Denn sie wissen schon, was sie tun

Berlin, 16. Dezember 2014. Als wäre es gestern gewesen: Ich betrat den Prater der Volksbühne – bisher hatte ich nur ein paar Gerüchte über die Arbeiten des Regisseurs aufgeschnappt –, und im Zuschauerraum spürte ich sofort eine fast einschüchternde Entschlossenheit um mich herum. Der Einlass hatte sich wegen Nachbesserungen an der Bühnensicherheit um eine Stunde verzögert, und nun trugen die Totenkopf-Masken hinter der monströs-schwarzen Bühnenwand und der kriegerische Soundtrack ihr übriges zu dieser Atmosphäre bei, in der man sich – ganz real – nicht sicher fühlte. Schon bald quietschte im absoluten Dunkel der Plastikvorhang auf, und mit einem plötzlichen Lichtblitz offenbarte sich für einen Sekundenbruchteil die ganze gemalte Bühnenwelt, an der man sich auch im Verlauf der unzähligen kommenden Stunden nicht sattsehen sollte: Die Premiere von John Gabriel Borkman unter Leitung des Trios Vegard Vinge, Ida Müller und Trond Reinholdtsen begann.

borkman 560 angelaroudau xIbsen in der Geisterbahn: "John Gabriel Borkman" von Vinge/Müller 2011. © Angela Roudau

Über drei Jahre ist das jetzt her, vor fast anderthalb Jahren ging die Folgeproduktion 12-Spartenhaus zu Ende, und vor gut einem Jahr fragte ich mich an dieser Stelle schon einmal: Was macht eigentlich Vegard Vinge? Dieselbe Frage stellt sich auch heute noch – und sicher nicht nur mir: Während in den ersten Vorstellungen von "Borkman" noch die Hälfte der Bänke frei blieben (ich ließ die ein oder andere Nacht auf dem Nachhauseweg im naheliegenden Prater "ausklingen"), waren die letzten Aufführungen lange im Vorhinein ausverkauft. Ohne Werbung, ja sogar ohne ordentlichen Beschreibungstext auf der Volksbühnen-Homepage. Im Theaterpublikum und der Theaterszene war schlicht Alarm gegeben worden: Wenn du es irgendwie schaffst, fahr da hin! Das muss man gesehen haben! Etwas Vergleichbares gab es lange nicht, war sich auch die Kritik einig.

Später dann das "12-Spartenhaus", das im Nachhinein wirkt wie eine Trotzreaktion auf den vorigen Erfolg, auf die Theatertreffen-Einladung, auf den Vinge-Hype. Eine masochistische Verweigerung entgegen aller Erwartungen – und auch irgendwie unfertig in ihrer inhaltlichen Verschränkung von Ibsens "Volksfeind" und einer Theaterbetriebs-Persiflage.

Totale Kompromisslosigkeit

Und heute also? Was spielt sich ab hinter den Mauern des Praters, dieser seit über einer Spielzeit scheinbar stillgelegten Spielstätte? Wo sind Vinge, Müller, Reinholdtsen?

Sie sind noch dort. Sie arbeiten, proben, jeden Tag. Das bestätigt der Volksbühnen-Kontaktmann und Dramaturg Sebastian Kaiser. Erst im Mai dieses Jahres wurde nach einer neuen Regieassistenz gesucht: "Verständnis für und Identifikation mit der Ästhetik und Arbeitsweise von Vinge/Müller sind wünschenswert." Mit anderen Worten: Wer ist bereit, es mit den derzeit wohl radikalsten Theatermachern aufzunehmen? Ein Regisseur, der sich während seiner Aufführung mit Gipsarm von einer hohen Balustrade in einen Haufen Pappkartons stürzt, meint es vermutlich auch während der Proben ernst mit seinem Vorhaben. Man munkelte, dass es für manche Mitwirkenden zu viel wurde, endlose Proben, keine Aufführungen, immer alles geben.

Doch genau diese totale Kompromisslosigkeit war es, die einem bei "Borkman" den Atem verschlug. Da war keine Pose, keine Drohgebärde, sondern ein maskierter Mann, der halsbrecherisch balancierend mit seinen schwarzen Stiefeln auf nachträglich angebrachte Stahlseil-Geländer eintrat, weil diese Sicherheitsvorschriften für ihn einfach das Bühnenbild kompromittierten. Und wenn es so etwas wie "Spielchen" mit dem Publikum gab, dann nur solche, mit denen sich der Künstler selbst traf und auslieferte. Die monströse Zumutung für das Publikum ging immer mit einer noch viel größeren Zumutung für die Künstler selbst einher.

anzeige-vingeTollkühne vor! Mit dieser Anzeige wurde im Mai nach einer/m Regieassistentin/en gesucht.

Der Plan der Volksbühne, das Team auf die große Bühne zu holen, um dort ein "Totaltheater12" zu entzünden, ist letztendlich auch an der hochkonsequenten Arbeitsweise gescheitert, erzählt Sebastian Kaiser. So habe es Überlegungen gegeben, während der Spielzeitferien ein Team bereitzustellen, so dass Vinge immerhin drei Monate auf der großen Bühne hätten proben können – eine Ewigkeit im Vergleich zu den sonst üblichen sechs Wochen, ein Wimpernschlag angesichts der Vinge/Müller/Reinholdtsen-Extremkunst. Und so hat man die Pläne wieder über den Haufen geworfen, die Förderung der Bundeskulturstiftung bis dato nicht abgerufen.

Ein Laboratorium à la Brecht

Das Trio wird also vorerst im Prater bleiben – den es wie ein eigenes Theater autonom nutzen kann. "Wie in der Vision des jungen Bertolt Brecht, ein Laboratorium zu schaffen, in dem unter Ausschluss der Öffentlichkeit experimentiert werden kann", so Kaiser. Der Deal mit den Künstlern sei, dass es dann Aufführungen gebe, wenn sie soweit seien. "Wann genau das sein wird, wissen wir vom Haus auch nicht." Was zumindest Klaus Wowereit, als er noch Kultursenator war, durchaus in Besorgnis versetzte: "Frank, sei mir nicht böse, aber irgendwann muss Theater doch auch mal spielen und zu sehen sein", zitiert Castorf seinen Damals-noch-Chef im Interview.

