Die Tatze des Mafioso

von Martin Krumbholz

Mülheim an der Ruhr, 11. Dezember 2014. Ein Wintermärchen sei eine alte Geschichte, die am Kaminfeuer erzählt wird, während schneidende Winde ums Haus pfeifen, erklärt uns der große Shakespeare-Deuter Harold Bloom und will damit sagen, dass der Erfinder einer solch schaurigen Schnurre alle Freiheiten hat: also beispielsweise auch die, eine Statue sprechen und umgekehrt eine schöne Frau mitten in ihrer Rede zur Mumie erstarren zu lassen. Genau so hat Roberto Ciulli das originelle Spätwerk auch angefasst: als eigentümlich melancholisches Geisterstück.

Am Anfang sieht man Volker Roos als "alten" sizilianischen König Leontes am Kopfende der diagonal über die Bühne gebauten langen Tafel sitzen, ihm schräg gegenüber die Puppe, die einmal seine Frau Hermione war (Dagmar Geppert). Im Original taucht die Totgeglaubte erst am Schluss wieder auf, "16 Jahre später", nachdem der – vermutlich grundlos – eifersüchtige Leontes sie wüst beschimpft, verstoßen und ihr einen tödlichen Schrecken eingejagt hat. (Ihr Kind Perdita wird ausgesetzt, von Schäfern gerettet und trifft auf den Prinzen Florizel, den Sohn ausgerechnet jenes Königs Polixenes, der am Anfang der Anlass für Leontes' maßlose Eifersucht war.)

Unbeirrbare Todesverliebtheit

Der alte Leontes ist folglich der beschämte Leontes: Er wird seines Lebens nicht mehr froh. Sitzt dumpf brütend da, schlürft Rotwein und starrt auf die öde Puppe, die ihm Gesellschaft leisten soll, während ein penetrant fröhlicher Hausdiener (Klaus Herzog) Tomaten für "Spaghetti puttanesca" (nach Hurenart) schnibbelt, die dem schwermütigen König später serviert werden. In seiner Vision taucht der junge Leontes auf, dem Fabio Menéndez eine schön furiose Bockigkeit mitgibt – auch er starrt obsessiv ins Weinglas –, eine völlig unbeirrbare Skandal- und Todesverliebtheit: ein Othello, der sein eigener Jago ist (schon wieder Bloom). Allerdings, wer prägte noch den Satz: "Paranoia bedeutet, dass man alle Fakten hat"? Heiner Müller, William S. Burroughs?

wintermaerchen1 560 joachimschmitz uEin melancholisches Geisterstück in Mülheim @ Joachim SchmitzDer große Shakespeare-Deuter Bloom, der Rankings und Superlative liebt, hat denn auch festgehalten, dass im "Wintermärchen" auf knappstem Raum (dreieinhalb Verse) am häufigsten (sieben Mal) das Wort "nichts" vorkommt, dass der edle Strolch Autolycos zu den drei besten Figuren in Shakespeares Spätwerk zählt und dass das Stück obendrein des Meisters berühmteste Regieanweisung enthält. Die Rolle des singenden, stehlenden Autolycos (Steffen Reuber) hat Ciulli leider arg verkürzt, und was die Regienotiz betrifft – "Er entflieht, von einem Bären verfolgt" –, die zugegebenermaßen so markerschütternd auch wieder nicht ist, so hat die Regie an dieser Stelle verfremdend eingegriffen: Das Opfer stirbt nicht unter der Tatze eines Bären, sondern im brutalen Würgegriff eines Mafioso.

Menschen oder Marionetten?

Die Chiffren "Sizilien"/"Ehre" haben Roberto Ciulli nämlich dazu veranlasst, den Referenzraum "Mafia" kurz zu betreten, aber auch schleunigst wieder zu verlassen; wie man überhaupt bedauern muss, dass diese mit hinreißenden Details ausgestattete Inszenierung eines wahrlich schwierigen Stücks allzu viele Türen aufstößt, ohne die dahinter liegenden Möglichkeiten ernsthaft zu erforschen. Dagmar Geppert zelebriert mit stoischer Selbstverleugnung ihre Püppchen-Posen, Simone Thoma mimt zuerst einen verkrüppelten Prinzen Mamilius und später einen hochnarzisstischen Prinzen Florizel, ein allegorischer Tod darf selbstverständlich nicht fehlen, und am Schluss wird in einem wirklich überflüssigen Kasperletheater das ganze Stück noch mal resümiert (für die, die vergessen haben, vorher in den Schauspielführer zu schauen).

