Die Sprache des Lebens

von Andreas Wilink

Düsseldorf, 29. November 2014. Der Volkszorn war echt. Zehn Jahre ist es her, dass Volker Lösch in Dresden Gerhart Hauptmann inszenierte: "Die Weber", die sich nach skandalumwitterter Premiere in "Dresdner Weber" umbenennen mussten. Den Aufstand der schlesischen Weber von 1844 übertönte Lösch mit einem "Chor der Arbeitslosen", die ihre Situation über die Rampe trugen und dies, nach einem von Hauptmanns Bühnenverlag erreichten Verbot, mit Texten von Goethe, Heine, Marx, den Brüdern Grimm taten. Ein rüde lebendiges Polit-Pamphlet aus 33 Stimmen, wütend, wuchtig, schmähend, ohne Rücksicht auf Verluste, weder von Persönlichkeitsrechten noch künstlerischer Subtilität. Die Revolte will keine Zwischentöne und schert sich einen Dreck um die Nuance.

Chor der Pauline Piperkarckas
Im Düsseldorfer Schauspielhaus, wo schon Einar Schleef – ob nun als falsch oder richtig verstandener Lehrmeister Löschs – seine "Salome" in krasse Pathos- und Panik-Pirouetten von höchster Kunstfertigkeit getrieben hatte, inszeniert Lösch nun wiederum Hauptmann. "Nur der Chor ist wahr, das Individuum lügt", zitiert der geniale Form-Fanatiker Schleef in seiner gewaltigen Sound-Theorie "Droge Faust Parsifal". Wahr-Sprecher waren auf Löschs Bühnen unter anderem Migranten, extreme Linke, Kriminelle, Sexarbeiterinnen, kürzlich in Essen Sinti und Roma; in "Die Ratten" bilden den Chor nun entfernte Verwandte des Dienstmädchens Pauline Piperkarcka, die ihr Kind ledig zur Welt bringt und in ihrer Not beinahe ertränkt. Später verliert sie sowohl das Kind als auch das eigene Leben.

Das ist die Hintertreppentragödie bei Hauptmann. Der Dichter zieht eine zweite Ebene ein, gewissermaßen die Beletage – mit Theaterdirektor Hassenreuter und dem Kandidaten Spitta, der bei ihm Schauspielunterricht nimmt und sich auflehnt gegen das klassische – hehre hohle – Ideal seines Lehrers und sich bekennt zur sozialen Relevanz des (Hauptmann-)Naturalismus. Wenn Spitta am Ende, nachdem Hassenreuter ihm carte blanche gegeben hat, auf der leeren Bühne Purzelbaum schlägt mit Christoph-Schlingensief-Wuschelschopf und ein Kind sein Pamphlet vorlesen lässt: "Tötet Hassenreuter, denn Hassenreuter tötet das Theater", öffnet Lösch ironisch gleich mehrere Referenz-Rahmen –  wobei er selbstredend eher Spittas Position vertritt, der mit Parolen von Gegenwärtigkeit, dem Menschen von heute und der Sprache des Lebens revoltiert.

Reality Soap vs. Schauspieler-Emphase
Diese Sprache hören wir dann sechzehnfach: Alleinerziehende Mütter aus Düsseldorf berichten im Chor von Burnout, Allein- und Verlassen-Sein, faulen, flüchtenden, feiernden, abwesenden Vätern, Problemen am Arbeitsplatz, mit der Miete, der Psyche, dem Selbstwertgefühl, mit allem. Da soll was nicht zusammen passen, und wir sollen es merken. Ist auch nicht so schwer. Die Hassenreuter-Popanzerei – falsche Schauspieler-Emphase plus kleine dumme Scherze zur Düsseldorfer Intendanten-Suche – konnte sowieso kein Mensch ernst nehmen.

RattenChor 560 SebastianHoppe uDer Chor sagt, wie es ist. © Sebastian Hoppe

Was aber setzt Spitta (Urs Peter Halter), der Erfahrungs- und Wirklichkeits-Enthusiast dagegen, abgesehen von dem finalen Ausbruch?: eine mit nervöser Handkamera verwackelte Reality-Soap über die John-Tragödie mit Live-Statements der Beteiligten, so richtig schön schlecht gespielt, für die Bühne hingebarmt in prekärem Küchenrealismus mit Grünpflanze, so dass Claudia Hübbecker in der John-Rolle und Anna Kubin als Piperkarcka unter schwarzen Zottelperücken zudem Gelegenheit haben, den feministischen Standpunkt zu beziehen und gegen das Männer-dominierte Theater und den Verschleiß von Schauspielerinnen unter warenfetischistischen Aspekten aufzubegehren. Knallcharge Hassenreuter disqualifiziert derlei sogleich als "pathologisch".

Düsseldorfer Theaterträume
Kein Stück am Stück – vielmehr "Die Ratten" zu Schablonen geschnitten und zu Material geschreddert (Hauptmann-Bühnen-Verlag, aufgepasst!). Keines der Hauptmann-Originale ist von Interesse, während die Theorie, die Lösch sich mit den antagonistischen Prinzipen leistet, zwar dürftig und bescheiden, aber manchmal tatsächlich ganz lustig und komödienhaft ist: Es ist ein Schmuh, wenn zum satirisch aufgekratzten Finale die Hassenreuter-Clique das umbenannte "Burg-Schauspielhaus Düsseldorf" mit Celebrities bespaßen will (Gründgens’ Rekonstruktion des "Faust", Brandauer liest Mephisto – genau das würde dem Publikum hier gefallen). Es ist auch ein Schmuh mit Spitta, der sich ins Doku-Theater fantasiert, in dem Laien die Profis ersetzen und arbeitslos machen.

