Magazinrundschau Dezember 2014 - Wie zeitgenössisch ist Shakespeare, wie konservativ ist Livestreaming, und was will man eigentlich in Mainz?
… und wer fehlt? Schlingensief!
von Wolfgang Behrens
11. Dezember 2014. Mit den Monatsmagazinen reisen wir diesmal nach Polen und in die Ukraine, aber auch nach Dortmund und Mainz (was nichts mit Jürgen Klopp zu tun hat). Blackfacing und Livestreaming bleiben diskutierte Themen, doch über allem thront Papa Shakespeare – den man aber auch scheiße finden kann.
Die deutsche Bühne
In der Chronik, einer Art fortlaufend geführtem Tagebuch der Deutschen Bühne, notiert die Redakteurin Bettina Weber unter dem Datum 4.10.2014: "Es gibt so Debatten, die laufen unermüdlich fort. Zum Beispiel die überwiegend im Netz geführte Diskussion ums Blackfacing in der deutschen Theaterlandschaft, die durch die heutige Hamburg-Premiere von Johan Simons' 'Die Neger' vor allem auf nachtkritik.de wieder neu entfacht wurde." Bettina Weber sagt, die Diskussion sei "nicht überflüssig, aber ist sie nicht in ihrer Entwicklung eine ziemliche Nabelschau? Oder anders gefragt: Gehen wir eigentlich noch häufig genug auf die Straße, um für unsere Meinung einzustehen (wenn beispielsweise, wie kürzlich in Köln, eine gewaltbereite Allianz aus Hooligans und Rechten durch die Straßen marschiert)?" Und sie zitiert den Digital-Pionier und -Kritiker Jaron Lanier: "Allzu oft geben wir uns dem Rausch eines digital effizienten Hyper-Narzissmus zufrieden." Was mir an dem Argument nicht ganz klar ist: Wessen Nabel wird hier von wem beschaut? Wer sind die Hyper-Narzissten? Wer genau ist das "Wir", von dem Bettina Weber spricht? Und was folgt daraus? Dass die Blackfacing-Debatte auf die Straße zu tragen wäre? Aber genau das haben ja einige Aktivisten von Bühnenwatch schon getan, und das war damals auch nicht allen Recht …
Der Schwerpunkt der Deutschen Bühne widmet sich zum Ende des Jubeljahres (zum 450. Geburtstag, falls man davon ausgeht, dass der Dramatiker Shakespeare der Sohn eines Handschuhmachers aus Stratford war) dem "Zeitgenossen Shakespeare". Der alte Knabe bekommt dabei durchaus sein Fett weg. Kay Voges etwa, Intendant des Schauspiels Dortmund, spricht mit Detlev Baur ausführlich über seine Hamlet-Inszenierung: "Die linearen, narrativen Geschichten bei Shakespeare sind für die digitalen Welten von Hackern und modernen Geheimdiensten zu klein." Zu klein! Holy shit! Man hört schon den kollektiven Aufschrei der Bildungsbürger! "Wir haben deshalb versucht, ein Netzwerk auszubreiten und diese Gleichzeitigkeit einer Komplettüberwachung und zugleich der überbordenden Datennutzung auf die Bühne zu bringen. 'Was ist der Mensch?', fragt Hamlet. Wir haben versucht, dieses Gefühl in einem Netz aus Lügen, Wahrheit, wichtigen und unwichtigen Informationen darzustellen. Da ist die Dramaturgie der Chronologie für mich vergleichsweise unwichtig."
Und der Dramatiker Nis-Momme Stockmann bekennt freimütig: "Ich finde Shakespeare scheiße, weil er mir nichts sagt, und er sagt mir nichts, weil ich ihn nicht verstehe." Er bezweifelt übrigens auch, dass andere Leute außer Übersetzern, Literatur- und Theaterwissenschaftlern ihn verstünden, nur dass diese anderen Leute offenbar andere Schlüsse daraus ziehen. "Was mich zudem an dieser Shakespeare-Sache gründlich nervt: dieser Anspruch, eine hohe Meinung zu Dingen haben zu müssen, über deren Wichtigkeit es einen Konsens gibt, weil sie im Grunde erhaben sind – Goethe, Mauerfall, Weltmeisterschaft 1954, das dämonische Innere des Josef Fritzl. Egal ob Leitkultur oder Subkultur. Links oder rechts, alt oder jung – da stimmen alle mit ein." Stockmann plädiert daher dafür, "entweder die Postmoderne durch Rückentwicklung Shakespeare-freundlicher umzugestalten oder ehrlich sagen zu dürfen, Katze aus dem Sack, Colt auf den Tisch: Shakespeare find ich scheiße."
