Ich bin klein, das Leben ist groß

von Christian Baron

Berlin, 27. November 2014. Gerade noch wirbelten und tanzten sie unter donnernden Drums quer über die Bühne der Berliner Sophiensäle. Da verstummen sie plötzlich. Das Licht wird gedimmt. Auftritt Mascha: "Ich lieg in der Badewanne und singe. Hallihallohallo!" Ihr Blick verdüstert sich. Sichtlich berührt den Kopf gesenkt, kommt sie aus dem Konzept, verhaspelt sich im Text. "Es ist ernst", flüstert jemand aus den Zuschauerreihen. Ein kurzes, kaum wahrnehmbares Nicken, und weiter geht’s. "Es ist ernst! Ich hab einen Herzanfall. Mein Kopf ist schon unter Wasser, aber Mama zieht mich raus und bringt mich ins Krankenhaus."

Nele Winkler braucht wenige Sätze, wenige Gesten, wenig Aufwand, um einen maximalen Effekt zu erzielen. Hier werden nicht etwa die neuesten Regietheater-Einfälle von Tschechows "Drei Schwestern" ausgebreitet, sondern eigene biografische Erlebnisse und persönliche Eindrücke der Spielenden mimetisch rekonstruiert. Die Pointe: Nele Winkler ist eine Schauspielerin mit Down-Syndrom, ebenso wie ihre beiden Bühnenschwestern Juliane Götze und Rita Seredßus. Leben, Leiden und Lieben des Trios mit dieser Behinderung inszeniert Frank Krug, der Souffleur aus dem Publikum, gemeinsam mit dem spielfreudigen Trio frei nach Motiven des russischen Dramatikers. Mit dabei sind auch zwei weitere Mitglieder aus Neles realer Familie.

"Hey, bist du down?"

Das eine, Tammo Winkler, gibt den spielsüchtigen Andrej, der seine Schwestern um ihr Erbe bringt. Das andere ist Neles sowie Tammos Mutter und niemand Geringeres als die große Aktrice Angela Winkler, deren formaler Part jener des Kindermädchens Anfissa ist. Bei Tschechow sehnen sich die auf dem Dorf zunehmend versauernden Mädchen nach einem Ausbrechen aus der bedrückenden Enge und einem Aufbrechen in die große Stadt. Doch eigentlich sind diese starren Rollen ebenso wie sämtliche Handlungsstränge völlig nebensächlich. Wichtiger als ein stringenter Ablauf sind die grundlegende Idee, das erzählte Erleben, die konkrete Performance.Schwestern2 560 MarcSteffenUnger uSie tanzen nach Moskau: Rita Seredßus, Juliane Götze, Nele Winkler
© Marc Steffen Unger

Krugs Inszenierung ist viel optimistischer, heiterer, ja trostvoller als das Drama des berühmten osteuropäischen Literaten. Olga, Mascha und Irina unterhalten sich hier über ihre mentalen Aufs und Abs ("Hey, bist du down?" – "Was, das Syndrom?" – "Nein, schlecht drauf!"), ihre Wünsche und Träume ("Heiraten würde ich so gerne!"), aber auch ihre Ängste und Sorgen ("Bin ich normal oder nicht?"). Am Bühnenrand entlocken fünf Musiker derweil ihren Instrumenten präzise Klänge, die den sequentiellen Szenen einen ganz eigenen, mal berstenden und in den besten Momenten melancholischen Sound verleihen.

Lieder von einsamen Mädchen

Denn ihre glanzvollsten Minuten findet diese Aufführung, wenn die drei Damen im direkten Gespräch ihre tiefsinnigen Gedanken in prägnante Sätze packen. Mitten auf dem Parkett steht ein riesiger roter Container. Darauf prangt in großen Lettern der Schriftzug "Москва" (Moskau). Betreten die Akteurinnen den grell ausgeleuchteten Innenraum, können sie sich ihrer schlechten Stimmung nicht entziehen. Nur außerhalb der Sehnsuchts-Projektion fühlen sie sich frei und kommen immer wieder zu demselben Schluss: Dort, wo Tschechows Schwestern in ihrer Traurigkeit aufhören, da fangen wir erst an! Nicht die Flucht in eine fremde Welt, sondern das Annehmen und das Verändern des Bestehenden treibt uns an! Wir wollen im Hier und Jetzt leben! "Und die Zukunft?", fragt Juliane Götze etwas bedröppelt. Nele Winkler entgegnet herrlich lapidar: "Die kommt morgen!"

Klar, sie sehen Andrej, der fröhlich sein Baby im Kinderwagen spazieren fährt und trauen sich – wohl wissend, dass ihnen dieses Elternglück nicht in gleicher Weise vergönnt sein kann – nur verschämt und dabei auch höchst unbeholfen an das süße kleine Wesen heran, wenn der Vater mal nicht so genau hinguckt. Auch sind sie ständig unglücklich verliebt, was in einer Szene berührend illustriert ist durch Angela Winklers parallel-beiläufig zum herzzerreißenden Hadern der Mädchen gebotene Intonation des Hildegard-Knef-Klassikers "Das Lied vom einsamen Mädchen". Sie ziehen sich aber immer wieder aus emotionalen Tiefs heraus, gemeinsam und durch intensive gegenseitige Aufmerksamkeit, wie sie sich die vorgeblich "Normalen" im kalten Alltag allzu oft nicht mehr erlauben wollen oder können.

Das geht in die Nerven!

So dient Tschechows Stück letztlich nur als Gerüst, um die drei Protagonistinnen behutsam als sozial hochintelligente Menschen zu portraitieren. Manchmal gerät dies (wie es nun mal ein Problem des Inklusionstheaters ist) zwar recht nah an das ungeschützte Begaffen scheinbar Minderbemittelter. Wenn etwa die mit einem unüberhörbaren S-Fehler gehandicapte Nele Winkler ihren "Swestern" mitteilt, sie brauche jetzt erstmal einen "Snaps" und danach kundtut, einen "Swips" zu haben, dann lässt sich nur erahnen, ob die Mimin wirklich weiß, dass das Publikum gerade eher über sie denn mit ihr lacht.

Letztlich aber führt dies nicht an der Erkenntnis vorbei, dass hier ein schlaglichtartiges, durch Worte kaum fassbares Werk entstanden ist, welches in dieser bemerkenswerten Qualität nicht zustande gekommen wäre ohne ein mutiges Aufsprengen jeder narrativen Struktur. Wie sonst hätten sie Eingang finden können in dieses Stück, solch wunderschöne und von den drei Hauptdarstellerinnen höchstselbst ersonnene Sentenzen wie: "Mein Zimmer hat Sehnsucht", "Du gehst mir in die Nerven!" oder der balsamische Leitspruch des Abends: "Ich bin klein, aber das Leben ist groß".

 

Schwestern
frei nach Anton Tschechow
Regie: Frank Krug, Choreografie: Davide Camplani, Bühne und Kostüme: Irina Schicketanz, Musik: Ketan Bhatti.
Mit: Ketan Bhatti, Matthias Engler, Juliane Götze, Hannah Klein, Rita Seredßus, Milian Vogel, Andreas Voss, Angela Winkler, Nele Winkler, Tammo Winkler.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause.

www.sophiensaele.com

 

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