Knilch in Unterhosen

von Eva Biringer

Berlin, 22. November 2014. Dieser Tage empört sich die Welt über die sogenannten Pick-up-Artists, Männer, die im Rudel losziehen, um Frauen "klarzumachen." Wenigstens die Mythologie gibt diesen selbsternannten Herzensbrechern Recht. Göttervater Zeus (lateinisch Jupiter) brach in Gestalt eines Schwans oder Stiers den Willen selbst der keuschesten Damen.

Prädestiniertes Tohuwabohu

Ganz so wüst geht es in Kleists "Amphitryon" nicht zu, aber auch hier ist Verführung ein dehnbarer Begriff. Während dessen Abwesenheit verwandelt sich Jupiter in den Feldherren Amphitryon (bei Abwesenheit vergessen: Guntbert Warns), um dessen Ehefrau Alkmene zu verführen. Es folgt eine Liebesnacht, die Regisseurin Katharina Thalbach in bedeutungsschwanger flatternde, nachtblaue Vorhänge übersetzt. Passend zur Trompe-l'œil-artigen Bühne (Momme Röhrbein) mit ihrer erstaunlichen Tiefenillusion und den sparsam eingesetzten, hyperrealistischen Griechenland-Elementen (antiken Säulen, Papp-Akropolis am Horizont).

amphitryon 560 luciejansch uGöttervater Jupiter (Martin Seifert) bezirzt im Amphitryon-Kostüm die junge Alkmene (Laura
Tratnik ) © Lucie Jansch

Bis zum Happy-End – Amphitryon vergibt seiner Frau und freut sich gar über ein Kuckuckskind des Göttervaters – gibt es allerlei Verwirrungen, mal ist Jupiter Amphitryon, dann wieder nicht, erschwerend kommt hinzu, dass sein Götterbote Merkur sich ebenfalls in den Sterblichen Sosias verwandelt.

Ein prädestiniertes Stück Tohuwabohu für das Theaterurgestein Katharina Thalbach. Seit 2010 inszeniert sie im Zweijahresrhythmus am Berliner Ensemble. Seit ihrer Kindheit ist Thalbach dem Haus am Schiffbauerdamm verbunden, erst als Ziehkind der Brecht-Witwe Helene Weigel, später als Ensemblemitglied. Schon ihre vergangenen Regiearbeiten "Wie es euch gefällt" und Was ihr wollt setzten auf Slapstick ohne Scheu vor politischen Inkorrektheiten. Mit Kleists 1803 entstandenem und 1899 uraufgeführtem Lustspiel "Amphitryon" hat sie sich erneut an eine Verwechslungskomödie gewagt. Kleist nahm seinerzeit eine Komödie Molières zum Ausgangspunkt, die er zunächst nur übersetzte und ihr dann eine ernstere Wendung gab. In Thalbachs Inszenierung ist davon nur mehr der Klamauk geblieben. Keine Metaebene, außer, man mag die identitären Verwirrungen als Kommentar zur Geworfenheit des postmodernen Menschleins lesen.

"Ach", dieser Humor

Von Geworfenheit sind diese guten Bühnenmenschlein weit entfernt. Merkur (Raphael Dwinger) ist ein goldgelockter Glitterboy, immer die Nagelfeile parat, mit der er fremde Hintern traktiert. Sosias (lustig auf Stammtischniveau: Martin Schneider) lallt sich durch seine Existenz als Quartalstrinker. Sosias' Gattin Charis (Anke Engelsmann als derb-patentes Weibsbild) pocht ihrerseits auf den ehelichen Geschlechtsverkehr – ein wahrscheinlich unbeabsichtigter Kommentar zu Kenia, wo Männer gerade ihre emanzipierten Frauen auf Sexentzug setzen. Laura Tratnik stellt sich als Alkmene tapfer dem personifizierten "Ach!" ihrer Rolle, in wechselnden Kostümen (bereitgestellt von Angelika Rieck) und mit einem Hang zur Helene-Fischer-Schmachtigkeit, besonders, wenn sie von Zärtlichkeit singt (ja, es wird viel gesungen an diesem Abend). Helene Fischers Erfolg ist ja ein ganz ähnliches Phänomen wie der deutsche Humor.

amphitryon1 560 luciejansch uDer echte Amphitryon (Guntbert Warns) mit seinem Diener Sosias (Martin Schneider)
© Lucie Jansch

Denn mit was für einer Art Humor gewinnt Thalbach ihr Publikum? Als bekannt vorausgesetzt werden Stereotype des europäischen Auslands: Franzose können das "u" nicht sprechen und lieben ihre Gauloises, in griechischen Tavernen fließt der Wein in Strömen, über allem schwebt diese Bierzelt-Schenkelklopf-Gemütlichkeit. Witze auf sprachlicher Ebene müssen eingängig sein, aber nicht zu eingängig, damit man sie dem Nebensitzer noch mal zuraunen kann. Auf "Alkmene" reimt sich "Migräne" (die sexfaulen Frauen als Ausrede dient, schon klar), auch "Obszöne" und "geistige Hygiene" ist möglich.

