Auf der Mitte-Couch

von Wolfgang Behrens

Berlin, 12. Dezember 2014. Ein Gesprächsfetzen vom Ende der Pause, aus der Reihe hinter mir: "Es würde mich schon interessieren, wie viel Prozent des Publikums erkennen, dass das da alles Sofas sind auf der Bühne. Und, ja, auch wie viele sich wohl darüber Gedanken machen, was das bedeuten könnte." Hm, denke ich, also ehrlich gesagt: Dass diese kubistische Skulptur von Florian Lösche, die da turmhoch in der Mitte der Drehbühne emporragt, nur aus schwarzen Ledersofas besteht, das haben, glaube ich, alle, wirklich alle mitgekriegt. Aber sollte man sich darüber allzu viele Gedanken machen?

"Was'n jetzt?"

Tut man es, so läuft man Gefahr, die Sofas schnell für die allerplatteste Assoziation zu halten: Ja, ja, Arthur Schnitzler hat sich für Psychoanalyse interessiert und mit Sigmund Freud korrespondiert. Und sieht man davon ab, dass man diesen Sofaturm schön atmosphärisch ausleuchten, dass man auf und in ihm hervorragend herumklettern und -turnen kann – zumal in Schnitzlers Stück ein Berg namens Aignerturm eine gewisse katalytische Wirkung in Liebesdingen ausübt –, davon abgesehen also, brüllt einen der Turm förmlich an: Hier wird eine Gesellschaft auf die Couch gelegt. Womit wir freilich auch schon bei den Meriten von Jette Steckels Inszenierung des "Weiten Landes" am Deutschen Theater wären.

Denn die Gesellschaft, um die es hier geht, ist keine von mental ferngerückten Fin-de-Siècle-Dekadenzlingen, sondern eine ganz und gar heutige. Das Erstaunliche ist: Es bedarf keiner großen Verrenkungen, keiner Gewalt, um Schnitzlers Sprache so klingen zu lassen, als stamme sie aus der Jetztzeit. Ein "Was ist denn?" wird zu "Was'n jetzt?", der liebe "Schatz", den der Mann von Welt vor 100 Jahren irgendwo sitzen hatte, wird zum "Agreement", aus einem "Diener" wird flugs ein "Bote", manche Figuren wechseln vom distinguierten "Sie" bei Schnitzler ins Allerwelts-"Du" – und, schwupp!, findet sich das Wiener Großbürgertum von 1911 als (im Theater so gern vorgeführte) Mittelschicht von Berlin-Mitte im Jahr 2014 wieder.

das weite land 560 arnodeclair hDrei aus einem Starensemble: Ulrich Matthes als Mauer, Anna Drexler als Erna und
Maren Eggert als Genia © Arno Declair

Die Verhältnisse sind ja auch noch immer so. Wenn Alfred Kerr schon 1911 in seiner Uraufführungskritik von der "Aufhebung des geschlechtlichen Alleinbesitzes, die heut in großen Städten so gut wie vollzogen ist", schrieb, so gilt diese für das heutige Heut doch wohl erst recht. Die Beziehungskrisen und -höllen, die aus Seitensprüngen entstehen, scheinen ganz dieselben wie damals, und auch das Sprechen über sie – das Sich-Rechtfertigen und Einander-Ausweichen, der "Jetzt-seien-wir-mal-ehrlich"-Duktus bei gleichzeitigem Verschweigen – ist kaum ein anderes geworden.

Verdrängte Sehnsucht, verdrängtes Begehren, verdrängte Wut

Den Schauspielern im Deutschen Theater bei diesem Sprechen zuzuhören, ist eine Lust. Wie direkt, wie realistisch etwa Felix Goeser und Maren Eggert als das zentrale Paar (der erfolgreiche und höchst promiske, also sozusagen auch sexuell erfolgreiche Industrielle Friedrich Hofreiter und seine attraktive, aber latent frustrierte Frau Genia) oder Ulrich Matthes als der notorische Single-Hausfreund Mauer, wie unmittelbar im Grunde alle Darsteller dieses Groß- und Wahrspieler-Ensembles auf Schnitzlers Sprache zugreifen – wie lässig sie sie im Munde führen, wie sie sich in ihr verhaspeln, als wäre sie tatsächlich aus dem Moment geboren, und wie hart sie dann die aufgestaute Aggression hinter dieser Lässigkeit hervorspritzen lassen – das ist hohe Schule.

Und sie gehen dabei äußerst gestenreich zu Werke – kleine Gesten der Vertrautheit miteinander, des Voreinander-Gehenlassens sind das, deren Überpräsenz eine Art Hyperrealismus erzeugt. Ständig berührt man einander zwanglos, stochert mit den Fingern auf einem der Sofas herum, kehrt Verlegenheiten und Nervosität hervor. Aus der lockeren Privatheit dieses Gestenrepertoires kann dann die verdrängte Sehnsucht, das verdrängte Begehren, die verdrängte Wut – die die Couch, nein: der Sofaturm natürlich irgendwann zutage fördern muss – mit umso größerer körperlicher Heftigkeit hervorbrechen.

