Pension zum vorübergehenden Weltuntergang

von Friederike Felbeck

Castrop-Rauxel, 6. Dezember 2014. Es ist wie in einem Setting von Agatha Christie. Draußen tobt ein Schneesturm, der Verkehr bricht zusammen, die Stromleitungen erzittern unter der Schneelast, die Handynetze kollabieren und im Radio fordert der Sprecher mit Weltuntergangsstimme die Menschen eindringlich auf, zuhause zu bleiben. Für (fast) zwei Tage und zwei Nächte finden sich zwei Handelsvertreter, eine promovierte Unternehmensberaterin und die Pensionswirtin "Guddi" alias Gudrun vom Schnee eingeschlossen in einer Absteige in der westfälischen Pampa wieder.

Die Gemeinschaft aus einem Convenience-Food-Verkäufer und einem Außendienstmitarbeiter für Sicherheitstechnik, die gemeinsam mit ihrer Wirtin zu Beginn ihr "Zwanzigjähriges" feiern, werden in ihrer routinierten Gleichförmigkeit und seligen Schnapsduseligkeit durch die Anwesenheit der berufsmäßig Stellen abbauenden "Heuschrecke" Dr. Julia Faßbender (Julia Gutjahr) wie durch das Unwetter, das sie umgibt, durcheinandergewirbelt. Als Katalysator fungiert der lähmend-besänftigende Stress vorweihnachtlicher Kampf-Stimmung, die durch die ewig gleichen Songs von Chris Rea, George Michael und Bing Crosby in die letzte Pore ihrer Opfer dringt und deren Blick durch batteriebetriebene Miniweihnachtsbäume als Tischdekoration getrübt wird.

Arbeitsplatzsorgen im Schneechaos

"Nicht ganz drei Tage" ist ein Auftragswerk des Westfälischen Landestheaters vom Bochumer Kabarettisten Fritz Eckenga, der für sein Dramendebüt zwei Figuren seiner Soloprogramme – die beiden in direkter Linie von Loriots Staubsauger-, Versicherungs- und Weinvertreter abstammenden Ruhrpott-Originale Bernd Strohmeyer und Dirk Hambacher – in ein tragikomisches Abenteuer um drohende Arbeitslosigkeit, feindliche Übernahmen und Kuckuckskinder verwickelt. Das an Kalauern nicht gerade arme Stück zaubert dabei hinter seiner boulevardesken Maske tiefgreifende, zwischenmenschliche Begegnungen in einer Ausnahmesituation hervor und präsentiert die vier Beteiligten in einer unterhaltsamen wie aufwühlenden Nahaufnahme.

nicht ganz drei tage3 560 volker beushausen xUnter der Jagdtrophäe: die Vertreter (Burghard Braun und Guido Thurk) mit
Unternehmensberaterin Frau Dr. Faßbender (Julia Gutjahr) © Volker Beushausen

In dem gewohnheitsmäßig flachen Bühnenbild, das noch den letzten Winkel des rustikalen Empfangs- und Gastraums der Pension in das Blickfeld der Zuschauer aufklappt und kein Geheimnis zulässt, agieren die Schauspieler, allen voran Burghard Braun als selbstzweiflerischer Handlungsreisender und bis in ihre Eingeweide bedrohte Existenz, in einem Balanceakt aus Sprücheklopfen, Williams Birne-Rausch und uneingestandener Einsamkeit. Eckenga erlaubt seinen Figuren dabei sowohl zärtlich als auch komisch zu sein.

Da ist die zwangsweise emotionale Abgebrühtheit der Karrierefrau (Julia Gutjahr), die von ihrem Vorgesetzten per Standleitung gemobbt wird, und die Weihnachten aussitzt, bis es an ihr ohne Schaden anzurichten vorbeigezogen ist. Da ist der gescheiterte Außendienstler und verhinderte Familienmensch (Burghard Braun), der die Vaterschaft seiner Tochter in Frage stellt, weil sie so – ganz anders als er selbst – begabt und klug ist. Und da ist die verzweifelte Alkoholsucht eines zynischen Vertreters (Guido Thurk), dessen Leben wie das der anderen buchstäblich von Kundenbesuch zu Kundenbesuch immer mehr auf der Strecke zu bleiben droht und der die über Jahre angehäufte Leere mit Frauenanbaggern und Saufen bis das Koma kommt, zu vertuschen sucht.

