Stürzende, schiebende, rutschende Körper

von Katrin Ullmann

Hamburg, 22. November 2014. Nasser Sand und schwere Brandung, angriffslustige Lachmöwen und der Rhythmus der Dünung. Da ist ein Gewitter über dem Meer, da fallen Bomben in die See, pfeift der Wind über den Deich: In dem fiktiven Dorf Rugbüll irgendwo in Schleswig-Holstein spielt der großartige und wohl bekannteste Roman des Anfang Oktober verstorbenen Siegfried Lenz: die "Deutschstunde" aus dem Jahre 1968. Der Regisseur Johan Simons, Intendant der Münchner Kammerspiele und außerdem Deich liebender Niederländer, hat den Roman am Hamburger Thalia Theater auf die Bühne gebracht. Ganz ohne Sand, Brandung und Gewitter. Ganz ohne Meer, Wind und Bomben. Nur ein bisschen Möwengeschrei, knarzende Bohlen und Windmühlenschlag sorgen (akustisch) für küstennahe Atmosphäre.

Verklumpte Menschenknäuel im Buchfalz

Der Rest ist Form. Zunächst und vor allem die Bühne, die Bettina Pommer entworfen hat: drei offene Seiten eines auf der Spitze stehenden Quaders. Tatsächlich eine aufgebrochene, weiß lasierte Guckkastenbühne, einem aufgeschlagenen Buch gleich. Eines mit unbeschriebenen Seiten. Ebenso kann man an drei aneinander gehakte Leinwände denken, Leinwände voller "unsichtbarer Bilder".

deutschstunde 560 krafftangerer hDer Guckkasten als aufgeschlagenes Buch: die Bühne von Bettina Pommer © Krafft Angerer

Gleich zu Beginn des Abends entpuppt sich die Schräge allerdings vor allem als Falle, als eine stete Talfahrt für die Figuren. Wohin sich die Protagonisten auch wenden, letztlich landen sie – die Schwerkraft verlangt es – in der Bühnenbildmitte, in der Spalte, im Buchfalz, in der Schlucht. Manchmal sortieren sie sich darin. Legen sich längs, quer oder überkopf. Oftmals jedoch enden sie als Knäuel, werden zum aneinanderhängenden Menschenklumpen. Es sind starke Tableaux Vivants, in denen die sieben Protagonisten – auch wenn sie Lenz-Text sprechen – wie durchchoreografierte Körper wirken. Seltsam statisch, emotionslos und immer wieder aufeinander fallend.

Simons legt den Fokus des großen Nachkriegsromans auf die Familie, auf die (Zwangs)Gemeinschaft, auf das Dorf. Natürlich sind die "Freuden der Pflicht", die den Icherzähler Siggi Jepsen (Jörg Pohl) während einer Strafarbeit die Erinnerungen an seinen pflichtübereifrigen Vater und Polizeiposten Rugbüll (Jens Harzer) denken lassen auch hier der Ausgangspunkt. Doch durch die starke ästhetische Setzung rückt das Nichtentkommen, das (nicht nur) diese dörfliche Gemeinschaft prägt, in den Vordergrund. Der Ansatz ist interessant und auch die Bilder, die auf der abschüssigen Bühne durch die stürzenden, schiebenden und rutschenden Körper immer wieder entstehen. Da sind Menschen einander ausgeliefert, obgleich sie einander verraten und verleumden, anzeigen und misstrauen.

Entfärbter Nachkriegsnaturalismus

Doch Simons liefert kein rein choreografisches Bildertheater. Tatsächlich zeigt er eine recht konventionelle Romanadaption (Fassung: Susanne Meister), in der die zentralen Szenen des Romans so sehr auserzählt werden, dass sich die tatsächlichen zwei Aufführungsstunden bald in gefühlte vier verwandeln. Da darf sich Hilkes Verlobter Addi (Ferdinand Reinsch) über die Schräge zittern, der verlorene Sohn Klaas (Sebastian Zimmler) auf- und wieder abtauchen. Da müssen Söhne kämpfen, ehemalige Freunde die Schräge hochwüten, da werden Verstecke gesucht, Diskussionen geführt, kreative Prozesse beschrieben und Bilder verbrannt. Da trifft die pflichtbewusste polilzeiliche Strenge auf den frechen Spott eines Malers, die väterliche Autorität auf die rebellische Orientierungslosigkeit der heranwachsenden Generation.

