Es wird warm

von Falk Schreiber

Hamburg, 17. Dezember 2014. Für morgen Mittag werden für die Hamburger Innenstadt bis zu elf Grad vorhergesagt. Wenige Tage vor Heiligabend. Überhaupt wird 2014 als ein Jahr in die Geschichte eingehen, in dem es deutlich zu warm war, was den Inhalt von "2071" ein Stück weit bestätigt: Der britische Klimaforscher Chris Rapley erzählt in der Koproduktion zwischen Londoner Royal Court Theatre und Deutschem Schauspielhaus Hamburg, wie er zur Klimawissenschaft kam, er referiert, wie sich das Klima im Laufe der Zeiten veränderte, und er wagt einen Ausblick, wie die Welt im Jahre 2071 aussehen mag. Dann nämlich wird die älteste Enkelin Rapleys so alt sein wie er heute, 67 Jahre, und sie wird in einer Welt leben, die wahrscheinlich nicht allzu lebenswert sein dürfte. In einer Welt, deren Infrastruktur auf heutige Temperaturen eingestellt ist, während die Durchschnittstemperatur des Planeten um mindestens zwei Grad gestiegen sein wird, mit den dazugehörigen sozialen Verwerfungen, Dürren, Überschwemmungen. (Zumindest, wenn alles gut geht: Eine 40-prozentige Chance besteht auch auf eine Temperaturerhöhung von über vier Grad. Als Klimaforscher sollte man nicht allzu sentimental auf die Menschheit blicken.)

Alles wird gut?

Die Bühnenanordnung ist spartanisch: Rapley sitzt da und spricht. Sonore Stimme, leicht singendes Englisch: Der Vortrag wirkt beruhigend, schon weil praktisch nichts passiert – ein älterer Herr erzählt mit in die Ferne schweifendem Blick davon, dass wir uns auf eine katastrophale Zukunft einstellen müssen. (Der Blick schweift allerdings vor allem deswegen, weil Rapley nicht frei spricht: An der Rückwand des Zuschauerraums hängt der Teleprompter.) Bloß erzählt der Wissenschaftler nichts Überraschendes. Höchstens politisch weit rechts angesiedelte "Klimaskeptiker" dürften sich von den Ausführungen zum Anstieg des Meeresspiegels, gestörtem Kohlenstoffkreislauf und fossiler Energiegewinnung zum Weiterdenken angeregt fühlen, alle anderen kennen den Themenkomplex von jahrelanger populärwissenschaftlicher Spiegel-Lektüre. Und konzentrieren sich deswegen weniger auf den Inhalt als auf die szenische Anlage.

2071 560a stephencummiskey uDer Wissenschaftler Chris Rapley als Katie Mitchells Solo-Performer vor
spektakulärem Bildertrichter © Stephen Cummiskey

Die kommt unter der Regie Katie Mitchells tatsächlich spektakulär daher. Die Bühne Chloe Lamfords ist ein sich nach hinten radikal verjüngender, trichterartiger Raum, der die Leinwand für Visuals von Luke Halls bildet: Weltraumbilder, Grafiken, Diagramme, abstrakte Datenschönheit in ihrer perfekten Form. Und dazu läuft Paul Clarks Ambient-Soundtrack – schwelgende Streicher, wenn eine Zeitleiste durch die Erdgeschichte führt, elektronisches Fiepen, wenn der zehnjährige Rapley mit dem Start des Satelliten Sputnik 1 den Aufbruch der Menschheit ins All verfolgt, Knirschen und Knacken, wenn es um den Kollaps des Schelfeises an der antarktischen Halbinsel geht. Das ist ein souveräner Umgang mit der Bühnentechnik, aber wenn man es im Kontext der Performance betrachtet, ist es leider – Kitsch.

Ein eigenartiges Gefühl macht sich breit: Mitchell, deren extrem technikbasierte Theatersprache bei dramatischen Texten eine spannende zweite (und dritte bis vierte) Ebene in die Vorlage einzieht und die 2012 in "Ten Billion" bereits eine Lecture Performance zum Bevölkerungswachstum in Szene gesetzt hat, unterläuft hier die unterkomplexe Bebilderung hochkomplexer Erkenntnisse. "2071" ist so weder wissenschaftlicher Vortrag noch als Theater funktionierende Performance, sondern erinnert vor allem an die Häppchennaturwissenschaft, die einem in sogenannten Science Centern serviert wird, Infotainment für die Generation MINT, Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik.