Theater der Zeit
Beunruhigendes weiß der Dezember-Schwerpunkt von Theater der Zeit vom Theaterland Polen zu berichten, obwohl von dort immer wieder auch auf europäischer Ebene bedeutende Regisseure herkommen (Werkporträts von bzw. Gespräche mit Krzystof Warlikowski und Jan Klata finden sich im Heft). Doch Anna R. Burzyńska (die vor einem Jahr auch auf nachtkritik.de schon einen alarmierenden Theaterbrief veröffentlichte) konstatiert, dass "im letzten Jahrzehnt die Wege der polnischen Gesellschaft und des polnischen Theater immer mehr" auseinandergingen. Die Gesellschaft werde immer konservativer, und den Politikern diene "die Kultur als Sündenbock". Die "extreme Rechte und die Kirche machen mit den Hooligans gemeinsame Sache (…). Die Künstler werden dagegen als eine Bande von Nichtsnutzen und Schmarotzern hingestellt, die einen dekadenten, unmoralischen Lebensstil pflegen und von der Schwulenlobby beherrscht werden."
Burzyńska zählt Fälle von Theaterleuten auf, die sowohl öffentlich als auch anonym massiv unter Druck gesetzt (wie Jan Klata) oder gar aus dem Amt gejagt wurden (wie etwa Ewa Wójciak, langjährige Leiterin der alternativen Theatergruppe Teatr Ósmego Dnia). Der große Regisseur Krystian Lupa hat die Koalition der neuen Theaterfeinde so beschrieben: "Sie suchen nur nach Gelegenheiten, sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt zu fühlen, denn es gibt ihnen einen Anlass aktiv zu werden. (…) Sie sind es, die vor dem Theater zusammenkommen, das ihnen bisher fremd war, um sich verletzt zu fühlen."
In seiner Kolumne "kirschs kontexte" lässt Sebastian Kirsch ein wenig die Luft aus der Debatte um das Livestreaming von Theateraufführungen, die kürzlich von Berlins Kulturstaatssekretär Tim Renner befeuert und jüngst in einer Podiumsdiskussion fortgeführt wurde. Sie sei, so Kirsch, "nichts als die jüngste Auflage eines Streits, der sich bislang noch an jedes Massenmedium geknüpft hat, ein ewiges Hin und Her zwischen Medienexorzisten und -fetischisten. (…) Was die beiden Parteien indes verbindet und sie am Ende zu einer einzigen macht, ist ein und derselbe Glaube an die Trennbarkeit von Sein und Schein, ursprünglichem Ding und sekundärem Abbild. Und dieser Glaube ist noch immer in erzkonservativer Gesinnung verwurzelt gewesen." Kirsch führt den autoritären Theaterbegriff, der in seinen Augen hier am Werk ist, an einem Satz Joachim Lottmanns vor, der "den Vorzug der Bühne vor dem iPad so definierte: '500 bis 800 Leute sitzen in einem klingenden Raum und halten gleichzeitig die Fresse.'" Tolle Sache, so ein Theater, dürfen wir mit Kirsch gemeinsam denken, der indes fortsetzt: "Aber natürlich sind die Fetischisten nicht besser – denn ein Theater, das sich einfach per Stream übertragen lässt, kann man getrost einer Bühnenkultur zuschlagen, die sich spätestens seit dem 18. Jahrhundert hinter der vierten Wand zu verkriechen sucht".
Auf der letzten Seite des Heftes befragt Matthias Dell den Dokumentarfilmer und Regisseur Thomas Heise zu Archivmaterial, das in der Berliner Volksbühne lagert (die ja bekanntlich dieser Tage ihren 100. Geburtstag begeht). Dell schlägt vor, drei Doktoranden mit der Sichtung zu betrauen, was Heise trocken kontert: "Vor allem müsste man jemanden dransetzen, solange Castorf noch da ist." "Wieso?" "Na, was meinen Sie, was nach Castorf passiert? Was hat denn Claus Peymann gemacht, als er ins Berliner Ensemble kam? Alles verkauft. Ich habe Sachen von meiner 'Bau'-Inszenierung aus dem Mülleimer geholt. Nein, was ansteht nach Castorf, ist der feudale Wechsel. Da kommt der neue König." Heise jammert aber ob dieser Geschichtsvergessenheit des Theaters gar nicht groß rum, sondern zitiert einen großartigen Satz des ehemaligen Volksbühnen-Leiters Benno Besson, den dieser anlässlich einer abgespielten Inszenierung äußerte: "Ich finde auch blöde, dass meine Mutter tot ist, aber Theater ist Verschwinden. Das gehört dazu, dass was verschwindet."
