Das Wunder in der Tonne

von Juliane Voigt

Rostock, 26. November 2014. Ein Mann findet ein Baby in der Mülltonne und bekommt neuen Lebensmut. Ein Weihnachtsmärchen? Klingt fast so: Hans ist verwahrlost bis auf die Knochen, selbstverschuldet hat er Job und Familie verloren, sumpft nun vor sich hin. Bis er in Steven Uhlys Roman "Glückskind" auf das Kind stößt – und sich auf seine Umgebung einlassen, sich helfen lassen muss, um sich zu helfen.

glueckskind2 560 doritgaetjen uNoch herrscht das Verwahrlosungs-Chaos bei Hans (Alexander Wulke) © Dorit GaetjenEin Weihnachtsmärchen also? Nicole Oder, Hausregisseurin unter Sewan Latchinian am Volkstheater Rostock, hat es nicht so weit kommen lassen. Während gleichzeitig im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Michael Verhoevens Verfilmung mit Herbert Knaupp jede Dreckkruste hyperrealistisch feiert, braucht Alexander Wulke wenig, um in seiner Wohnung herumzugammeln. Bald richtet sich die Aufmerksamkeit ohnehin auf Sabrina Frank in der Raummitte, die an zwei Seiten vom Publikum eingegrenzt wird. Sie bringt ein offensichtlich ungewolltes Kind zur Welt. Geschickt knüllt Frank den Pullover in eine Bauchtasche, schreit dabei selbst wie ein Baby, unablässig. Als sie im nächsten Moment mit einem Kinderreim Brausepulvertüten abzählt, ist klar, dass etwas Schreckliches mit dem Kind passiert ist. Sie habe es einfach nicht mehr ausgehalten, sagt die biologische Mutter später. Als Tochter einer Mutter, die nur Mutter spielte und schon zwei Kinder hatte. Mehr kann sie nicht.

Felicia, die Glückliche

Und dann findet Hans es. Der die Mülltonne öffnet und das Bündel erst einmal für eine Puppe hält. Die Bühne ist nur der Raum selbst. Es gibt da eine Stufe am Rand und ein paar leere Milchpappen, aber im Zentrum steht jetzt die Mülltonne, an der Hans mit Schaudern feststellt, dass er ein lebendes Baby vor sich hat. Beeindruckend, wie Wulke den Deckel zufallen lässt, weggeht, erstarrt, wieder zurückgeht, sich nicht traut, das Bündel herauszuheben und stattdessen die Mülltonne hin und her rollt, sie als Kinderwagen zweckentfremdet. Von nun an hält man den Pullover, den er da endlich herausholt, für ein lebendes Wesen.

glueckskind1 560 doritgaetjen uDa hat Hans das Leben wieder im Griff: Alexander Wulke und Sabrina Frank (als Frau Tarsi)
© Dorit Gaetjen

Hans nennt das Mädchen Felicia, hat vor, sie heimlich alleine großzuziehen. Allerdings gibt es bald Mitwisser. Dem Ziehvater bleibt nichts anderes übrig, als sich helfen zu lassen, mit anderen gemeinsame Sache zu machen, ganz gegen seine Gewohnheit. Er räumt seine Wohnung auf wie in einer Pausen-Nummer beim Fernsehballett und füllt endlich den Hartz-IV-Antrag aus. Natürlich kann er das Kind nicht auf Dauer vor der Welt verbergen, zumal nach ihm gesucht wird, der leiblichen Mutter Gefängnis droht und nur Hans die Sache aufklären kann. Kein Happy End, aber ein berührendes.

Überdimensionaler Kinderblick

Während sich Wulke vom verwahrlosten Absteiger zum Mustergroßvater wandelt, schlüpft Sabrina Frank mit gleichbleibender Intensität in all die übrigen Rollen (und setzt sich zwischendrin auch noch ans Klavier!), ist die überforderte Mutter ebenso wie die iranische Migrantin Frau Tarsi, humpelt als Lotto-Laden-Besitzer herum, spannt als bayrischer Kripo-Kommissar den Tatort ab. Sie dringt als Ex-Frau und Mutter von Hans' Kindern, die er schon viele Jahre nicht mehr gesehen hat, in sein Bewusstsein und untersucht als Ärztin das Baby. Gemeinsam winken Frank und Wulke da in eine Kamera wie in einen Kinderwagen. So überdimensional groß wird es an die zugezogene Fensterfront projiziert, dass die Größenverhältnisse zwischen Babywahrnehmung und der von Erwachsenen deutlich werden.

So schön es ist, dem alten Zausel bei seiner Verwandlung zuzusehen – ein Märchen ist das nicht. Bedrückend, dass erst ein Kind im Müll liegen muss, damit der Alte aufwacht und sein verkorkstes Leben in den Griff bekommt. Bei Nicole Oder und ihrem Team wird daraus nicht Sozialkitsch, sondern ein starker, berührender Abend.