Umso erstaunlicher, ja einzigartiger dieser Vorgang. Die Volksbühne beweist damit Größe, Klugheit und Mut. Wenn doch nur mehr Stadttheater ihre Arbeit so begriffen: als Ort, an dem (auch) kompromisslose Kunst ermöglicht wird, die unter keinem Ergebniszwang steht. Wem, wenn nicht diesem Trio, fragt Kaiser zurecht, könne und müsse man diese Möglichkeiten geben?

Oder noch besser: Möge man Vinge/Müller/Reinholdtsen gleich die Leitung eines Stadttheaters überlassen. Das Berliner Ensemble hätte sie gut gebrauchen können, doch die Entscheidung ist anders gefallen. Und welcher Berliner Intendant geht voraussichtlich als nächstes in den Ruhestand? Das dürfte tatsächlich Frank Castorf sein, seit über zwanzig Jahren auf dem Volksbühnen-Chefsessel. Wir hätten da also schon einen (ernst gemeinten!) Vorschlag für seine Nachfolge. Mal sehen, ob sich die neue Berliner Kulturpolitik als visionär erweist.

(mw)

Kommentare  
Blog Vinge: Zahlen?
Mich würden mal die Zahlen dahinter interessieren. Kann doch nicht sein, dass die großartige, mutige Volksbühne das Unternehmen zwölf Monate durchbezahlt, oder? Und, ist das Ernst gemeint, Vinge möge die Volksbühne übernehmen?
Blog Vinge: Förderung aus Norwegen
@1 Vinge/Müller bekommen Förderung aus Norwegen... 3 Millionen Kronen (317.000€) pro Jahr.

http://www.mynewsdesk.com/no/pressreleases/12-millioner-til-vinge-og-muller-607383
Blog Vinge: andersherum gesehen
@Hallo?
Gute Frage. Und grundsätzlich interessant zur Stadttheaterdebatte - die Nachtkritik-Haltung ist ja idR, dass das Theater an Akzeptanz in der Bevölkerung verliert, weil es zu viele "normale" Aufführungen macht. vielleicht sollte man mal beleuchten, wie viele Menschen das Theater ablehnen, weil mit öffentlichen Geldern zu viele schwer zugängliche "Kunstprojekte" finanziert werden. Ich fürchte, die sind in der Mehrzahl.
Blog Vinge: hirnrissige Überlegung
Vinge/Müller/Reinholdtsen, die bei dem autoren (mw) nach einer inszenierung gleich so einen bleibenden eindruck hinterlassen haben, dass man (mw) ihnen die leitung und die verantwortung eines mittelständischen unternehmens (stadttheater) anvertrauen soll ... hirnrissig und krude so eine überlegung.
"Das Trio wird also vorerst im Prater bleiben – den es wie ein eigenes Theater autonom nutzen kann." gut so!!! - lasst das team dort doch erst einmal eine zeitlang arbeiten, sich ausprobieren (auch finanziell), bevor man wieder eins der, von kritikern ungeliebten, stadttheater gegen die wand fährt und zur schließung/fusionierung zwingt. denn schließlich arbeiten am theater, ausser der künstlerischen leitung, noch andere menschen, die ihren job lieben und den sie gerne behalten möchten.
Blog Vinge: absurde Idee
ich halte die idee, das team ein theater leiten zu lassen, auch für ziemlich absurd. dieser maskulin-wagnereske totaltheaterfaschismus ist doch im noch überschaubaren rahmen der eigenen stücke ganz gut aufgehoben. der regie-diktator vinge ist bekanntermassen das gegenteil von teamfähig, und den beweiss, dass dieses inhaltlich wenig komplexe, dafür umso plakativere computerspiel-theater länger als eine spielzeit trägt, bleibt er uns nun seit ein paar jahren erst mal noch schuldig.
Blog Vinge: öffentlich finanzierte Kunst-Stätte
Liebe Frankenquelle,
genau das halte ich für ein Problem – ein Stadttheater sollte eben nicht in erster Linie als mittelständisches Unternehmen gesehen werden, sondern vor allem als eine öffentlich finanzierte Kunst-Stätte. Dass dazu eine Verwaltung und Angestellte gehören, widerspricht dem in meinen Augen nicht – das wäre dann die Sache eines Geschäftsführers, und nicht der künstlerischen Leitung.
Nennen Sie mir doch bitte mal ein Beispiel, wo ein Stadttheater "gegen die Wand gefahren wurde" oder fusioniert wurde, weil man dort so etwas wie avantgardistisches Theater gemacht hat. Meine These ist ja (http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=10091:2014-10-07-16-32-07&catid=101:debatte&Itemid=84), dass sich das Theater gerade durch Mittelständische-Unternehmens-Denke selbst abschafft (Symptom Auslastungszahlen-Verkündung).
Frankengrüße
Blog Vinge: konsequente Volksbühne
Hirnrissig ist der Gedanke nicht, aber super, dass Ihnen immerhin der Prater überlassen wird, eine fantastische Entscheidung der Volksbühne.
Vinge/Müller /Reinholdtson sind die einzigen konsequenten Performancetheaterarbeiter in den letzten Jahren, alle anderen fläzen sich in inzwischen total akzeptierten, konservativen , postdramatischen Mitteln aus dem letzten Jahrhundert und wollen dafür noch gefeiert werden.
Doch die Mittel erkämpfen mussten sie nicht.
Sie surfen auf einer allgemeinen akzeptierten Schiene.
Konsequenz ist was anderes.
Danke Volksbühne.
Blog Vinge: Radikalität und Flüsterpropaganda
Kafkaesk.

Zitat: "Wenn doch nur mehr Stadttheater ihre Arbeit so begriffen: als Ort, an dem (auch) kompromisslose Kunst ermöglicht wird, die unter keinem Ergebniszwang steht. Wem, wenn nicht diesem Trio, fragt Kaiser zurecht, könne und müsse man diese Möglichkeiten geben?
Oder noch besser: Möge man Vinge/Müller/Reinholdtsen gleich die Leitung eines Stadttheaters überlassen."