Was Roberto Ciulli – dessen eigenes Spätwerk größten Respekt abnötigt – kürzlich in seiner O’Neill-Inszenierung auf so bewundernswerte Weise gelungen ist, nämlich sich selbst fast zum Verschwinden und die Schauspieler zum Blühen zu bringen, das misslingt hier ganz und gar: Man meint den Maestro die ganze Zeit am Rand der Szene stehen zu sehen, wie er den Spielern zuruft: Mach mal dies, mach mal jenes. Schön, schön! Und noch mal zu Harold Bloom. Sein Shakespeare-Buch hat sich bekanntlich die Aufgabe gestellt, die vielen Figuren zu lesen, als wären es wirklich Menschen. An diesem Abend in Mülheim ist es umgekehrt. Shakespeares Menschen sind Marionetten in der Hand eines Regisseurs.

 

Das Wintermärchen
von William Shakespeare
Aus dem Englischen von Frank Günther
Regie: Roberto Ciulli, Dramaturgie: Helmut Schäfer, Bühne: Gralf-Edzard Habben, Kostüme: Elisabeth Strauß, Musik: Matthias Flake, Licht: Ruzdi Aliji.
Mit: Volker Roos, Klaus Herzog, Peter Kapusta, Fabio Menéndez, Dagmar Geppert, Simone Thoma, Albert Bork, Steffen Reuber, Petra von der Beek, Matthias Flake.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.theater-an-der-ruhr.de

 

Kritikenrundschau

Von einer fantasievollen Kapitulation vor dem Stück spricht Andreas Rossmann in der FAZ (13.11.2014). Roberto Ciulli kommentiere das Drama nur. Als Bearbeiter habe er den Text zur Unkenntlickeit eingestrichen. Als Regisseur verheddere er sich in Verweisen "und verwirft nicht erst das Happy End. Die Fäden der Handlung werden zerschnitten und in Böhmen, wo ein rumänisches (!) Wiegenlied angestimmt wird, weiter verkürzt. Der Regisseur Ciulli aber lässt sein altmeisterliches Können aufblitzen und beweist eine kreative Lust am Einsatz mit Pupen, Masken, Requisiten: Die Szenenfragmente werden atmosphärisch dicht, detailreich und intensiv gespielt, das 'tragikomische Romanzendrama' am Ende als Kindertheater ironisch resümiert."

"Wenn nach dem überzeugenden letzten Bild der Vorhang fällt, bleiben gleichwohl manche Fragen offen", so Wolfgang Platzeck auf dem WAZ-Portal Der Westen (13.12.2014). Bis dahin habe Ciulli dem Stück alles Märchenhafte weitgehend entzogen und Shakespeares pralle Komik etwa in den Hirtenszenen durch schwere, mit Bedeutung aufgeladene Commedia dell'arte-Elemente ersetzt. "Zwar hat er immer wieder kleine, federleicht wirkende Bilder voller Poesie entwickelt, wenn etwa ein rotes Küchentuch reicht, der neugeborenen Perdita glaubhaft Leben einzuhauchen. Doch diese magischen Momente können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die (Tragi)Komödie in die Nähe eines verwirrenden Mafia-Dramas gerückt ist."

Eine ganz eigene Version des "Wintermärchens" habe man in Mülheim entwickelt, so Eva Schäfers im Westfälischen Anzeiger (15.12.2014). Die lange Tafel auf der Bühne biete verstörendes Kopftheater aus der irren und halbwirren Sicht Leontes'. Shakespeares bildstarke Sprache sei von Ciulli und Schäfer radikal verknappt, "sozusagen rasiert, und daraus ein düsteres Theater des Schweigens geformt", das nicht über die Sprache, sondern seine eindringlichen Bilder zum Ende führt.

 

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