Familie und andere Gemeinheiten

von Alexander Schnackenburg 

Oldenburg, 13. April 2007. Dass sich der Dramatiker Kristo Sagor brennend für Frankenstein interessiert, konnte niemanden überraschen. Auf diesen jungen (1976 geborenen) Autor, der immer wieder so ungemein scharfsinnig den Egoismus seiner Figuren in den passenden gesellschaftlichen Kontext einzubetten versteht und der nichts mehr zu lieben scheint als die großen kleinen innerfamiliären Gemeinheiten - auf diesen Autor musste der "Frankenstein" einfach eine magische Anziehungskraft ausüben. Zumal einem leibhaftigen Monster ohnehin niemand widerstehen kann, der eine Affinität zu Science-Fiction-Stoffen und Horrorgeschichten hat.

Zwar steht es auch heute noch in Frage, inwieweit man die arme Kreatur des egomanen Forschers Victor Frankenstein als Monster bezeichnen darf, und auch Kristo Sagor legt sich diesbezüglich nicht fest. Gleichwohl kokettiert er fröhlich mit der grauenhaften Erscheinung der Kreatur (Jens Ochlast), welche noch jeden Mitmenschen (mit Ausnahme eines Blinden zu Beginn des Stücks), erschaudern lässt. Allerdings scheint hier eher Sagors Liebe zu starken Theatereffekten durch, als dass man dem Autor, der das Stück in Oldenburg auch inszeniert, Oberflächlichkeit vorhalten müsste. Im wesentlichen geht es Sagor um die ethischen Fragen, die der Stoff aufwirft, was sich in einer feinen, dramaturgisch geschickt eingefädelten Enthüllungsgeschichte zeigt.

Crossmediale Wiederbelebung

Das eigentliche Monster ist bei Sagor nämlich Doktor Victor Frankenstein selbst,  der Wissenschaftler, der sich dem Publikum zunächst als rührend besorgter Familienvater vorstellt und der sogar bereits mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden ist, weil er einen Impfstoff gegen das Aids-Virus entwickelt hat. Ein reiner Zufall allerdings, wie der Zuschauer erfährt – und umgehend erste Einblicke in die eigentlichen wissenschaftlichen Interessen des Victor Frankenstein erhält. Sagors Frankenstein experimentiert mit menschlichen Embryonen, hat – mangels "neutralen" Materials – kurzerhand aus eigenen Spermien und aus Eizellen des Kindermädchens Justine (Simone Oswald) ein menschliches Wesen geklont. Ein  Wesen indes, das er hartnäckig nicht als menschlich anerkennen mag, weil er die Stammzellen seines "gescheiterten Experiments" für schadhaft hält. Wir sehen, wie der Doktor dem völlig durch Krusten und Narben entstellten Geschöpf eine Giftspritze in den Rücken rammt – ohne den gewünschten Erfolg allerdings. Das "Monster" überlebt den Anschlag und schlägt sich fortan im Untergrund durch.

Derlei Rückblenden zeigt Sagors Oldenburger Inszenierung in den eindrucksvollen Kurzfilmen des Co-Autors Marc Reisner. Auch das Ende Frankensteins, fernab in einer antarktischen Forschungsstation, führen uns Sagor und Reisner filmisch vor Augen. Live-Szenen, aufwändige Filmeinspielungen und kleine Videoprojektionen bilden in dieser Inszenierung eine bemerkenswert dichte Einheit. Dieser Frankenstein bedient, um ein fast schon wieder abgedroschenes Modewort zu bemühen, alle Ansprüche an Crossmedialität. Und zwar auf sehr überzeugende Weise. Sowohl das Stück als auch die szenische Umsetzung sind ebenso hintersinnig wie unterhaltsam, so anregend wie aufregend. Es ist dem Produktionsteam gelungen, ein modernes, neues Theaterstück zu entwickeln und gleichzeitig den Frankenstein-Mythos mitsamt "Monster" wieder zu beleben. Gut vorstellbar, dass nicht nur anspruchsvolle Theaterliebhaber an dieser Inszenierung ihren Spaß haben werden, sondern auch der eine oder andere Filmfreak, welcher sonst kaum ins Theater zu bewegen wäre.

 

Frankenstein
nach Mary Shelley
von Kristo Sagor und Marc Reisner
Inszenierung: Kristo Sagor
Mit: Jens Ochlast, Simone Oswald, Sylke Hannasky

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