Eine bestechend kafkaeske Vorstellung: Das Stadttheater Mainz, ein der schalen öffentlichen Belustigung geweihter spießbürgerlicher Textaufsage-Tempel, wurde von einem radikalen, bis zur Selbstzerstörung total kompromißlosen Künstlerteam übernommen, dessen Darbietungen einem den Atem verschlugen, wie die Fama ging - wenn man sie zu sehen bekam. Aber man bekam sie nicht zu sehen, weil die radikalen Künstler das Mainzer Stadttheater als autonomes Theaterkunstlaboratorium nutzten, als einen absoluten, den Künstlern notwendigen Freiraum, wo unter radikalem Ausschluß der Öffentlichkeit in hochkonsequenter Arbeit und jahrelangem, sich radikal verausgabendem Totaleinsatz auf jeder Probe Extremkunst ohne jeden spießigen Ergebniszwang entstand. Es gab daher keine Vorstellungen zu sehen. Gerüchte über das, was da betrieben wurde, gelangten über einen Mittelsmann des Künstlerteams, einen extra dazu angestellten, vertraglich zur Verschwiegenheit verpflichteten Dramaturgen, als Flüsterpropaganda sporadisch an die Öffentlichkeit.

Als nach zweijähriger Probenzeit die Presse nachfragte, wann man denn nun mal was zu sehen bekäme, gab der Dramaturg, der außer der unter Volldampf zwanzig Stunden am Tag arbeitenden Technik als einziger zu den hochemotionalen Proben Zutritt hatte, bekannt, daß die Probenarbeiten zügig voranschritten, aber ein Premierendatum leider noch nicht bekannt gegeben werden könne: "Wann genau das sein wird, wissen wir vom Haus auch nicht." Der Deal mit den radikal experimentierenden Künstlern sei, dass es dann Aufführungen gebe, wenn sie soweit seien.

Da sie noch nicht so weit waren, ging die radikal kompromißlose Theaterprobenarbeit im Mainzer Stadttheaterlabor also weiter, bis nach 4 Jahren die Presse wieder fragte, wann man denn nun mal was zu sehen bekäme. Der Dramaturg erklärte, daß sich bei der radikal kompromißlosen Probenarbeit der Spielleiter, als er sich aus dem Schnürboden radikal in einen Haufen Pappkartons gestürzt hatte, beide Arme und Beine gebrochen habe, und mit einer Aufführung folglich vorerst nicht zu rechnen sei - die Probenarbeit, bei der sich die Künstler - wie durch den Unfall ersichtlich - total selbst auslieferten, ginge aber auch mit Gipsschienen radikal weiter. Als die Presse wegen der monströsen Zumutung für das atemlos gespannt der Ergebnisse harrende Publikum zu maulen begann, wurde dem Publikum beschieden, daß diese Zumutung mit einer noch viel größeren Zumutung für die Künstler selbst einherginge, und verbat sich weiteren Druck auf die Freiheit des Künstlertums.

Als nach sechs Jahren die Presse wiederum nachfragte, war der Dramaturg leider wegen einer radikal kompromißlosen Probe, bei der sich alle Beteiligten einander vollkommen auslieferten, an einem Auftritt vor der Presse verhindert.

Als nach acht Jahren radikal authentischer Probenarbeit der nächste Pressetermin anberaumt war, erschien der Dramaturg, aber keine Presse - die hatte das Mainzer Stadttheater leider einfach nicht mehr auf dem Schirm und den zweckfreien, leerstehenden Bau in öffentlicher Vergeßlichkeit irrigerweise unter "totes Kulturdenkmal" abgelegt.

Als nach zehn Jahren die Stadt die weitere Subventionierung des Mainzer Stadttheaters mit spießigen Steuergeldern als vor dem Rechnungshof nicht mehr legitimierbare Fehlallokation sang- und klanglos strich, regte sich niemand darüber auf. Es nahm sogar nicht einmal jemand zur Kenntnis. Auch das Publikum nicht, denn ihm fehlte nichts. Es gab ja schon lange kein Theater mehr in Mainz, das ihm hätte fehlen können. Alle waren zufrieden.

Nur im Mainzer Stadtheater gingen die radikalen Proben trotz solcher Widrigkeiten mit unvermindertem Totaleinsatz kompromißlos weiter - die radikal sich selbst ausliefernden Künstler hatten die Türen von innen gegen jede zudringliche Neugier von außen verrammelt und probten mit atemberaubendem Totaleinsatz immer weiter und immer weiter, weil sie eben immer noch nicht so weit waren...

Ein erstaunlicher, ja einzigartiger Vorgang. Das Mainzer Stadttheater und seine Radikalkünstler bewiesen damit Größe, Klugheit und Mut. Wenn doch nur mehr Stadttheater ihre Arbeit so begriffen!
Blog Vinge: Diskurs kommt zustande
Na Tatjana, @8, lustig zu lesen ihr dystopie, aber was wenn folgendes dazwischen kommt: eine produktion von vinge/müller kommt nach einen jahr heraus und läuft ein jahr lang und ist das mainzer stadtgespräch. und ein diskurs über die kunst kommt zustande, und darüber wie wir unser zusammenleben gestalten wollen. und auf einem anderen level als PEGIDA. und andere menschen kommen ins theater um sich davon zu überzeugen was da wirklich los ist und es passieren unverhersehbare sachen. tja und nun? sehen sie ihren tatortersatz-hamlet in gefahr, so wie den "weihnachts"markt?
Blog Vinge: Vergleich?
@9: Wann hat ein vergleichbares Projekt Ihrer Meinung eine derartige Breitenwirkung gehabt?
Blog Vinge: überschätztes Theater
Ach, liebe/r Fitzi - das freut mich ja, daß meine "Dystopie" Sie amüsiert hat; früher hieß sowas übrigens Satire. Und eine Satire sollte es auch sein - sie drängte sich mir geradezu wie von selbst auf, nachdem ich diesen nachtkritik.de-Artikel staunend mit herabfallendem Unterkiefer gelesen hatte: Was passiert, wenn man diese Vorschläge und Empfehlungen und Ideen mal auf die konkrete Welt anwendet und fortschreibt.

