Gestern war schlimm, morgen wird schlimmer

von Michael Bartsch

Dresden, 4. Dezember 2014. Es muss nicht so gewesen sein, Thomas Freyers "mein deutsches deutsches Land" ist kein Dokumentarspiel. Aber nach allem, was durch Recherchen und die Untersuchungsausschüsse bislang bekannt geworden ist, könnte die Geschichte des "Nationalsozialistischen Untergrunds" plausibel so beschrieben werden, wie es die Uraufführung am Donnerstagabend im Kleinen Haus des Dresdner Staatsschauspiels zeigte. Freyer hat sich früher schon sehr konkret mit ostdeutschen Verhältnissen beschäftigt, zuletzt in Dresden mit Das halbe Meer aber auch metaphorisch-utopische Qualitäten gezeigt. Nun wird er ausgesprochen politisch, auf eindringliche, aber nicht agitatorische Weise.

Wie bringt man einen derart komplexen Stoff auf die Bühne? Es gibt drei Zeitebenen. Die historischen Ereignisse sind um acht oder zehn Jahre versetzt worden. "Gestern" meint das Zusammenfinden des Trios in Jena, die beginnende Mordserie spielt im "Heute" von 2014, und "Morgen" fliegen Sarah, Florian und Dominik, wie sie hier heißen, durch einen Verkehrsunfall auf. 27 Rollen hat Freyer erfunden. Das Textbuch ist wie eine Collage angelegt, filmschnittartige Szenen von manchmal nur wenigen Sätzen. Also muss die Regie zu technischen Mitteln greifen. Ohne den Kompass einer permanenten Übertitelung mit Hilfe zweier Bildschirme wäre eine Navigation für das Publikum kaum möglich. Die zahllosen Szenenwechsel gelingen nur dank einer außergewöhnlichen Kollektivleistung. Karoly Risz hat aus Holzfaserplatten ein drehbares Podium gebaut, dessen hohe Rückwand den hektischen Umbauten "Deckung" gibt, ebenso praktisch aber auch als Zimmerrückwand oder Videowand dient.

Krimi-Spannung als Szenenkitt
Den sechs Spielern wird abrupte Wandlungsfähigkeit abverlangt. Sie rennen ständig, und es grenzt an die vierte Dimension, was Ankleider, Maske und das Bühnenpersonal leisten, um sie binnen weniger Sekunden zu verwandeln. Die Szenenwechsel gelingen auch dank der manchmal penetranten, meist aber sinnfälligen "Zwischenaktmusik" von Jörg-Martin Wagner, unter anderem mit orientalischen Verfremdungen des "Liedes der Deutschen". Die rasche Folge stört erstaunlich wenig, eine Krimi-Spannung trägt den gesamten Abend.

mein deutsches3 560 matthias horn uLea Ruckpaul, Matthias Luckey, Jonas Friedrich Leonhardi, Kilian Land © Matthias Horn

Was auf der Strecke bleibt, ist eine Tiefe, die man von einer Dramatisierung des NSU-Stoffes hätte erwarten können. Mögliche Wurzeln der entsetzlichen Taten werden nur angedeutet, familiäre Ursachen dabei noch eher als gesellschaftliche. Das Stück setzt ein, als die Beziehungen der drei zu den Eltern, ja zum gesamten bürgerlichen Milieu bereits zerrüttet sind. Der Totalfrust gegenüber dem "Scheiß" führt zur Selbstisolation, in der Konsequenz zum Mord, wenn Demos und Reden beim Heimatschutz nicht mehr genügen. Gruppendynamische Rangkämpfe, das Selbstaufschaukeln der Gewalt sind hingegen gut erfasst.