Keine Frage, da spielt ein großartiges Ensemble: Jens Harzer, Sebastian Rudolph, Jörg Pohl, Franziska Hartmann, Gabriela Maria Schmeide und Jörg Pohl. Das Niveau ist hoch, auch wenn der äußerst atmosphärische Lenz-Text vor allem zu Beginn recht trocken und introvertiert daherkommt. So fragt man sich bald: Wird das eine anspruchsvoll arrangierte Lesung oder läuft es auf eine blutleere Inszenierung hinaus? Letztlich flackert nur hier und da ein bisschen Formstrenge auf – die sich im Laufe des Abends allzu gern an psychologische Figurenbegründungen verliert und an einen erwartbar entfärbten Nachkriegsnaturalismus (Kostüme: Henriette Müller). Akkurater Seitenscheitel, bis zum Bauchnabel hochgezogene Hosen, munter schwingender Glockenrock, rutschende Kniestrümpfe und ein eingelaufener, vermutlich kratzender, Strickpulli – muss das sein?

Auch wenn es den Abend mancherorts fast leblos macht: Die Ruhe, die Introvertiertheit, die Bedachtsamkeit, die der Inszenierung atmosphärisch innewohnt, wäre reizvoller, wäre da weniger Text- und Situationserklärungsanliegen, wäre da weniger Wunsch nach Sichtbarmachung.

 
Deutschstunde
nach dem Roman von Siegfried Lenz
Regie: Johan Simons, Bühne: Bettina Pommer, Kostüme: Henriette Müller, Musik: Maarten Schumacher, Spielfassung und Dramaturgie: Susanne Meister.
Mit: Franziska Hartmann, Jens Harzer, Jörg Pohl, Sebastian Rudolph, Gabriela Maria Schmeide, Sebastian Zimmler.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Das Thalia Theater ist nicht grundsätzlich so gepflegt (bildungs-)bürgerlich, wie es mit der konventionell-behutsamen Adaption von Siegfried Lenz' Roman 'Deutschstunde' den Anschein erweckt", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (25.11.2014). Die Adaption konzentriere sich ganz auf die Familiengeschichte. "Die Hauptsetzung ist die Bühne von Bettina Pommer, eine Schachtel aus drei Bretterwänden, die schief im Raum hängt." Immer wieder erklimmen die Schauspieler die Wände und gleiten ab, "purzeln herunter, bilden Körperhaufen: in sich selbst Gefangene, in der Dorfgemeinschaft Verstrickte. Das sind so die Bilder. Andere gibt es nicht." Das alles sei sehr fein, zum Abnicken. "Vielleicht ist es das, was an diesem ebenso gut gemachten wie gut gemeinten Abend ein bisschen stört: die wohlfeile Reibungslosigkeit."

Geradezu traumwandlerisch sicher hat Johan Simons "Deutschstunde" aus Sicht von Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.11.2014) "als pure Form und reines Kondensat" inszeniert. "Wie hinausgeworfen in eine schrecklich unwirtliche Welt, in der es nichts als ein paar knappe Vorsprünge gibt, an denen man sich abstützen kann", wirken die Schauspieler auf die Kritikerin im Bühnenbid von Bettina Pommer. Die Pracht der souverän komponierten Aufführung sei von erlesener Kälte – "sie schmerzt, ohne dass sie dem Publikum auf die Pelle rückt. Ästhetisch eigenständig und fern modischer Aktualisierungen lässt Johan Simons den Roman von Siegfried Lenz wie neu erscheinen: als klirrend kluges Theaterstück."

"Irritierend dichterfromm und bauerntheaterhaft" findet Wolfgang Höbel auf Spiegel-Online (24.11.2014) das, was dem Regisseur Simons zu einem Schul- und Lieblingsbuch vieler Deutscher eingefallen ist. Simons präsentiere es als hochkonzentrierte, aber auch fast provozierend biedere Nacherzählung. Die Inszenierung zeigt diesem Kritiker damit "Kunst und Elend eines Schultheaters, in dem keine Fragen offen bleiben. "So schön es ist, einem Ensemble aus großartigen Schauspielern bei ihrer Knochenarbeit zuzusehen, so gratisrichtig und schlicht ist die Lektion, die uns hier erteilt wird. Erst kommt das Kraxeln, dann die Moral."