Banale Sucht nach Atmosphärischem

Es ist ein Schauspielerfest, das man hier erleben kann, mit durchaus präzise gezeichneten Gegenwartsmenschen. Dass das Ganze zum Ende hin etwas länglich und zäh wird, weil das Duell, auf das das Stück zuläuft, zu diesen Gegenwartsmenschen dann doch nicht mehr recht passen will – geschenkt! Ein bisschen Gemäkel jedoch muss noch sein: Warum nur hat Jette Steckel der Kraft ihrer Darsteller nicht etwas mehr vertraut und darauf verzichtet, ihr Spiel immer wieder mit bedeutungshubernden Musikzuspielungen vom "Tristan"-Vorspiel über Nick Cave bis zu Rufus Wainwrights "Agnus Dei" zu unterbrechen? In dieser Musikauswahl bildet sich weniger das "weite Land der Seele" als vielmehr eine banale Sucht nach Atmosphärischem ab, und in ihrer Beliebigkeit ist sie ungefähr so platt wie der Sofaturm.

 

Das weite Land
von Arthur Schnitzler
Regie: Jette Steckel, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Pauline Hüners, Musik: Mark Badur, Licht: Matthias Vogel, Ton: Matthias Lunow, Martin Person, Dramaturgie: Anika Steinhoff.
Mit: Felix Goeser, Maren Eggert, Ulrich Matthes, Almut Zilcher, Ole Lagerpusch, Bernd Stempel, Simone von Zglinicki, Anna Drexler, Helmut Mooshammer, Katrin Klein (in der Premiere sprang Natali Seelig für die verletzte Katrin Klein ein).
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Im Tagesspiegel (13.12.2014) hält Christine Wahl die tragende Aussage ("'Wir versuchen wohl, Ordnung in uns zu schaffen.' Doch: 'Das Natürliche ist das Chaos.'") für altbekannt. "So fühlen sich die drei Stunden, über die hinweg diese Erkenntnis mehr oder weniger variantenreich illustriert wird, zunehmend länger an." Das finale Duell zwischen Hofreiter und Otto mache die Sache nicht einfacher. "Denn dieser finale Handlungsstrang holpert in einem ansonsten größtenteils plausibel verheutigten Abend umso gestriger daher." An den Schauspielern hat Wahl durchgehend "großen Spaß".

"Aufgesetzt wirkt vieles an diesem seltsam fahl bleibenden Abend – und dadurch: künstlich. Hergestellt. Distanziert", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (15.12.2014). "Stets ist der Regiezugriff zu sehen, gelenkt von der entschiedenen Absicht, das Stück ins Heute zu holen, einen modernen Ton und möglichst karge – also unwienerische – Bilder zu finden für Schnitzlers müde-morbiden Gesellschaftsreigen aus der Belle Époque. Warum dann aber Schnitzler, wenn man eigentlich Strindberg will?" Steckel habe zwar "Top-Schauspieler, die Schnitzlers Sätze sprechen, als seien sie ihnen gerade erst eingefallen." Doch es seien "Figuren, die einen nicht viel angehen."

Die Inszenierung von Jette Steckel biete "ziemlich sensationelles Schauspielertheater mit [Felix] Goeser im Zentrum", dessen gestisches Spiel mit den Händen Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (15.12.2014) ausführlich beschreibt. Goeser nehme "Hofreiter nichts von der Selbstgerechtigkeit und Rücksichtslosigkeit, aber diesem inakzeptablen Verhalten, mit dem er alle, die ihm in die Quere kommen, bis zur seelischen Vernichtung kränkt, wohnt eine Ehrlichkeit und eine Unbedingtheit inne, dass einem zwischendurch die bürgerlichen Tugenden wie Höflichkeit, Treue und Kompromissbereitschaft peinlich sind und verlogen vorkommen." Auch die anderen im Ensemble seien "große Figurenbeglaubiger". Seidler vermerkt aber auch "Verdeutlichungs- und Aufblasungstechniken", die "kalkuliert" wirkten, "als ginge es darum, eine Lücke zu kaschieren".

Gerhard Stadelmaier greift in der Frankfurter Allgemeinen (15.12.2014) zu einem seiner Standardmittel und vermerkt, dass der Name der "jungen Mode-Regisseurin … hier nichts zur Sache" tue und kanzelt ihre Inszenierung in einer knappen Spalte ab: Wenn Arthur Schnitzler "eine Gesellschaft zwischen sinnlosem Sterben, lustleerem Lieben und seelenlosem Leben in einem wunderleicht durchdringenden Gescheitheitsdrama ins gespenstisch Haltlose treiben lässt (ein großes bürgerliches Welttrauerspiel) – wieso machen die in Berlin mit ihrem 'Okay!'-Gelalle und ihrem Duzfuß-Schmusi-Kusi-Gehampel inklusive Ehegatten-Petting (sie Hystero-Zicke, er Macho-Glatzkopf) ein mieses, aufgehampelt kleines, weltlos dümmliches Fernsehseifenopernspiel daraus (…)?"

 

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