Pessimistischer Schluss
Thomas Freyer ätzt gegen Innenministerien und Verfassungsschutz, die den Ball flach halten wollen und vertuschen, gegen Vorgesetzte, die allzu eifrige Kriminalisten ausbremsen und die damals als "Dönermorde" bezeichneten Untaten in keinerlei Zusammenhang bringen wollen. Bei Freyer sind es 16 ausländische Studenten, die umgebracht werden.

mein deutsches1 560 matthias horn uKilian Land, Jonas Friedrich Leonhardi, Lea Ruckpaul © Matthias Horn

Zum pessimistischen Schluss gibt es nicht etwa einen Untersuchungsausschuss. Nach dem Unfall, bei dem Florian stirbt, werden die beiden Überlebenden mit neuer Identität zum Untertauchen gedrängt, um das Politikum endgültig "verschwinden zu lassen". Wenn dann die investigative Journalistin bestochen wird und sich Terrorist Florian auf offener Bühne in Kanzlerkandidat Nöde verwandelt, tragen Freyer und Köhler noch einmal dick auf – in einem Stück, über das angesichts der "Pegida"-Demonstrationen in Dresden schon vor Premiere geredet wurde und das allein wegen seiner inhaltlichen Relevanz gute Chancen haben dürfte, in den großen Saal des Kleinen Hauses umzuziehen.

mein deutsches deutsches Land
von Thomas Freyer
Uraufführung
Regie: Tilmann Köhler, Bühne: Karoly Risz, Kostüm: Barbara Drosihn, Licht: Andreas Barkleit, Dramaturgie: Robert Koall.
Mit: Lea Ruckpaul, Ina Piontek, Thomas Braungardt, Kilian Land, Jonas Friedrich Leonhardi, Matthias Luckey.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Gerade erst waren wir im Dresdner Staatsschauspiel zur Premiere von Linus Tunströms Faust I-Inszenierung, die nicht nur uns begeisterte.

 

Kritikenrundschau

In der Süddeutschen Zeitung (9.12.2014) schreibt Christine Dössel, das "mutige" Drama sei der achtbare Versuch, das, was gute Serien in den USA oder Skandinavien machen, "auch mal im Theater zu probieren, mit all den nötigen Ermittlern, Spannungsbögen, Cuts und Cliffhangern". Der "erstaunlich gut funktionierende Theaterabend" habe Drive, das Timing stimme und es komme tatsächlich "so etwas wie Krimispannung" auf. Der versiert spielerische Umgang mit Theatermitteln sei hervorzuheben. Die Geschichte "mag nach starkem Thriller-Tobak schmecken. Aber ziemlich unglaublich ist auch die Realität."

In der Sächsischen Zeitung (6.12.2014) schreibt Johanna Lemke, Freyer und Köhler umgingen geschickt die Situation, als "ostdeutsche Erklärer" für die Entstehung von Rechtsradikalismus herhalten zu müssen. Die "radikal gemutmaßte Auseinandersetzung mit dem NSU" mit ihren politischen Verstrickungen würde wie ein schlechter "Tatort"-Plot klingen, "wenn sie durch die Erfahrung mit dem NSU nicht so denkbar geworden wäre".

"Sehr schön, wie die fabelhaften Schauspieler viele Situationen nur spielerisch andeuten, – und wie Regisseur Tilman Köhler den unendlich vielen kleinen Textszenen szenisches Leben einzuhauchen versteht", so Hartmut Krug auf Deutschlandfunk in der Sendung "Kultur Heute" (5.12.2014). Allerdings stelle sich durch die ewige Wiederkehr des Drehbühneneffekts eine leichte Monotonie her, außerdem brauche es Übertitel zur Figuren-Orientierung. "Doch wie der Autor das leider allzu bekannte erzählt und bitter weiterdenkt, und wie die sechs Darsteller sich durch Rollen und Text kämpfen, das ergibt einen beeindruckenden Theaterabend."

Michael Laages kann dem Abend auf MDR Figaro (5.12.2014) nichts abgewinnen. Die "Technik des Schreibens des Stückes" funktioniere überhaupt nicht, da durch die Kürze der Szenen alles aus dem Tempo, aus dem Gleichgewicht gerate. "Außerdem ist die Sprache, die so ein bisschen dokumentarisch klingen soll, weit unterhalb des Niveaus, das Thomas Freyer normalerweise schreibt." Regisseur Köhler scheitere gemeinsam mit dem Autor, inszeniere  überambitioniert. Es gebe keinen Erkenntnisgewinn an Fakten, der Abend sei der bisher schlechteste in der Auseinandersetzung mit dem NSU.