Meine kleine Satire bezieht sich auf zwei oder drei Themen:
Zunächst einmal auf die abenteuerlich weltfremden Kunstideale des Artikelautors, der ein solches "Künstlerteam" und die zuschauerfreie Laborspielerei ohne "Ergebniszwang" allen Ernstes für die Leitung eines normalen Stadttheaters empfiehlt. Der Gedanke ist schon ganz ohne mein Zutun von surrealer Komik. Was in einer Metropole wie Berlin als exotische side-show in einem vielfältigen Kulturbetrieb und einem reichen Publikumspool mitlaufen kann (so lange die Finanzverwaltung, die die Vergabe öffentlicher Gelder zu rechtfertigen hat, mitspielt) - also, das wäre, auf ein normales Stadttheater, seine engen Zwänge und sein überschaubares Publikumsreservoir übertragen, ein Witz: reiner Selbstmord des Theaters.

Zum zweiten bezieht sich meine Satire auf das damit einhergehende Theater-Verständnis, das ich überhaupt nicht teile. Ein Theater, das nicht spielt, ist kein Theater, sondern eine autistische Sektierergruppe. Besonders, wenn es sich die Nichtausübung seines Berufes bequem und hedonistisch aus öffentlichen Mitteln finanzieren läßt. Ein Theater lebt von der Öffentlichkeit, vom Geben und Nehmen - es ist sein Grundprinzip. Hat es keine Öffentlichkeit, existiert es nicht. Und die zahlende Öffentlichkeit kann Öffentlichkeit von ihm fordern. Es ist nämlich auch ein Dienstleistungsunternehmen. Eines der letzten großen Theaterlaborunternehmungen war wohl Grotowski; aber das ging durchaus fordernd in die Welt - und auch das verschwamm irgendwann in "paratheatralischen Selbsterfahrungspraktika" (Wiki), und natürlich zunehmend unter Ausschaltung der Öffentlichkeit. Solcherlei als Radikalität und Kompromißlosigkeit zu feiern - masturbatorisches Theater ohne Zuschauer - scheint mir abwegig. Oder kafkaesk, wie ich schrieb.

Und das dritte kleine Thema, das mich daran verblüfft hat, ist diese erstaunliche Überschätzung des Theaters - sie spricht aus jedem Satz dieses Textes. Sie überhöht den wunderschönen, vielfältigen, aufregenden, unabschließbaren und zugleich sehr schlichten himmlisch klamottigen theatralischen Amüsiervorgang des tiefgründigen und manchmal erschütternden Faxenmachens zu einer Art sozialtherapeutischem Gottesdienst nebst Heilserwartung und eingebauter Erlösung. Dieses nichtspielende Künstlerteam: Ein asketischer Mönchsorden, seiner theatralischen Berufung hinter Klostermauer-Pappkulissen in Abkehr von der Welt nachgehend. Auf Steuerzahlers Kosten. Das hat viel Komik.

So auch Ihre Antwort auf meine Satire:

"aber was wenn folgendes dazwischen kommt: eine produktion von vinge/müller kommt nach einen jahr heraus und läuft ein jahr lang und... ist Stadtgespräch.."

Ja, »wenn«. Im Stadttheater Mainz. Wenn meine Oma Räder hätte, wäre sie ein Omnibus (Zitat Tick, Trick und Track.

»... und ein diskurs über die kunst kommt zustande, und darüber wie wir unser zusammenleben gestalten wollen. ... und andere menschen kommen ins theater um sich davon zu überzeugen was da wirklich los ist und es passieren unverhersehbare sachen.«

Ich finde, an Diskursen über Kunst und über unsere gesellschaftlichen Gestaltungsziele mangelt es nicht. Die gibt's überreichlich, vor allem mit gesamtgesellschaftlich wesentlich größerer Schlagkraft als das an Bedeutung schrumpfende Minderheiten-Vergnügen des Theaters sie bietet. Schon gar nicht hat das Theater darin ein Alleinstellungsmerkmal. Und an die weltverwandelnde Kraft des Theaters als moralischer Anstalt zu glauben ist doch sehr 18. Jahrhundert und etwas selbstüberschätzend - vor allem, wenn das Theater wie derzeit ja offenbar recht ratlos nach seiner Bestimmung sucht.

Just my two cents, und als Beitrag in einem Theaterportal vielleicht nicht ganz passend - ich bin hier eher zufällig reingestolpert. Also - nichts für ungut.
Blog Vinge: Vergnügen für wen
@ Tatjana Bauer: "Minderheitenvergnügen des Theaters"? Für wen? Für Sie? In Bezug auf Vinges Arbeiten stimme ich Ihnen da allerdings zu.
Blog Vinge: regelmäßige Theatergänger
@12 Inga: Ich meinte die (sehr kleine) Minderheit der Bevölkerung, die das Theatervergnügen in Deutschland regelmäßig (folglich also als für sich wichtig) wahrnimmt: 2,43 Mio oder 3% der Bevölkerung, über alle Theatersparten hinweg.

http://de.statista.com/statistik/daten/studie/171174/umfrage/haeufigkeit-des-besuchs-von-theater-oper-schauspielhaus/
Blog Vinge: lebendige, offene Kultur
@ Tatjana Bauer: Schon verstanden. Aber das ist dann ja eine Henne-Ei-Frage, oder? In dem Sinne, dass man sich also fragen muss, was das Theater heute möglicherweise falsch macht, wenn nur ein so geringer Prozentsatz es für das eigene Leben als relevant betrachtet. Oder ob das immer schon so war bzw. ab wann es so gekommen ist. Sehen Sie das auch in Bezug auf Ausstellungen, Musikveranstaltungen usw. so? Eine lebendige, offene Kultur ist die Basis von Gesellschaft bzw. trägt sie zur Auseinandersetzung einer Gesellschaft mit sich selbst bei. Wenn das wegfällt, dann landen wir tatsächlich bei ressentimentgeladenen Bewegungen wie Pegida - oder auch: "Wir sind das dumme Volk, wir brauchen keine Kultur." Nein, danke! Und noch eine Zusatzfrage: Wieviele Politiker gehen eigentlich ins Theater?
Blog Vinge: Zusatz
Zusatz: Der Film bzw. das Kino nicht zu vergessen, welches ja mittlerweile leider auch an Publikum verliert, weil viele heute nur noch privatistisch zu Hause sitzen und sich Filme über Internet Streaming oder DVD "reinziehen".
Blog Vinge: Statistik detailierter
@13: Also bitte, ist das Ihre Frage? Dann könnten Sie mir noch nachliefern, wieviel des Steueraufkommens diese 3% tragen?