Und welche Wahrheit bleibt? Der Chor! Nicht aber der brechtisch-epische, strukturalistisch konzipierte, vielstimmig das Ich multiplizierende, der den tödlichen Schluss der John-Tragödie in massiver Attacke in grauen Filz-Kitteln vorträgt und als Frau John mit der Bühnenmaschine untergeht. Sondern nur die Wahrheit des Chors der 16 Mütter, die ihre soziale Misere als "Menschen dritter Klasse" schildern, anklagen, Respekt verlangen, die Politik und jeden von uns fordern, bevor – rhetorisch unüberbietbar – ihre 16 Kinder stumm aufgereiht dastehen und dann der Vorhang sich schließt. Ob das eine Vereinnahmung ist, wie Hassenreuters Versuch, Spittas Radikalität zu integrieren, mag jeder für sich beantworten.
 

Die Ratten
von Gerhart Hauptmann
Fassung: Volker Lösch und Christine Lang
Regie: Volker Lösch, Bühne und Kostüme: Cary Gayler / Jan Müller, Dramaturgie: Christine Lang, Chorleitung: Christoph Jöde.
Mit: Rainer Galke, Claudia Hübbecker, Urs Peter Halter, Anna Kubin, Hanna Werth, Lutz Wessel, Edgar Eckert, Chor der alleinerziehenden Mütter.
Dauer: zwei Stunden, keine Pause

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

Dorothea Marcus schreibt auf der Online-Seite von Deutschlandfunk (30.11.2014): Es scheine, als habe sich Lösch an diesem Abend "vor allem am eigenen Theaterverständnis abgearbeitet", Dokumentartheater trete gegen Schauspielertheater an, das Ensemble surfe durch Spiel- und Inszenierungsstile. Das Problem: "Über alles macht er sich lustig ... nichts wird so erzählt, dass man es noch als Problem erkennen könnte". So blieben die "wahren Theatermomente den realen 16 Düsseldorfer alleinerziehenden Müttern" und ihren Forderungen vorbehalten. Schade, dass auch dieser einzig authentische Moment Züge einer klischeehaften Litanei trage. "Warum kann man nicht mal hören, dass es auch schön sein kann, Kinder zu haben..."? Trotzdem arbeite der Abend "mit den grandiosesten Mitteln" und sei "äußerst unterhaltsam".

Dorothee Krings schreibt auf rp-online, der Website der Rheinischen Post (1.12.2014): Weil es in den "Ratten" um "Frauen geht, die am Muttersein zerbrechen", habe Lösch Frauen auf die Bühne geholt, "die heute mit ihrem Muttersein ringen". Sie holten "die Wirklichkeit ins Theater" und nutzten "eine Chance, die sie sonst nicht haben: gehört zu werden. Und das Publikum ist gebannt." Lösch inszeniere das Stück "in Etappen mit diversen Stilen": wenn plötzlich eine Armee von Mutter Johns auf der Bühne stehe, mache das aus dem Einzelschicksal einen "Systembefund". Immer gehe es um die Frage, "wie Theater wirksam wird". Die Inszenierung sei "überaus vergnüglich", transportiere allerdings selbst "viele Klischees", denn Lösch lasse die Alleinerziehenden eben doch "nur als Opfer auf die Bühne".

Marion Troja schreibt auf wz-online, der Website der Westdeutschen Zeitung (30.11.2014): Es sei ein Vergnügen, wie Lösch "das Spiel im Spiel und damit Hauptmanns Ideen zum Drama zur Diskussion stellt und anschließend vorführt". Einmal stünden die Mütter als Chor vorne an der Rampe und deklamierten ihre Forderungen. "Ein langer Katalog, der einem beim Zuhören schnell zu viel wird." "Gutes Theater" aber könne sich "diesen Auftritt leisten".

"Hier wird ein ernsthaftes Anliegen nicht nur symbolisch von Schauspielern, sondern von den unmittelbar Betroffenen leidenschaftlich vertreten", findet Martin Krumbolz in der Süddeutschen Zeitung (2.12.2014). Die Idee, dokumentarisches Material in einen fiktionalen Stoff einzumontieren, sei nicht neu, aber im Fall der "Ratten" funktioniere die Implantation zündend. Die Inszenierung arbeite "mit raffinierten Spiegelungen, mit Selbstreferenz und sogar mit Selbstparodie: Das Theater des Volker Lösch, kann man sagen, hat seine Kinderkrankheiten überwunden, es reflektiert sich permanent selbst, kalkuliert sein Pathos und verliert dabei sein hehres Anliegen keine Sekunde aus dem Auge."

Die Berichte der Laien "bringen einen authentischen Zug ins klischeeselige Spiel, Alltagserfahrungen und Nöte von Frauen, die im Stich gelassen, betrogen, gedemütigt" werden, konstatiert Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.12.2014). Allerdings bleibe das "an der Oberfläche von Schlagzeilen, die in einen Katalog von Forderungen münden". Weil Lösch aber meine, "noch eins draufsetzen zu müssen", versande "eine Aufführung, die das Schielen nach Gesinnungsapplaus mit politischem Theater verwechselt, in dümmlichem Kabarett".

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