 
Kommentare  
mein deutsches deutsches Land, Dresden: Kritikenrundschau
Gibt es noch mehr Kritiken zu dem neuen Freyer-Stück?
Habe im Netz nur das gefunden:
http://www.deutschlandfunk.de/ein-theaterstueck-zum-nsu-mein-deutsches-deutsches-land.691.de.html?dram:article_id=305388

(Gibt es, sind jetzt nachgetragen!
Beste Grüße, mw)
mein deutsches deutsches Land, Gastspiel Berlin: an die Wand gekracht
Dass das Ganze an eine komplexe Krimidramaturgie erinnert, hilft wenig. Zu klar ist das Bild von Beginn an, zu sehr bestätigt jede Szene das vorangehende. Der Mischung aus krude-simplistischem Text, realistischer Darstellung bei völligem Verzicht auf Figurenzeichnung, hektischer, nummernrevueartiger Szenenfolge sowie selbstverliebter und zugleich inkonsequenter inszenatorischer Virtuosität gelingt es, den Abend so krachend an die Wand zu fahren, dass es weh tut. Noch schlimmer: Seine küchenpsychologische Schlichtheit und erschreckend überhebliche Gewissheit machen es dem Zuschauer viel zu einfach sich zurückzulehnen und die schön einfachen Antworten zu konsumieren, ohne groß nachdenken zu müssen. Dass es hier um Menschen geht, die zugunsten einer Ideologie ermordet werden, dass hier eine riesige Leerstelle erzeugt wird, die uns alle angeht (Jelinek macht das eindrucksvoll spürbar), spielt hier keine Rolle, die Opfer sind ohnehin nur argumentative Mittel zum Zweck (besonders irritierend die Mordszene, an deren ende der Täter sich ins Opfer verwandelt). Dass die sechs Darsteller mit ihrer Handlungsfähigkeit beeindrucken, das Tempo hochhalten und aus dem Text wenigstens so etwas wie Charakterisierungsandeutungen herauskitzeln, ist ein schwacher Trost an einem Abend, der es sich – und das gilt für den Autor wie den Regisseur – viel zu einfach macht und der sich über weite Strecken viel zu sehr für sich selbst interessiert.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/06/18/eine-welt-aus-sperrholz/
mein deutsches deutsches Land, Gastspiel Berlin: Thema hat mehr Tiefe verdient
@Sascha Krieger: eine gute Kritik, danke. So weiß ich dann auch, was sich in der zweiten Hälfte abgespielt hat, da ich nach der Pause nicht weitersehen wollte. Zu simpel, zu sehr Vorabendserien-Quark. Das Thema hat mehr Tiefe verdient.
mein deutsches deutsches Land, Gastspiel Berlin: was auffiel
Auch ich war drinnen und es fiel auf, dass
a) der Schlussapplaus richtig gut war!
b) viele DT Darsteller im Publukum saßen einige von ihnen auch nur bis zur Pause)
c) das Stück mehr Tiefe benötigt hätte, weniger Szenen und die immer sehr ähnliche Musik abwechslungsreicher manchmal mehr gewesen wären. Es berührte halt nicht, komisch bei diesem ernsten Thema
d) die Darsteller aber hervorragend waren!
mein deutsches deutsches Land, Gastspiel Berlin: rasant und dick aufgetragen
Auf den Jelinek-Abend folgte das Dresdner Gastspiel mein deutsches deutsches Land des bewährten Duos Thomas Freyer (Text, UdK-Absolvent für szenisches Schreiben) und Tilmann Köhler (Regie, wie bei 5 von 6 Freyer-Uraufführungen).

Knapp drei Stunden lang lassen sie ihre sechs Schauspielerinnen und Schauspieler durch einen rasanten, an die NSU-Mordserie anknüpfenden Krimi über die Drehbühne und durch 29 Rollen hetzen. Kurze, schnell geschnittene Szenen springen zwischen drei Zeitebenen hin und her: dem “Gestern” (ein Trio aus zwei Jungen und einem Mädchen radikalisiert sich), dem “Heute” (Morde an sechzehn ausländischen Studenten) und dem “Morgen” (die wahren Hintergründe werden vertuscht).

