner, der nach allen Krisenstatistiken "WARUM WIRD DA KEINER WÜTEND?" rufe. "Man verkriecht sich in die Pause, als wäre man von Gollner geohrfeigt worden." Auf diese "Denkaufgabe" folge "Mario Salazars dadaistische Vision" in seinem Stück "Alles Gold was glänzt", dem der Kritiker deutlich weniger abgewinnen kann: "Wie diese Familie ins Chaos und jeder in sein Paralleluniversum abdriftet, wäre ein zackiger Lauf, wenn Mario Salazar nicht zwischenrein seine verkrampft gutmenschelnden Afghanistanbezüge eingebaut hätte. Als ob er seiner eigenen Surrealität misstraut."

Holetzeck inszeniere mit den beiden Stücken "einen klaren Kontrast: hier die bösen gerissenen Banker, dort die blöden, zerrissenen Bürger", so schreibt Rafael Barth in der Sächsischen Zeitung (24.11.2014). Man sehe darin eine "plakative Zuspitzung gesellschaftlicher Verhältnisse", wobei der Abend "die Klischees" auf "sehr unterhaltsame Art" bestätige. Der Veiel-Text sei "so zurechtgestutzt, dass ein guter Teil der Sprachwucht und psychologische Finessen draufgehen". Mit Salazar werde eine "saftige Satire" geboten.

Mit "starken Schauspielern" gelinge es, dem Veiel-Stück "seine erstickende Nüchternheit zu nehmen, mit der die Uraufführung das Publikum einschläferte", berichtet Hartmut Krug in der Lausitzer Rundschau (24.11.2014). Die Banker erschienen hier als "kaspernd selbstbesoffene, aufgedreht muntere Figuren". Dies sei "durchaus unterhaltsam. Aber wirklich komisch sind diese Knallchargen nicht, nur schrecklich unsympathisch." Über den Salazar-Teil heißt es dann pointiert: "Das Spiel: ein Pointengewitter. Die Figuren: wie aus der Unwirklichkeit der Realität genommen. Die Inszenierung: ein Spaß. Die Schauspieler: wunderbar."

 

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