Schutzpatronin Guddi

Vesna Buljevic als Wirtin "Guddi" ist ihre Schutzpatronin und Mediatorin, das Auge im Schneesturm, die in wechselnden Zwiegesprächen ihren Gästen die Beichte abnimmt und sie wieder überlebensreif macht. Am Ende bleibt sie mit dem ungeöffneten Brief des Labors, das die Vaterschaft Bernd Strohmeyers untersucht hat, zurück. Ihre Gäste sind im Tauwetter wieder ihrer Wege gezogen und in den Trott ihrer alten Leben zurückgekehrt. Allein "Guddi" lüftet endlich das Geheimnis ihres eigenen unehelichen Sohnes, dessen Vater einer der beiden Dauergäste ist.

Eckenga, der sein Stück mit eine "vorübergehende Komödie" untertitelt, lässt das ganze Geflecht manchmal zu sehr in einzelne Nummern zerfallen – die Figuren starten auf einer Rampe zu ihren Pointen und haben es dann schwer in die gemeinsame Handlung zurückzukehren. Aber der Regisseur und Intendant des Westfälischen Landestheaters Ralf Ebeling entlockt dem zunehmend spritzigen Schlagabtausch surreale Momente des Schweigens, die die abgetretene Vertrautheit und Abgestumpftheit der Protagonisten schmerzlich erfahrbar machen.

Das Westfälische Landestheater Castrop-Rauxel schickt wie andere nordrheinwestfälische Landestheater in Neuss, Detmold und Dinslaken seine Inszenierungen auf Reisen und schlägt dabei in Klassenzimmern, Stadthallen, auf Marktplätzen oder der spektakulären Halde Haniel auf. Mit "Nicht ganz drei Tage" von Fritz Eckenga zeigt es, dass es sich dabei nicht nur gefällige, sondern auch ungewöhnliche Stücke zutraut.


Nicht ganz drei Tage
von Fritz Eckenga
Uraufführung
Regie: Ralf Ebeling, Ausstattung: Jeremias Vondrlik, Dramaturgie: Christian Scholze.
Mit: Burghard Braun, Guido Thurk, Vesna Buljevic, Julia Gutjahr.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.westfaelisches-landestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Weißburgunder passt nicht zu Pils, ist ein Deutungsansatz in diesem Stück", schreibt Achim Lettmann im Westfälischen Anzeiger (8.12.2014). Regisseur Ralf Ebeling bringe das Personal in Stellung, das zum Volkstheater Ruhrgebiet zählen könnte. Allerdings: "Wer passt hier eigentlich in das Leben, dem er ausgeliefert ist?" Für dieses kritische Motiv habe Eckenga nicht viel Text. Er gebe seinen Figuren nicht "die Tiefe, die eine gewichtige Tragik braucht". "Sie agieren meist vordergründig."

"Dass Fritz Eckenga pointensatt und bühnenwirksam zu schreiben versteht, beweist er seit Jahrzehnten. Aber ein abendfüllendes Theaterstück, in dem er gar nicht mitspielt – kann das funktionieren? Die kurze Antwort: ja. Die längere: ganz vorzüglich", lobt Harald Ries in der Westfälischen Allgemeinen Zeitung (8.12.2014). Ralf Ebeling inszeniere komödiantische Kabinettstückchen, "Guido Thurk ist fulminant überdreht. Julia Gutjahr meistert die Wandlung zur Fast-Menschlichkeit souverän, Burghard Braun gibt den Strohmeyer eher getragen." Das passe nicht immer zusammen, manchen Szenen würde mehr Tempo gut tun und in anderen könnte der Zuschauer sich erschließen, was sehr direkt ausgesprochen wird. "Am Gesamtbild eines höchst lebendigen Theaterabends, der souverän zwischen Flachwitz und Geistesblitzen, turbulenten Absurditäten und tieferen Gefühlen pendelt, ändert das nichts", so Ries. "Da dürfte gerne noch mehr von Eckenga kommen."

"Es ist ein wunderschönes Stück, das Eckenga hier geschrieben hat, wobei manche Repliken oder Satzenden etwas in der Luft hängen – aber Eckenga ist ja auch nicht Yasmina Reza (Autorin von 'Der Gott des Gemetzels')", meint Christiane Enkeler im Deutschlandradio Fazit (6.12.2014). Das Uraufführungsensemble habe bei der Premiere noch hier und da ein bisschen "gesetzt" aufgetragen und noch nicht ganz den runden Rhythmus gefunden. "Aber das wird sich einschleifen." "Wenn Fritz Eckenga sich entschlösse, das Stück später auch für andere Bühnen freizugeben, wäre es mit seinen Schlagabtauschen, Stimmungswechseln und Figuren sicher für viele Teams eine schöne Herausforderung."

 

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