 

Glückskind (UA)
nach dem Roman von Steven Uhly
Regie: Nicole Oder, Ausstattung: Anna Lechner, Dramaturgie: Martin Stefke.
Mit: Sabrina Frank,  Alexander Wulke.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.volkstheater-rostock.de

 

Kritikenrundschau

Dass Sabrina Frank in der Inszenierung in der Art einer Low-Budget-Produktion alle Nebenrollen spiele, habe Reize, "weil menschliche Beziehungen jeweils einzeln in den Fokus rücken", so Dietrich Pätzold in der Ostseezeitung (28.11.2014). "Nicht selten aber wirkt es etwas blass, vor allem dann, wenn mehr verbal behauptet als schauspielerisch gestaltet wird." Pätzold lobt die Geschichte, schließt aber mit der Bemerkung: "Man hätte freiwillig mehr Leuchtkraft er spielen können."

Kommentare  
Glückskind, Rostock: beglückend
Ja, stark und berührend - das trifft es auch meiner Meinung. Regie, Darsteller, Stoffwahl, Spielort plus schlichteste Ausstattung, wirklich beglückend. Wie so Vieles am neuen Volkstheater - trotz all der Querelen von außen immer noch.
Glückskind, Rostock: poetisch
Mich hats auch sehr begeistert, noch viel mehr als der Film, war irgendwie poetischer, übersetzter, und dadurch in deer Wirkung existenzieller. danke, Volkstheater. Weiter so.
Glückskind, Rostock: mutlose Romanbearbeitungen
Ich kann selber lesen. Wenn ich ins Theater gehe, erwarte ich, dass Theaterstücke gespielt werden. Fast alle Premieren im Bereich Schauspiel am VTR sind Romanbearbeitungen. Ich empfinde das als mutlos und werde bis auf Weiteres nach Hamburg ausweichen und Berlin.
Glückskind, Rostock: Theaterautoren vermisst
@3: Dass in der Wurstbude VTR Schmalhans Küchenchef ist, muss einen nicht so sehr wundern, bei dem derzeitigen Ausstoß. Wieviele Premieren waren es doch gleich für diese Spielzeit? 55? 58? Auch ich vermisse echte Theaterautoren in Rostock. Wieso muss ich nach Berlin fahren, wenn ich Zeitgenossenschaft sehen will? Ich kann es nicht mehr hören, wie immer wieder Peter Weiss heranzitiert wird, als sei er gerade gestern am Haus gewesen. Gehe ich an unserem Theater vorbei, denke ich oft, dass es mir gar nicht auffallen würde, würde es morgen für immer geschlossen. Da hatte ich mir von der neuen Intendanz mehr versprochen und bin wirklich enttäuscht.
Glückskind, Rostock: Energie- und Erfolgswelle
zu 3. u. 4. (...)
Kein sachlicher Theatergänger kann die absolute Energie - u. Erfolgswelle des Volksttheaters seit drei Monaten übersehen, wenn er ins Theater geht oder auch nur am Volkstheater vorbeigeht. Egal ob mit Dramen oder Romanvorlagen.
Glückskind, Rostock: über die Handlung hinaus
Egal ist 88, #Rostocker! Die Kritik bezieht sich vor allem darauf, dass am Theater Rostock gerade keine Theaterstücke gezeigt werden, sondern Adaptionen irgendwelcher Bücher. Das ist so, als würde man im Fernsehen statt eines Fernsehfilms die Aufzeichnung eines Bühnenspiels zeigen und behaupten, es gehe ja schließlich um die Handlung.
Glückskind, Rostock: Aufguss
Welche Erfolgswelle? Eher Fließbandarbeit. In kürzester Zeit werden unübersichtlich viele Premieren rausgehauen, produziert an wenig Probentagen. Qualität spielt keine Rolle mehr an diesem Haus. Nur noch die Masse zählt. Inhalte? Konzeptionelle Ausrichtung der ersten Spielzeit? Leider Fehlanzeige. Schade! Sehr schade. Und auch nicht verständlich. Zudem die meisten Premieren eigentlich Wiederaufnahmen aus Senftenberg sind. Lauwarmer Aufguss. Kein Risiko. Was will der neue Intendant??? Man kann nur hoffen, dass zumindest er es weiß.
Glückskind, Rostock: Dutzendware
Uns stört es irgendwie doch, dass Rostock sooft mit Fussballkrawall, Stasischweinereien, einer Riesensauerei in Lichtenhagen und irgendwelchen kruden Ideen zum Lohndumping in Verbindung gebracht wird. Es hätte uns riesig gefreut, hätte sich die neue Leitung des VTR mal an ein paar Stoffe herangewagt. Stattdessen Dutzendware, die man auch überall anders als relevant begründen könnte. So wird das jedenfalls nichts mit der Erfolgswelle.
Glückskind, Rostock: Weiss?
@ Stulle Brot: Peter Weiss? Wie denn? Wo denn? Mit Bezug auf welche Inszenierung im Repertoire?
Glückskind, Rostock: Imagewandel
war noch nie so oft im vtr wie letztes vierteljahr, weil auch noch nie soviel interessantes geboten wurde, gerade auch last friday: die uraufführung minnetronic, nach alten mittelalterliedern. war echt super, junges, besonderes Theater, crossover. schon echt erfolgreich, diese trendwende, dieser imagewandel.