Zudem: An wen fließen denn die "Ausgaben für Theater"? Zum Glück nicht an Anteilseigner, sondern Werktätige. Richtig?

Bonusfrage: Wieviel aller Polizeieinsatzkosten tragen diese 3%? (Oder: Wie wäre es die Zahlen in einen Zusammenhang zu stellen?)
Blog Vinge: Popularität
@14 also was ist nun gewünscht? Ein breitenwirksames Theater, das von einem breiten Publikum besucht wird? aber bitte nicht mit einer breitenwirksamen Kunst, das wäre ja viel zu Mainstream! Bitte eine radikal zugeschnittene, nicht populäre Kunstform mit grösstmöglichster Breitenwirksamkeit, also Popularität ... usw.
Blog Vinge: folgenlose Selbstbespiegelung
@ Edith: So einfach ist das nicht zu beantworten. Es ist - wie immer - komplexer. Auf jeden Fall geht es für mich darum, das Publikum mehr zu beteiligen, auch im Sinne von zum Denken anzuregen bzw. aufzuregen, im Sinne einer Politisierung der Kunst. Das heisst, gegen die "großen Namen", gegen das "große Geld" in der Kunst. Und dafür, dass das Publikum sich nicht nur im Eigenen spiegelt bzw. durch "große Regisseure" gespiegelt wird. Dafür, dass es sich auch im Anderen spiegelt. Die folgenlose Selbstbespiegelung so manches bürgerlichen Theatergängers verändert nichts. Und der Vorwurf, dass immer nur die Massen die Dummen seien (was tatsächlich möglich ist, aber eben immer auch zugleich instrumentalisiert wird), vergisst, dass das dann auch daran liegen könnte, dass sie dumm gehalten werden. Von Medienkonzernen, vom Konsumkapitalismus und von Politikern, zum Beispiel, denen es sicher ganz gut in den Kram passt, dass Bewegungen wie Pegida, Degida usw. ihnen nun die eigene Mitverantwortung für solche Entwicklungen quasi abnehmen. So kann man ganz bequem wieder mit dem Finger auf das Volk zeigen, anstatt es über differenzierte Information aufzuklären.

Und Vinge? Auch, wenn ich dessen Kunst als schwierig erachte, was ich daran zumindest verstanden habe ist, dass er dem Publikum nicht das gibt, was es will. Und dass er damit einen reinen Theaterkonsum verhindert, welcher sich in einem bereits im Vorhinein hergestellten Konsens suhlt. Und mehr nicht.
Blog Vinge: unsinnige Vergleiche
@14 Inga
"In dem Sinne, dass man sich also fragen muss, was das Theater heute möglicherweise falsch macht, wenn nur ein so geringer Prozentsatz es für das eigene Leben als relevant betrachtet. Oder ob das immer schon so war bzw. ab wann es so gekommen ist. ... Eine lebendige, offene Kultur ist die Basis von Gesellschaft bzw. trägt sie zur Auseinandersetzung einer Gesellschaft mit sich selbst bei."

Was das Theater falsch macht? Ich habe keine Ahnung. Vielleicht überlebt es sich gerade ganz einfach? Muß die "lebendige, offene Kultur" denn unbedingt gerade Theater sein? Es gibt doch auch anderes, auf das wesentlich mehr Menschen heute rekurrieren können und wollen...

Um an den Anfang der Moderne zu gehen: Wie ich gerade las, hatte London zu Shakespeares Zeiten 200 000 Einwohner. Die sieben oder acht Theater, die es gab, faßten jeweils ca. 2000 bis 3000 Leute. Und sie sollen - wenn gespielt wurde - voll gewesen sein: Macht konservativ gerechnet ca. 15.000 bis 20.000 Besucher pro Spieltag, gleich ca. 7,5% bis 10% der Londoner Bevölkerung. Auf München heute übertragen wären das von 1,5 Mio ca. 112.500 bis 150.000 Münchner Theaterbesucher täglich, wenn ich richtig gerechnet habe - und die kommen heute natürlich nicht alle in die Münchner Theater.

Solche vergleichenden Rechnungen sind selbstredend unsinnig, weil sie historische Bedingungen ausklammern - z.B., daß das elisabethanische Theaterspektakel als absolute Novität eine Attraktion erster Ordnung war, ein nie dagewesener Boom-town-Kitzel "für alle", knapp am Rande der Legalität, welches Entertainment mit Info mixte, nämlich z.B. über die eigene splatterige Nationalgeschichte, die der größtenteils analphabetischen Bevölkerung anders kaum zugänglich war. Dieses Theater bediente vielfältige Bedürfnisse, die anderswo NICHT zu befriedigen waren. In späterer Zeit ein ständisches Theater für den Adel, dann auch für das Bürgertum geöffnet, bediente wiederum nur spezifische Schichten und ist folglich damit nicht zu vergleichen. Später das demokratisierte Theater trat sogleich in heftige Konkurrenz zu anderen (technischen) Medien "für alle" und verlor wie rasend sein Alleinstellungsmerkmal - und seine Attraktion. Schön zu vergleichen mit der Ausnahme Burgtheater, das seinen Mythos als höchstkulturellen Kunstgottesdiensttempel noch bis unlängst behielt - als Schauspieler nur ergriffen raunend mit Vibrato in der Stimme von ihrem Karrieretraum "Burrrgtheater" sprachen (und wo unlängst die Totenfeier für den Schauspieler Gerd Voss noch als eine Art feudalistische Kaiserbeerdigung zelebriert wurde). Immer hing ""das" Theater" und seine Rezeption von äußeren Umständen ab, die nicht in ihm selbst begründet waren. Das Theater als Ort "relevanter" sakraler oder existentieller Offenbarung ist eine späte (romantische) Erfindung bzw. Behauptung, die real wahrscheinlich noch am ehesten im Mittelalter in den Passionsspielen verwirklicht war.