Theater heute
Von der Titelseite der Dezember-Ausgabe von Theater heute grüßt – trutzig und an dieser Stelle irgendwie ungewohnt – die Sandsteinfassade des Staatstheaters Mainz. Peter Michalzik hat an diesem Haus – wo Einar Schleef einst einen schrecklichen und zuletzt ganz traumhaften "Tristan" sah (hier ein lustiges Interview-Video, man schaue ab 0:14:30) – den Start des neuen Intendanten Markus Müller verfolgt. Dieser artikuliert seinen Anspruch, der einen geradezu idealen Baustein für Spielzeithefte an welchem Theater auch immer abgeben könnte: Er möchte das Theater zum "kommunikativen Zentrum der Stadt" machen, "wo die großen Fragen unserer Zeit verhandelt werden." Zwischen "Schinderhannes", "Lenz" und der Stadtteil-Performance "In Arbeit: Neustadt" findet Michalzik dieses Programm folgendermaßen eingelöst: "Das intellektuelle Zentrum der Stadt zeichnet sich mit diesen Aufführungen noch nicht ab. Trotzdem wird deutlich, dass Theater hier tatsächlich gedacht wird. Jedes Projekt ist von einer Idee getragen, es verhält sich zur Stadt und zur aktuellen Lage." Na also, auf nach Mainz! Dort soll es doch tatsächlich Projekte geben, bei denen sich jemand etwas gedacht hat!
Etwas gedacht hat sich sicherlich auch Philipp Ruch vom "Zentrum für politische Schönheit", über dessen aufwändige mediale Inszenierung Erster europäischer Mauerfall es ja allerhand Kontroverses zu lesen gab. Im "Foyer", dem Editorial-Platz von Theater heute, meldet sich nun noch einmal Chefredakteur Franz Wille zu Wort, der auf die "mächtig schwankende Vergleichsebene" von Ruchs Projekt hinweist, "auf der diejenigen, die aus der DDR-Diktatur hinaus wollten, mit denen gleichgesetzt werden, die in die EU hinein wollen". Wille hat sich dann aber auch noch auf der Website des "Zentrums" Ruchs Vita angeschaut und ist dabei auf folgenden "unfreiwillig anrüchigen" Satz gestoßen: "2010 gelang ihm mit dem Mahnmalprojekt 'Die Säulen der Schande' für die Opfer des Genozids von Srebrenica der Durchbruch." Willes Kommentar: "Der Durchbruch. Sowas sagen sonst B-Promis von sich. Mit den Opfern von Srebrenica! Wirklich schade, dass es Christoph Schlingensief nicht mehr gibt." Aber da sage noch jemand, dass Kritik nichts bewirke. Der inkriminierte Satz ist auf der Website mittlerweile umformuliert und lautet nun: "2010 gewann er die Unterstützung der Überlebenden von Srebrenica für das Mahnmalprojekt 'Die Säulen der Schande'."
Und auch Theater heute liefert einen Beitrag zum "Zeitgenossen Shakespeare". Thomas Irmer hat in Kiew beim viertägigen Workshop-Festival "Dokument des Maidan" eine eindrucksvolle "Romeo und Julia"-Vergegenwärtigung aus Lwiw/Lemberg gesehen, von Saschko Brama (Autor), Oleksandr Hontscharuk (Komponist) und Oleksandr Polypenko (Medienkünstler). Die drei adaptierten die Geschichte "mit Roman aus Lemberg und Julia aus einer Stadt im Donbass. Im Vorspann erscheint historisches Filmmaterial zu Erschießungen durch den KGB in der Ukraine neben Stepan Banderas Widerstandskampf gegen die Sowjetunion. Die Kinder baden also den heute ideologisch geformten grausamen Großelternkonflikt aus, treffen und lieben sich auf dem Maidan – eigens gefilmte Szenen der beiden werden im Hintergrund mit dokumentarischen Bildern vom letzten Winter verbunden. Davor stehen zwei Schauspieler, die mit unglaublicher Energie Punkmusik singen und ihre Duelle der in Liebe verworrenen Missverständnisse austragen. Die Gewalt aus den Bildern auf dem Screen, damals und heute, scheint mehr und mehr auf sie überzuspringen in ihrer wachsenden Hilflosigkeit." Sehen Sie, lieber Nis-Momme Stockmann? So einfach, so eindringlich kann Shakespeare sein.
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