Verteidigung der Missionarsstellung – Susanne Lietzow bringt in Graz einen Romanstoff von Wolf Haas auf die Bühne
Kosmologische Welt- und Zeitreise
von Martin Pesl
Graz, 12. Dezember 2014. Kurz nachdem Benjamin Lee Baumgartner seine Frau geheiratet hat, und zwar nur um sie später uncharmant "die Baum" nennen zu können, verabschiedet er sich auf der Heimfahrt schon wieder von ihr: Er wolle noch schnell zum Nullmeridian, wo man gleichzeitig in zwei Zeitzonen stehen könne. "Und dann verschwand er zwischen den Zeitzonen", sagt die Baum.
Stillstehende Theaterzeit
Dass ihm das Spiel mit den Zeiten gefällt, dem Lee, das wundert an dieser Stelle keinen mehr. Wurde er doch gezeugt, weil seine Mutter zu den Hopi-Indianern reiste, die die Zeit angeblich nicht kennen. Außerdem ist er einer, der eloquente Liebesgeständnisse denkt und zur Burgerverkäuferin dann doch nur "Ohne Zwiebel bitte" sagt. Er ist einer, dem es Spaß macht, dass man zwar Unfug, aber nicht Fug reden kann. Eben einer, den Wolf Haas erschaffen hat, der wortverliebte Bestsellerautor, der immer, wenn er gerade keine Brenner-Krimis schreibt, die Unterhaltungsliteratur neu erfindet. Sein Roman "Das Wetter vor 15 Jahren" (2006) ist ein Interview mit Wolf Haas über seinen neuen Roman "Das Wetter vor 15 Jahren".
Verfremdete Menschen in Breitwandbildern © Lupi Spuma
Der 2012 erschienene Roman "Verteidigung der Missionarsstellung" versammelt Fakten, die man kennt, aber selten vertieft – etwa das mit den Hopi und dass viele Indianer Alkoholiker werden, oder: wo das Paisleymuster herkommt (es kommt aus Paisley). Von derlei Wissen genährt ist bei Haas auch das Lieben an sich eine nerdige Spielerei. Zudem stellt sich bald heraus, dass Autor und Hauptfigur beste Freunde sind: Bald werden sie austauschbar, und das Schreiben und Lesen des soeben Geschriebenen und Gelesenen wird selbst zum Thema. Der Titel? Hat nix mit dem Inhalt zu tun, aber Sex sells.
Löst Liebe Seuchen aus?
Als vorweihnachtliches Schmankerl "sellt" Haas gewiss auch am Schauspielhaus Graz, denkt man und erwartet, der Romanadaption als hochtourigem Energiemarathon mit gehetzten Kostüm- und Figurenwechseln zu begegnen. Stattdessen steht die Zeit hier eher still. Alle behalten ihre Paisleyhemden an, setzen höchstens mal indianischen Kopfschmuck auf, und die offenkundige Ironie des Textes wird in keinen überspannten Gänsefüßchen-Schauspielstil übersetzt. Marc Fischer legt seinen Wolf Haas (dem er irritierend ähnlich sieht) sogar geradezu phlegmatisch an.
Abwechselnd mit Jan Gerrit Brüggemann erzählt er, wie sich BLB stets unsterblich verliebte, wo Epidemien ausbrachen: London, 1988, Rinderwahn – Peking, 2006, Vogelgrippe – USA, 2009, Schweinegrippe. Die Frage ist klar: Verliebte er sich wegen der Seuchen, oder löste seine Liebe die Seuchen aus? Charakteristisch im Buch waren seine formale Scherze: seitenlang chinesische Zeichen, Text flieht in die Unendlichkeit, Schreibnotizen sind eingefügt [ZUM BEISPIEL DIESE SCHEISSZEILE HIER. SPÄTER LÖSCHEN, ABER IRGENDWIE INDIREKT VERMITTELN].
Dass sich das meiste davon unmöglich dramatisieren lässt, nehmen Regisseurin Susanne Lietzow und ihr Ensemble gelassen hin. Sie freuen sich stattdessen an Akzenten wie dem nahezu perfekten Amerikanisch von Seyneb Salehs Burgerverkäuferinnen und dem Bayerisch von Hopi-Hippie Evi Kehrstephan, die im Gleichschritt mit Steffi Krautz als doppelte Mutter durch deren Garten stapft. Witzig umgesetzte Ideen, die den Fluss der Geschichte nicht behindern und doch nie wirken, als würden sie nur der narrativen Problemlösung dienen.
Unfug plus Unfug gleich Fug?
Auch das mit dem Stillstand renkt sich langsam ein: Was anfangs ein Timingproblem vermuten ließ, verdichtet sich zu einer wohlkomponierten Etüde, auch dank Gilbert Handlers Westernmusik und Petra Zöpneks Videoarbeit. In ihren Breitwandbilderwelten sind reale Menschen zu Animationen verfremdet, Comic-Hasen hopsen durch, Landschaften entfalten sich. Einmal ist von einem Musiker und Möchtegern-Zigeuner die Rede, und im Video tanzt ausgerechnet der bekannte Jazzer Harri Stojka vor einem hyperrosa Horizont. So kann die Regisseurin ihre eigene Fantasie an der Haas'schen festgeknüpft wie einen Ballon hochflattern lassen. Während jedoch die Haas-Kapriolen den Leser aus Lees kosmologischer Welt- und Zeitreise eher rausgeschleudert haben, holt Lietzow den Zuschauer wieder zurück. Unfug + Unfug = Fug?
Als gegen Ende des Abends konsequenterweise die EHEC-Epidemie 2011 auftaucht (lang ist's her), atmet man auf, weil es Haas erspart geblieben ist, auch noch was mit Ebola zu machen. Susanne Lietzow macht ihm das Weihnachtsgeschenk, seine Geschichte wohlweislich in sicherer Distanz von Aktualisierungen genau an der richtigen Stelle zu lassen: zwischen den Zeitzonen sozusagen.
Verteidigung der Missionarsstellung
von Wolf Haas
Regie und Textfassung: Susanne Lietzow, Bühne und Kostüme: Marie Luise Lichtenthal, Video: Petra Zöpnek, Musik: Gilbert Handler, Dramaturgie: Mona Schwitzer.
Mit: Jan Gerrit Brüggemann, Marc Fischer, Evi Kehrstephan, Steffi Krautz, Seyneb Saleh, im Video: Klaus Hundsbichler, Martina Spitzer, Harri Stojka
Dauer: 1 Stunden 20 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus-graz.com
Susanne Lietzow habe ein kurzweiliges Stück gebaut, urteilt Colette M. Schmidt in Der Standard (14.12.2014). "Das Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion holte Lietzow aus dem Roman elegant auf die Bühne."
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