Theater als "relevant für das eigene Leben", wie Sie mit existentiellem Anspruch schreiben, ist keine Forderung, die irgendeine Allgemeingültigkeit beanspruchen kann und es ganz sicher auch niemals konnte - und wenn ich eine solche gar mal in Verbindung mit der Avantgarde dieser Vinge-Performance-Kleinkindergartenferkelchen setze, von denen ich hier zum ersten Mal höre: Jemandem beim bedeutungsaufgeladenen Sich-in-den-Mund-Pinkeln zusehen, oder ihm beim Scheißen ins Arschloch sehen, oder wie er sich mit der eigenen Scheiße einschmiert, oder was dergleichen recycelte Otto-Mühlsche épater-le-bourgeois-Geisterbahn-Spielchen mehr sind für abgestumpfte Großstadt-culture-vultures; oder zu Aida-Klängen ausführlich eine Blackface-Putzfrauen-Darstellerin "splatternd" schänden (ernsthafter Kommentar eines nachtkritik-Rezensenten: "...und schon ist das unauflösbare Dilemma des Theaters skizziert, ... das auf der Bühne das Elend der Welt zeigt und oft genug kritisiert, hinten aber selbst reproduziert"), und das in zehnstündigen "Aufführungen" als gezielte Zuschauer-Folter - also, da bin ich doch enorm erheitert, was dann für tiefe exegetische "Einsichten" in Scheiße und Arschlöcher ob ihrer "Kompromißlosigkeit und Radikalität" "dekonstruktivistisch" zusammengeschwurbelt werden. Wer's als "relevant für das eigene Leben" sieht, soll das gerne tun und hingehen - ich bin da eben weniger masochistisch veranlagt und lasse mich zudem ungern langweilen. Und wenn solcher bedeutungshubernde Larifari auch noch als vorbildlich für ein zukünftiges Stadttheater erklärt wird, so kenne ich zumindest eine, die nicht mehr ihre Zeit mit Theater verschwenden wird: Nämlich mich.
Blog Vinge: Einschaltquote!
also ich bin für die einschaltquote. das ist basisdemokratisch!
Blog Vinge: Brecht über die Volksbühne
Der von Sebastian Kaiser angedeutete Vermerk Brechts lautet in Gänze: „Wenn die Volksbühne (!) heute etwas anfangen, neu beginnen wollte, so könnte es z.B. die Einrichtung eines Theaterlaboratoriums sein, in dem Schauspieler, Autoren und Regisseure so arbeiten, wie es ihnen Spaß macht, ohne besondere Absicht. Und jeder, der herein möchte, kann sich das Laboratorium und Vorstellungen auf der Experimentierbühne ansehen. Die erfolgreichsten und besten Resultate werden auf die große Bühne übernommen.“ Gerade für Brecht gilt: „Ein Theater ohne Kontakt mit dem Publikum ist ein Nonsens“, denn nur in der ständigen Überprüfung der Produktionsmittel an der Wirklichkeit - soll heißen: der „Auseinandersetzung“ des Publikums im wortwörtlichen Sinn - kann eine gesellschaftlich relevante „neue Technik“ oder „neue Methode“ entwickelt werden.
Blog Vinge: Masochistische Bürgerpflicht
@Tatjana Bauer:
Es geht, man möchte es kaum glauben, weder NUR um die von Ihnen "Ferkeleien" genannten Aktionen, es geht weder NUR um die Radikalität, es geht weder NUR um die Ibsen-Interpretation, es geht weder NUR um den installativen Charakter, es geht weder NUR um Sounddesign/Bühnenbildkunst/Schauspielstil, es geht vielleicht um das alles zusammen in all seinen bereits ausfühlich beschriebenen Dimensionen und seiner speziellen Komposition. Vielleicht muss man das dann doch jedes Mal ausführlicher dazusagen. Und was Ihre "nicht masochistische Veranlagung" angeht, davon hört man öfters, die geht ja bei manchen sogar so weit, dass sie nicht mal die Nachrichten gucken wollen, weil da nur hässliche Dinge gezeigt werden... Aber hey – Masochismus ist natürlich Bürgerpflicht!

Und Punkto zwei: Natürlich auch fies, dass Sie mir in den Mund legen, die Theater bräuchten gar keine öffentlichen Vorstellungen mehr zu spielen. Von dieser Katastrophe sind wir ja glücklicherweise noch weit entfernt, sondern die momentane Katastrophe ist ja (immer noch) die absolute Fließband-Überproduktion. Aber ja, ich würde lieber mal ein Jahr lang keinen Shakespeare sehen, sondern Türe zu, und danach etwas, was an Gedanketiefe diesem Jahr Rechnung trägt. Dass Kunst nur in der öffentlichen Darbietung / Auseinandersetzung Sinn macht bzw. überhaupt erst entsteht, ist selbstverständlich – und diesen Willen sehe ich übrigens beim Vinge-Theater viel offensichtlicher, als bei so manch virtuoser Vierter-Wand-Vorstellung.
Blog Vinge: pro AfD?
@ Tatjana Bauer: Ich muss ehrlich sagen, dass ich hier auf nachtkritik über Ihren Post gestolpert bin, in welchem Sie offensichtlich pro AfD argumentieren. Und zwar in Bezug auf die Podiumsdiskussion "Was darf die Kunst? Was darf die Gesellschaft?" mit AfD, Kampnagel im Thalia Theater Hamburg. In diesem Zusammenhang habe ich das Problem, mit einer offensichtlichen AfD-Verteidigerin zu diskutieren, welche dann auch noch hier behauptet, das Theater habe sich "überlebt". Habe ich Sie falsch verstanden oder wollen Sie wirklich für die AfD sprechen? Und warum wollen Sie denn nun gerade von allen Kultureinrichtungen als Erstes das Theater schließen? Ich gehe da nicht mit, denn ich gehe sehr gern ins Theater. Bloß finde ich inzwischen kaum noch etwas, was mich wirklich interessiert. DAS liegt aber nicht an einem Desinteresse, sondern daran, dass sich das Theater in meinen Augen seit meinen Anfängen als Theatergängerin sehr verändert hat UND dass ich ganz allgemein schon soviel gesehen habe. Auf welcher Basis eigener Seherfahrung argumentieren Sie? Sie gehen ja erstmal nur in die Historie zurück.