Katie Mitchell goes Rimini Protokoll

Zumindest passt "2071" gut in den Kapitalismus/Apokalypse/Klimawandel-Spielzeitschwerpunkt am Schauspielhaus, als Ergänzung zu Rimini Protokolls Welt-Klimakonferenz vor drei Wochen. Und an Rimini Protokoll fühlt man sich auch erinnert, wenn man Rapley bei seinem Vortrag zuhört, genauer: an "Peter Heller spricht über Geflügelhaltung", eine frühe Studienarbeit Stefan Kaegis, 1997 auf der Probebühne der Uni Gießen. Kaegi hatte den Hühnerzüchter Peter Heller eingeladen, und der sprach über – Geflügelhaltung. Am Ende des Abends hatte man viel gehört über Hennen und Puten, im Grunde interessierte einen das nicht wirklich, aber dafür hatte man eine ganze Menge verstanden vom performativen Charakter des öffentlichen Vortrags. Bei Chris Rapley hört man viel über den Klimawandel, doch wenn man nach einer guten Stunde in die warme Winternacht entlassen wird, bleibt vor allem die Erinnerung an Katie Mitchells atemberaubende Nutzung des Theaterraums für eine abstrakte Bühnenbildinstallation. Bildertheater.

 

2071
von Duncan Macmillan und Chris Rapley
Englisch mit deutschen Übertiteln, Übersetzung von Corinna Brocher
Deutsche Erstaufführung
Regie: Katie Mitchell, Bühne: Chloe Lamford, Komposition: Paul Clark, Licht: Jack Knowles, Video: Luke Halls, Sound Design: Ben Ringham, Max Ringham.
Mit: Chris Rapley.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

Eine Koproduktion von Royal Court Theatre London und Schauspielhaus Hamburg

www.schauspielhaus.de
www.royalcourttheatre.com

 

Vor einem Jahr machte Katie Mitchell an der Berliner Schaubühne mit Duncan Macmillans Atmen klimaneutrales Theater, indem sie die Schauspieler die Energie für die Aufführung auf Fahrrädern selbst erstrampeln ließ.

 

Kritikenrundschau

Wie wird die Erde 2071 aussehen? "Mit dieser Art Fragen richtet sich Chris Rapley ans Publikum. Das Thema Klimawandel soll dabei nicht als Wissenschaftsvortrag an den Zuschauern vorbeirauschen, sondern uns allen klarmachen, was passiert und wie wir die Zukunft kreativ gestalten können", schreibt Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (19.12.2014). Katie Mitchell hat um Rapley drei riesige Wände inszeniert, auf denen animierte Bilder von der Welt und ihren Bedrohungen zu sehen sind. Was Rapley erzählt, wertet er nicht, "er bringt Fakten und erklärt sie. Es klingt bedrohlich genug und jeder Zuhörer versteht, dass wir unser Verhalten ändern müssen". Das alles könne jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass bahnbrechend Neues hier nicht vorgetragen wird.

Rapley folge an diesem Abend vor allem seiner Mission, das Publikum davon zu überzeugen, dass schnell voranschreitende Erderwärmung von uns Menschen gemacht ist, so Dirk Schneider in DLF Corso (18.12.2014). Dass er kein Schauspieler sei, könne man ihm nicht vorwerfen, "an seiner Bühnenwirkung muss sich die Aufführung aber doch messen lassen". Seinen 70-minütigen Text liest Rapley von einem Teleprompter ab. Nicht die Aufführung, alleine der Inhalt ist es, der über Strecken fasziniere. "Tatsächlich gibt es immer wieder Momente, in denen hinter den vielen Zahlen auch die ästhetische Schönheit von Rapleys Forschungsthema aufscheint." Der Zweck heilige also die ästhetischen Mittel? "Dem Klimaforscher Rapley kann man keinen Vorwurf machen, aber man kann von einem Theater enttäuscht sein, das sich im vermeintlichen Dienst an einer größeren Sache selbst verleugnet."

 

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