"Aus dem Epos ist ein Kammerspiel geworden, dem sogar die Kammer ausgetrieben wurde", schreibt Matthias Heine auf Welt-Online (24.11.2014). Der Niederländer Simons, dem (wie Heine schreibt) nachgesagt wird, seine Inszenierungen hätten etwas "Protestantisches" (was auch immer das sein mag), erweist sich aus Sicht dieses Kritikers "als bilderstürmerischer als der ostpreußische Norddeutsche Lenz. Alle 'Atmosphäre' ist abgesogen. Manchem mag diese Deutschstunde deshalb etwas luftleer vorkommen." Johan Simons und Susanne Meister hätten sich ganz auf das Familiendrama konzentriert. In dieser Reduktion werde "Deutschstunde" überraschend zum Spiegelstück eines ganz anderen Romans, den Simons vor ein paar Jahren äußerst erfolgreich in München inszenierte: Hiob von Joseph Roth.

An diesen "schwankenden und fallenden Gestalten auf der Bühne, an dem Kraftaufwand, den sie brauchen, um sich gerade zu machen" zeigt sich für Armgard Seegers vom Hamburger Abendblatt (24.11.2014) "genau das, was nur das Theater kann, nämlich spröde Schilderungen zum Leben zu erwecken, Konflikte sichtbar zu machen." Doch so hinreißend und augenfällig die Form des Abends sei, so kongenial die Dramatisierung und großartig das Ensemble: "Irgendetwas fehlt". Alles bleibe ein bisschen blutleer. "Die 'unsichtbaren Bilder', die der Maler im Stück behauptet zu malen, da er wirkliche Bilder nicht mehr malen darf, die sehen wir nicht. So weit trägt uns die Aufführung nicht."

"Auf der schiefen Ebene des Thalia-Theaters nun sehen wir, wie dieser Täter sich buchstäblich krümmen und verrenken muss", schreibt Wenke Husmann auf Zeit.de (24.11.2014. "Dazu kommen die Monologe und Dialoge, die, weil der Roman sehr dialogarm erzählt ist, meist wörtlich aus Prosapassagen entnommen wurden. Indem die Figuren die anderen zitieren, die sie beobachten, reden sie über sich, als ob sie sich selbst von außen beobachteten, und kommentieren sich gleichzeitig". Die Wirkung ist aus Sicht der Kritikerin großartig, lege das Bühnenstück damit doch den Kern von Lenz' Roman frei: die Suche danach, was eine Identität ausmacht. Am Ende habe man, so Husmann "man vielleicht wieder ein ganz klein wenig mehr verstanden von der großen Frage, warum wir die sind, die wir sind." Und: "Welch tröstliches Denkmal für den im Oktober verstorbenen Schriftsteller."

"Johan Simons gelinge das Kunststück, die epischen Textwelten in ein faszinierendes Bühnenbild zu übersetzen", so Alexander Kohlmann auf DFL Kultur heute (23.11.2014). "Es geht um Macht, die Maler und Vater beide für sich beanspruchen". Der eine, indem er auf eine sklavische Pflichterfüllung poche, der andere, indem er mit seiner Kunst versuche, die Familie des Vaters zu unterwandern. "Wo bleibt während dieses Duells der Blick des sich erinnernden Sohns?" Genau hier kranke die Übertragung des Lenzschen Textgebildes. 

"So viele Zutaten: großes Haus, bekannter Roman, starke Schauspieler aus dem Thalia-Ensemble, aber am Ende reduziert sich das Bild auf eine blass wirkende Zwangsgemeinschaft", resümiert Simone Kaempf in der tageszeitung (26.11.2014) den Abend. Jeder auf der Bühne erfülle, was er für seine Pflicht halte in dieser Familien- und Dorfkonstellation, deren Enge als Quell allen Übels erscheine. "Auf diese These schnurrt Simons die Inszenierung zusammen, verleiht ihr Sprödigkeit, wo er vermutlich Härte wollte."

 

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