Wie gesagt, Vinge ist auch nicht das, was ich vom heutigen Theater erwarte. Genau das meinte ich mit "relevant für das eigene Leben". Es geht mir vor allem um gute Stoffe bzw. Texte, über welche aber ein Bezug zum Heute offengehalten werden sollte. Alles andere ist Historismus.
Blog Vinge: ausgenommen Säuglinge & Kinder
@22 Matthias Weigel: "Masochistische Bürgerpflicht"

Zitat: "Und was Ihre "nicht masochistische Veranlagung" angeht, davon hört man öfters, die geht ja bei manchen sogar so weit, dass sie nicht mal die Nachrichten gucken wollen, weil da nur hässliche Dinge gezeigt werden... Aber hey – Masochismus ist natürlich Bürgerpflicht!"

Lieber Matthias Weigel, leider hab ich nicht so ganz verstanden, was Sie mit "masochistischer Bürgerpflicht" meinen. Sie meinen, man hat als Bürger eine masochistische Pflicht, sich von unsäglichen Theaterveranstaltungen quälen zu lassen? "Unsäglich" ist natürlich sehr subjektiv, zugegeben, aber ich bitte doch, mir ebenso ein liberalistisches Chacun-á-son-goût zu gestatten wie ich Ihnen - und wenn man manches nun mal so empfindet, dann aber besteht natürlich trotzdem eine Bürgerpflicht, sagen Sie, ein Bürgerzwang, sich das anzutun? Man MUSS sich als Bürgerpflicht scheißende Arschlöcher betrachten, in allen "bereits ausführlich beschriebenen Dimensionen und seiner speziellen Komposition", wie Sie schreiben?

Ich sehe das vollkommen anders, aber ich gebe zu, Sie haben natürlich mit Ihrer Position große, prägende Namen auf Ihrer Seite, die das auch schon vertreten haben:

"ZWANGSVORSTELLUNGEN

Woher diese leeren Theater? Nur durch das Ausbleiben des Publikums. Schuld daran - nur der Staat. Warum wird kein Theaterzwang eingeführt? Wenn jeder Mensch in das Theater gehen muß, wird die Sache gleich anders. Warum ist der Schulzwang eingeführt? Kein Schüler würde die Schule besuchen, wenn er nicht müßte. Beim Theater, wenn es auch nicht leicht ist, würde sich das unschwer ebenfalls doch vielleicht einführen lassen. Der gute Wille und die Pflicht bringen alles zustande.

Ist das Theater nicht auch Schule, Fragezeichen! ...

Der Theaterzwang bezirksweise eingeführt, würde das ganze Wirtschaftsleben neu beleben. Es ist absolut nicht einerlei, wenn ich sage: soll ich heute ins Theater gehen, oder wenn es heißt: ich muß heute ins Theater gehen. Durch diese Theaterpflicht läßt der betreffende Staatsbürger freiwillig alle anderen stupiden Abendunterhaltungen fahren, wie Kegelschieben, Tarocken, Biertischpolitik, Rendezvous...

Der Staatsbürger weiß, daß er ins Theater muß - er braucht sich kein Stück mehr herauszusuchen, er hat keinen Zweifel darüber, soll ich mir heute "Tristan und Isolde" anschauen, nein, er muß sichs anschauen - denn es ist seine Pflicht. Er ist gezwungen, dreihundertfünfundsechzigmal im Jahr ins Theater zu gehen, ob es ihm nun vor dem Theater graust oder nicht. Einem Schüler graust es auch, in die Schule zu gehen, aber er geht gern hinein, weil er muß. - Zwang! - Nur durch Zwang ist heute unser Theaterpublikum zum Theaterbesuch zu zwingen. Mit guten Worten haben wir jetzt Jahrzehnte hindurch wenig Erfolg gehabt. ...

Auf eine Stadt wie Berlin kämen also - ausgenommen die Säuglinge und Kinder unter acht Jahren, Bettlägerige und Greise - täglich rund zwei Millionen Theaterbesuchspflichtige, eine Zahl, die die jetzige Theaterbesucherzahl der Freiwilligen weit überschreitet.

Man hat ja mit der freiwilligen Feuerwehr ebenfalls bittere Erfahrungen gemacht - und nach langer Zeit nun eingesehen, daß es heute ohne Pflichtfeuerwehr nicht geht. Warum geht es also bei der Feuerwehr und nicht beim Theater? Gerade Feuerwehr und Theater sind heute so innig verbunden - ich habe in meiner langjährigen Bühnenpraxis hinter den Kulissen noch nie ein Theaterstück ohne Feuerwehrmann gesehen...

Nur durch solche eminente Machtmittel kann man den leeren Häusern auf die Füße helfen, nicht durch Freikarten - nein - nur durch Zwang - und zwingen kann den Staatsbürger nur der Staat...."

Aus: Karl Valentin, Zwangsvorstellungen

http://www.simnet.is/gsteinn/zwangsvorstellungen.htm
Blog Vinge: Sie irren stark
Zitat: "Ich muss ehrlich sagen, dass ich hier auf nachtkritik über Ihren Post gestolpert bin, in welchem Sie offensichtlich pro AfD argumentieren. Und zwar in Bezug auf die Podiumsdiskussion "Was darf die Kunst? Was darf die Gesellschaft?" mit AfD, Kampnagel im Thalia Theater Hamburg. In diesem Zusammenhang habe ich das Problem, mit einer offensichtlichen AfD-Verteidigerin zu diskutieren,"

Sie irren stark, ich habe keineswegs die AfD inhaltlich verteidigt. Ich habe gegen einen verzerrenden Debattenbeitrag argumentiert, der - gegen die Evidenz des Videos - behauptet hatte, die Veranstaltung sei von "im Saal verteilten" AfD-Provokateuren "gesprengt" worden. So war es meiner Wahrnehmung nach eindeutig nicht, und so hat es auch das Hamburger Abendblatt nicht erlebt, deren Redakteur/in (?) bei der Veranstaltung persönlich anwesend war: "... brachte der ehemalige Hamburger Innensenator und AfD-Politiker Dirk Nockemann einen Großteil des Publikums im Mittelrang-Foyer des Thalia Theaters gegen sich auf."

http://www.abendblatt.de/kultur-live/article135457312/Heftige-Diskussion-um-AfD-Anzeige-gegen-Kampnagel-Chefin.htm

Und dies bestätigt ebenso der Beitrag Nr. 14 eines "Zuschauers":
"... sehe ich vor allem die Störung des Publikums, die für die emotional aufgeladene Atmosphäre auch verantwortlich gemacht werden muss, als legitim an. Die Zwischenrufe waren eine legitime Intervention auf die polemischen und provokanten Thesen des Herrn Nockemann. Die Mehrheit des Publikums des Thalia Theaters, darunter auch SchauspielerInnen, hat sich an diesem Abend als Gemeinschaft klar gegen die Ansichten des AFD-Repräsentanten positioniert und mit dem Mittel des Ungehorsams unmissverständlich klar gemacht, dass sie auch außerhalb der „Theateraufführung“ eine Gemeinschaft sein kann, die, wenn es darauf ankommt, auf sich lautstark aufmerksam macht. Respekt!"