Exaltierte Harmlosigkeit

Musik kann nicht schaden, braucht allerdings Wiedererkennungswert und einen Schuss Dilettantismus, weswegen sich die Stimmen von Alkmene und Charis manchmal im Ton vergreifen. Alles in allem überschreitet dieser Humor mit seiner exaltierten Harmlosigkeit niemals die Anstandsgrenze, zumindest merkt es keiner. Wer würde Thalbach Sexismus, Homophobie oder Xenophobie vorwerfen? Wer dem Publikum des Berliner Ensembles eine Sehnsucht nach Boulevard? Der Schlussapplaus jedenfalls gibt Thalbach recht.

Was bleibt, ist das Wundern über die Tapsigkeit dieses Jupiters. Wie ein Herzensbrecher sieht Martin Seifert nicht aus, eher wie ein Knilch in Unterhosen. Vermutlich ist genau diese Zusammengefaltetheit sein Geheimnis. Hinter dem vermeintlich harmlosesten Humor lauern die tiefsten Abgründe. Der Teufel ist ein Eichhörnchen. Der Pick-up-Artist ist ein Schwan.

 

Amphitryon
nach Heinrich von Kleist, Molière und Plautus
Regie und Fassung: Katharina Thalbach, Mitarbeit Regie: Wenka von Mikulicz, Bühne: Momme Röhrbein, Kostüme: Angelika Rieck, Musik: Christoph Israek, Dramaturgie: Dietmar Böck, Musik: Atanas Georgiev, Vladimir Karparov, Marc Alexej Papanastasiou, Thanasis Petsas.
Mit: Anke Engelsmann, Laura Tratnik, Raphael Dwinger, Martin Schneider, Martin Seifert, Felix Tittel, Guntbert Warns.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.berlinerensemble.de

 

Kritikenrundschau

Von einer "total albernen, aber hochkomischen Verwechslungsoperette", in der selbst der Chefgott sich nicht zu schade sei, Sirtaki zu tanzen, spricht Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (24.11.2014). Dabei gehe Katharina Thalbach zwar nicht in die Tiefe, "aber mit hemmungsloser, herzenswarmer Überzeichnung sehr in die komödiantische Breite".

"Warum wird hier eigentlich kein Ouzo ausgeschenkt? Zu verdauen gibt es jedenfalls eine Menge," stellt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (24.11.2014) fest. Rücksichtslos wird seiner Beobachtung zufolge "der Haufenreim aufgetürmt". Der Abend sei in theologisch-metaphysischer Hinsicht erwartungsgemäß wenig durchziseliert, lasse sich aber gut aushalten. Seidler will besonders den "Reichtum an Verdutzungs- und Begriffsstutzigkeitsgesichtern" gewürdigt wissen, "die dem wackeren Guntbert Warns als Amphitryon, aber auch seinen Kollegen als verhohnepiepelte Menschlein zur Verfügung stehen. Was den Einsatz des Kiefergelenks beim Mundaufreißen anbetrifft, werden im Berliner Ensemble Maßstäbe gesetzt. Aber es gibt auch Szenen, die zärtliche Menschenkenntnis ahnen lassen."

Im Berliner Tagesspiegel (24.11.2014) wirft Christine Wahl die Frage auf, "ob wir uns wirklich im (Inszenierungs)-Jahr 2014 befinden. Es habe ja seine Vorteile, Heinrich von Kleists Identitätskrisendrama 'Amphitryon' als vorweihnachtliche Schenkelklopfer-Posse für die ganze Familie zu inszenieren. Doch selten hatte die Kritikerin "im Theater dieses extrem entlastende Gefühl, dass das Bühnengeschehen wirklich so gar nichts mit einem selbst zu tun hat – was ja angesichts der virulenten zeitgenössischen Ich-Problematik, die im Stück verhandelt wird, ein überhaupt nicht hoch genug zu schätzendes Verdienst ist!" Für die"zentrale Sexszene zwischen Jupiter und Alkmene, in deren Verlauf Herkules gezeugt wird", hänge dann "ein familienfreundlicher Vorhang mit porentief reiner Satin-Anmutung bereit."

Katharina Thalbach setze den Stoff "mit präziser Klarheit und gekonnter Komik in Szene, unparteiisch vergnügt der Wahrheit der Körper wie der Herzen folgend", lobt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.11.2014). "Während sich im Lauf der spielerischen Zeit alle fragen, wer sie denn eigentlich sind, blöken von der thebanischen Agora her ironisch gelassen die Schafe – mit Recht vermutlich bis heute."

Geradezu entsetzt klingt Mounia Meibog in der Süddeutschen Zeitung (26.11.2014), die "eine Mischung aus Kasperletheater, Schlagerparade und Mario-Barth-Show" erlebt hat mit "Witzchen, die konservativer wirken als die Familienpolitik der CSU". Die Schauspieler ließen keinerlei Ironie erkennen und vollführten boulevardeske Kunststückchen. "Klar, auch bei Molière und, abgeschwächt, bei Kleist geht es derb zu. Aber in den Texten steckt noch viel mehr" – etwa die Infragestellung der Weltordnung. "Nichts davon ist hier zu sehen. Im Gegenteil: Die schlüpfrigen Witze sind bei näherem Hinsehen erstaunlich verklemmt und reaktionär. Man lacht über jede Abweichung von der Norm – und hofft, dass alles bleibt, wie es war."

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