Besuch der jungen Dame

von Tim Schomacker

Hannover, 7. Dezember 2014.Im Grunde ist diese wortgewaltige Politnummer ein kriminalistisches Kammerspiel. Denn am Ende ist es ein toter Opa, der das Figuren-Quintett zusammenbringt, deren Geschichten zuvor parallel  abliefen. Warum er starb – weil sein Magen den Dosenfisch nicht mehr vertrug oder sein Kreislauf den Anblick der neuen jungen Putzfrau, die wie bestellt in engem Mieder lasziv vor seinem Sessel ans Werk ging, oder schlicht wegen seines hohen Alters – Reue wegen seiner persönlichen Beteiligung an historischen Verbrechen war es gewiss nicht. Und just darum kann keine der fünf Figuren um ihn trauern.

Den toten Opa sieht man nicht. Auch sein Haus entsteht ebenso wie die anderen Räumlichkeiten des Stücks nur aus Erzählung. Regisseur Nick Hartnagel hat Dirk Lauckes 2009 in Osnabrück uraufgeführtem Stück über deutsche Geschichte in deutscher Gegenwart ein ziemlich bedingungsloses Erzähltheaterformat verpasst. Alle fünf Akteure befinden sich durchgehend auf einer schmutzig weiß getünchten schiefen Ebene aus Holzplatten. Einzeln oder in Zweier- und Dreier-Konstellationen treten, rutschen oder laufen sie hervor. Requisiten gibt es kaum. So muss alles erzählt werden.

Überlappende Erzählkreise
Da ist die junge Lydia, um die mit dem nicht gänzlich charmefreien Haudrauf Roy und dem freundlich biederen Jens zwei zutiefst unterschiedliche Männer kreisen. Mit dem einen hätte sie beinahe mal ein Kind gehabt, vom anderen erwartet sie gerade eins. Und da ist die ältere Gitte, die von Lissabon träumt, während sie in einer Blutbank sauber macht. Weil ihre EC-Karte crashte, ist sie nun doch nicht weg. Und muss sich mit Sascha herumschlagen, die eigentlich ihre Urlaubsvertretung hätte sein sollen. Weil Sascha kein Geld hat, weil sie jung ist und als russische Jüdin nach Deutschland kommt, weil sie ihre und ihrer Kinder Papiere verloren hat, nimmt Gitta sich erst ihrer an – und sie dann mit zu ihrem zweiten Job: Leichtbekleidet Reinemachen beim alten Mann. Also jenem Opa, der am Ende des Stücks tot – und dessen Enkelin Lydia ist.

zu jung zu alt1 560 isabel machado rios u Auf der Erzähltheater-Rutsche: Sandro Tajouri, Philippe Goos, Sina Martens.
© Isabel Machado Rios

Hier überlappen sich die Erzählkreise. Während die Gitte-Episode damit endet, wie sie – damals – des alten Mannes Geld nahm, Lebens-Ziel: Lissabon, kehrt die Lydia-Episode zu diesem Todesfall erzählerisch zurück. Denn ihr – heutiger – Lebensgefährte Jens hatte weder von ihrem Großvater etwas gehört noch von ihrer eigenen Vergangenheit in antideutschen autonomen Politkreisen. Geschweige denn von Micha, mit dem sie damals eben jenes Großvater-Geld klauen wollte, mit dem sich dann Gitte aus dem Staub machte.

Schland-Tirade aus dem Dampfdruckkessel
Es steckt jede Menge Handlung in diesem Stück. Doch man wird das Gefühl nicht los, dass es eben der Plot ist, der die ganze Angelegenheit hemmt. Auch wenn Hartnagel in seiner Hannoveraner Fassung bemüht ist, das Spiel (im Sinne von Bühnen-Action) auf ein Mindestmaß zu begrenzen. Denn mehr noch als die diversen deutschen Vergangenheiten hängt den Figuren ihre eigene Figurenhaftigkeit wie ein Klotz am Bein.

Da kann Sandro Tajouri seinem Micha/Roy bis ins gekränkt Paranoide seiner antideutschen Männlichkeit hinein noch so bravourös eine gezielt ambivalente Fassbinderhaftigkeit einimpfen; da kann Susana Fernandes Genebras Gitte noch so sehr mit geradezu erschreckender Präzision zwischen working-class-Solidarität einerseits und hervorberstenden Antisemitismen andererseits hin und herhüpfen; da kann Philippe Goos' Jens noch so sehenswert plötzlich seinen liebnetten Dampfdruckkessel öffnen für die große normalistische Schland!-Tirade – sie alle finden sich eingezwängt in ein Plot-Korsett, das ihnen (den Schauspieler/innen) den großen Wurf verwehrt, weil sie (die Figuren) zu sehr bedient sein wollen. Weniger konkreter Opa wäre wohl mehr Gegenwartsbeobachtung gewesen. Und nicht bloß Gegenwartstheater.

zu jung zu alt zu deutsch
von Dirk Laucke
Regie: Nick Hartnagel, Bühne und Kostüme: Mareike Hantschel, Musikalische Leitung: Martin Engelbach, Dramaturgie: Johannes Kirsten.
Mit: Susanna Fernandes Genebra, Philippe Goos, Karolina Horster, Sina Martens, Sandro Tajouri.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

In der taz (9.12.2014) schreibt Jens Fischer: "Mit geradezu übersprudelnder Energie und dabei sensationeller Spielpräzision konfrontiert das Ensemble die schroff behaupteten Positionen." Der Abend reize ständig zum Widerspruch "wider das sozial erwünschte Sprechen über eine tabuisierte Epoche". Er entledige sich nicht im Verurteilen der Nazi-Gräuel des gemeinsamen Bekenntnisses zu Demokratie und Humanismus, sondern versuche es wach zu halten "fürs moralische Alltagsgeschäft". "So entkommt man der Vergangenheit zwar auch nicht, aber besser mit ihr klar."

 

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