Ich sehe meine Wahrnehmung bestätigt: Es war demnach also eher die MEHRHEIT der "im Saal verstreuten" AfD-GEGNER, die mit "Zwischenrufen" und "mit dem Mittel des Ungehorsams" "lautstark" die Veranstaltung gestört haben. Und es war eher NICHT so, wie der Berichterstatter Falk Richter in seinem Meinungsbeitrag behauptet hatte - unbeschadet, daß auch die AfD-Leute dann mitgepöbelt haben.

Unsachliche bzw. einseitige Berichterstattung hilft der Sache nicht weiter. Und es nutzt der gesellschaftlichen Debatte überhaupt nichts, wenn man keine Debatte über strittige Themen mehr führt, sondern sofort gesinnungsstark unisono ad-personam gegen den Buhmann des Abends lospöbelt. Deswegen war die ganze Veranstaltung für die Katz, weil über das angekündigte Thema "Was darf die Kunst? Was darf die Gesellschaft?" überhaupt nicht mehr geredet wurde - die AfD als solche wurde sofort zum Thema gemacht, die aber NICHT das Thema war, wie auch der Moderator einzuwenden versuchte. Es endete dann, wie ich schrieb, in öder und fruchtloser gegenseitiger Anpöbelei reihum.

Daß die Sache in der Tat strittig ist (und damit eine rationale Debatte dringend erfordert), zeigte gerade Kauder, der sich dieser Tage sogar gegen die uralte Einrichtung des Kirchenasyls wandte. Und der ist nicht bei der AfD.

http://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article135682868/Kauder-kritisiert-Kirchenasyl-und-Winter-Abschiebestopp.html

Ich habe gegen einseitige Berichterstattung, gegen Pöbelei, gegen teutonische Saalschlachten und für etwas mehr Debattenkultur plädiert - vielleicht lesen Sie meinen Beitrag noch mal?

Zitat: "welche dann auch noch hier behauptet, das Theater habe sich "überlebt". "

Habe ich nicht behauptet, habe ich in Form einer hypothetischen Gegenfrage auf Ihre Frage in den Raum gestellt.

Zitat: "Habe ich Sie falsch verstanden oder wollen Sie wirklich für die AfD sprechen?"

Ja, da haben Sie mich falsch verstanden. Ansonsten halte ich es mit Voltaire.

Zitat: "Und warum wollen Sie denn nun gerade von allen Kultureinrichtungen als Erstes das Theater schließen?"

Ich habe nicht die leiseste Absicht dazu: Ich BEFÜRCHTE ganz im Gegenteil, daß eine Vinge-Truppe am Stadttheater, wie empfohlen, zu einer baldigen Schließung führen würde.

Zitat: "Ich gehe da nicht mit, denn ich gehe sehr gern ins Theater. Bloß finde ich inzwischen kaum noch etwas, was mich wirklich interessiert. DAS liegt aber nicht an einem Desinteresse, sondern daran, dass sich das Theater in meinen Augen seit meinen Anfängen als Theatergängerin sehr verändert hat UND dass ich ganz allgemein schon soviel gesehen habe."

Sehen Sie, da treffen wir uns durchaus. Mir geht es ganz genauso. Sie kennen den Spruch von Roland Barthes? "Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin."

Na ja, sagen wir: Immer seltener.
Blog Vinge: nicht erbauend
@ Tatjana Bauer: Man muss natürlich nicht. Da wären wir dann wohl bei Adornos "autoritärem Charakter". Nein, es ist nicht "erbauend", Menschen beim Scheissen und Ficken zuzuschauen. Das tun wir ja alle eh schon privat. Und da soll es auch bleiben. Leider tut es das aber nicht. Viele machen sowas mittlerweile vor Webcams. Und was sagt uns das? Auch die "technischen Medien für alle" sind nicht besser und/oder schöner als das Vinge-Theater.

Und zur AfD sagen Sie jetzt nichts?
Blog Vinge: Überschneidung
@ Tatjana Bauer: Da haben sich unsere Kommentare wohl überschnitten. Und ich würde sagen, jetzt habe ich Sie verstanden. Vielen Dank für Ihre Erläuterungen. Manchmal braucht es eben genau das, und da haben Sie durchaus Recht mit Ihrer Forderung einer gewissen "Debattenkultur", um einander besser zu verstehen. Und um sich differenziert mit den irrigen Ansichten der AfD auseinanderzusetzen, muss man sie bzw. deren Vertreter natürlich auch erstmal reden lassen. Das entlarvt sich dann oftmals von selbst, ohne dass sich alle nur noch anpöbeln. Weitab vom Thema Kunst und Gesellschaft. Auch da stimme ich Ihnen zu.

Auch andere Theatermacher (der Dramaturg Carl Hegemann, zum Beispiel) definierten den Begriff der "Kunst" (in der Theater Heute) ungefähr folgendermaßen: Die Kunst dürfe ihren Bereich nicht verlassen. Ansonsten wäre es ein Verbrechen oder führe zum Wahnsinn.

Und es ist ja - wie gesagt - auch immer leicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen, obgleich die eigenen Ansichten zuweilen in dieselbe Richtung gehen. Siehe die pauschalisierende Ansicht von Bouffier (CDU) gegen "die Ostdeutschen" und die AfD als "Rattenfänger", welche der CDU mit ihrem extremen Rechtskonservativismus nun auch noch die Wähler abfange. Alles Parteienpolitik. Und die Menschen (Flüchtlinge) bzw. Bürger bleiben auf der Strecke.
Blog Vegard Vinge: Was geht?
Was geht? An dieser Front?
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