wer das nicht sehen will, will nicht sehen.
Glückskind, Rostock: alles supergeil verkauft
Wenn Sie es genau betrachten, dann können Sie schon anhand der Kommentare zu den Meldungen aus Rostock sehen, was in der Hansestadt los ist. Dass nämlich alles als supergeil verkauft werden soll, den Leuten quasi mit dem Eisenhammer in den Kopf geschlagen wird, dass man Theater genauso machen muss, wie man es in Rostock gerade tut. Und dann schauen Sie mal in den Spielplan und versuchen Sie aus dem wahrlich riesenhaften Angebot an Premieren und Uraufführungen herauszufinden, was davon auf den Bereich Schauspiel entfällt und Sie werden feststellen: im Grunde alles! Es ist wie beim Discounter einkaufen oder bei Kik. Alles ist superbillig und massenhaft vorhanden. Es wird rausgeschleudert, dass es nur so kracht. Was natürlich auch eine Kultur ist und gerade in Rostock, einer Stadt auf dem absteigenden Ast, wo die Werften erst immer kleiner wurden und schließlich gar nicht mehr vorhanden sind, die Kräne im Hafen nicht mehr drehen und der Pleiteverein Hansa Rostock, mantraartig als ganz große Hoffnung gefeiert, nun endlich in jene Regionalliga absteigt, in der sich das Volkstheater seit Jahrzehnten befindet. So ist der Hinweis auf Peter Weiss sozusagen so etwas wie ein Rostock-Insider, der immer angeführt wird, wenn es um die Bedeutung des Hauses geht. Vielleicht so ähnlich wie in Bonn, wo gerne auf den großem Botho Strauß verwiesen wird. Nur mit dem Unterschied, dass dort die Geschichte, zumindest was künstlerische Inhalte angeht, dank einer ambitionierten Dramaturgie mit neuen Regisseuren und neuen Autoren tatsächlich weitergeschrieben wird.
Glückskind, Rostock: Folge von Einsparbemühungen
Was in Rostock passiert ist keine regional typische Besonderheit, auch wenn gewisse Ausprägungen tatsächlich bemerkenswerte Dimensionen erreichen, sondern vielmehr ein systemtypisches Phänomen, dass naturgemäß auch Auswirkungen auf die einzelnen Produktionen haben muss. Die obige Kritik gibt das gut wieder. So kann man ein nur rudimentär- oder gar nicht vorhandenes Bühnenbild durchaus als notwendigen Bestandteil einer Inszenierung erkennen. In der Fülle sind diese nicht vorhandenen Räume mitunter nichts anderes als eine logische Folge von Einsparbemühungen. In Rostock sieht halt sehr deutlich, und nicht nur an den Räumen, sondern auch an den Stoffen, dass sich die Leitung des Hauses für ein möglichst billiges Produzieren entschieden hat. Die Kontinuität eines solchen Spielplans wird nicht über die Inhalte definiert, und ihre Weiterschreibung, sondern über die schnellen Wechsel und den damit verbundenen Werbeaufwand. Statt den Abstand der Unabhängigkeit zu wahren, hat das Haus sogenannte Medienpartnerschaften geschlossen. Die Protagonisten aus der Leitungsebene sind regelmäßig in den Regionalmedien vertreten, wo sie gebetsmühlenartig bereits zu Beginn ihrer ersten Spielzeit ihren eigenen Erfolg herunterloben, ohne dass erkennbar wird, wie genau sich dieser Erfolg definiert, und was die Bürger der Stadt Rostock davon haben.
Glückskind, Rostock: nichts Besseres zu tun?
Ich kann das Kritisiere, Schlechtgemache und den Zynismus angesichts der Rostocker Realitäten nicht nachvollziehen. Und so auch nicht unwidersprochen lassen.
Das Volkstheater ist akut bedroht, seit Jahren schon, und schon vor der 1. Premiere des neuen Teams gab es plötzlich die Beschlußvorlage von Land - u. Stadtpolitik bis Januar 15 die Sparte Musiktheater un d Tanz abzuschaffen. Heute soll das die Bürgerschaft entscheiden, es gibt eine knappe Mehrheit in der Bürgerschaft dem nicht zuzustimmen, auch weil die ersten drei Monate der neuen Intendanz eine Ahnung von einem besseren Volkstheater ermöglicht haben, nachtkritik hat über 4 gelungene Premieren berichtet. Alle am VTR kämpfen unter diesen widrigen Bedingungen, für ein schnell neues, vielfältiges Repertoire, gegen die Zeit, gegen den OB, den Kulturminister,und haben duraus este Erfolge vorzuweisen.
Haben wir hier im Forum wirklich nichts besseres zu tun, als das so elitär, so unterkomplex, so negativ wie manche zu betrachten, so wie es gern auch die schließungswütigen Politiker tun?
Glückskind, Rostock: kein leichtes Pflaster
rostock ist für theaterschaffende bestimmt kein leichtes pflaster. gerade deshalb sollte man der neuen intendanz mindestens eine spielzeit geben, bevor bilanz gezogen wird. ganz gleich in welche richtung.
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