Manche Motive sind direkt aus den NSU-Ermittlungen der diversen parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in die Geschichte von Sarah, Dominik und Florian übernommen. Das Grundgerüst eines Trios, das in den Untergrund abtaucht, sowieso; aber auch wesentliche Details wie eine gestohlene Polizeiwaffe. Freyer und Köhler zeichnen das Bild eines tiefverstrickten Verfassungsschutzes und eines Innenministers, die alle Aufklärungsversuche sabotieren. Besonders dick aufgetragen ist der Schluss: am Wahlabend wähnt sich der Innenminister schon am ersehnten Ziel, Kanzler zu werden. Vorher müssen aber dringend eine kritische Journalistin bestochen, Mitwisser aus dem Weg geräumt und die Täter mit neuer Identität ausgestattet werden.

mein deutsches deutsches Land provoziert mit seiner kolportagehaften, grellen Überzeichnung und seinem ausgestreckten Zeigefinger, mit dem er Schuld zuweist. Hier ist in jedem Moment klar, wer die Bösen sind. Der auf der Webseite betonte Anspruch, dieses Stück sei der “Versuch, Wege nachzuzeichnen, die in die Katastrophe führen können. Und es berichtet davon, dass die Mörder keine randständigen Außenseiter sind oder Geisteskranke, sondern dass sie ihren Weg in der Mitte der Gesellschaft begonnen haben” kommt deshalb fast zwangsläufig zu kurz.

Mit ihrer bewussten Schwarz-Weiß-Malerei fordern Freyer und Köhler aber beim Zuschauer immerhin die neugierige Frage heraus: Wie viel Wahrheit steckt in diesem Polit-Krimi? Wie ist es mit dem “Nationalsozialistischen Untergrund” denn nun wirklich gewesen? Was spielte sich z.B. beim Heilbronner Polizistenmord oder im Internet-Café in Kassel wirklich ab? Die Untersuchungsausschüsse mühen sich weiterhin ab, diese Graubereiche auszuloten.

Als Fazit nach den beiden Theaterabenden Das schweigende Mädchen von Jelinek/Simons und mein deutsches deutsches Land von Freyer/Köhler bleibt: das NSU-Thema brennt den Autorinnen und Autoren offensichtlich auf den Nägeln, sie bekommen es aber noch nicht mit einem überzeugenden Zugriff zu fassen.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25237-nsu-schwerpunkt-bei-den-dt-autorentheatertagen-jelineks-das-schweigende-maedchen-mein-deutsches-deutsche-land-und-die-luecke-in-der-koelner-keupstrasse.html

Anmerkungen zu Stefan #4:
a) starker Schlussapplaus und b) viele DT-Ensemble-Mitglieder im Publikum habe ich auch so wahrgenommen. Zum Punkt, dass einige nur bis zur Pause blieben: manche kamen erst im letzten Moment aus der Pause zurück und setzten sich dann schnell auf andere, noch freie Plätze. Es war ja nicht nur der Stuhl von "Dabeigewesen" #3 freigeworden. Vielleicht ist so ein falscher Eindruck entstanden?
mein deutsches deutsches Land, Gastspiel Berlin: Schlussapplaus & Kopfschütteln
@4 Ich habe den Schlussapplaus als sehr müde und deutlich weniger stark wahrgenommen als bei den anderen ATT-Abenden bisher. Da war das Kopfschütteln in Teilen des Publikums vor der Pause z.T. lauter.
mein deutsches deutsches Land, Gastspiel Berlin: mit Getrampel
Bei mir in der Reihe trampelte das Publikum äußerst heftig, die Darsteller mussten auch ziemlich häufig rauskommen (Vorhänge gibt es ja nicht mehr ;-) )

So unterschiedlich sind Wahrnehmungen...

Vielleicht sind 12-15 Plätze nach der Pause nicht mehr besetzt worden, das geht noch meiner Meinung nach.
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