Wo Sprache tropft, da lass dich nieder

von Petra Kohse

Berlin, 21. Februar 2008. Kleist zeigt Schlimmeres als einen Alptraum. Er zeigt, wie der Augenblick der Hingabe, der dem Begehren folgt, als Vernichtung ausgelebt wird: Vernichtung des Begehrens und Vernichtung des Begehrten. Er zeigt den blinden Fleck in der Seele der Frau und Königin. Und wie dieser sie nicht nur beherrscht, sondern auch verschlingt. "Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder, / Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz / Mir ein vernichtendes Gefühl  hervor...".

Penthesilea sucht Achill, und Achill sucht Penthesilea. Sie treffen sich auf dem Schlachtfeld, wo er sich ihr als Mann ergibt, als Feldherr aber siegreich ist. Sich verbinden zu müssen, um ganz zu werden, was sie will, hält die Amazonenkönigin nicht aus. Sie flieht in Wahn, Blutrausch und den eigenen Tod.

Schon bei Kleist gibt es diesen klinischen Aspekt, wenn sich das Geschehen weniger vollzieht, als dass Vollzug bloß immerzu geschildert wird. Und diesen reißerischen Charakter durch das Dauerentsetztsein der atemlosen Berichterstatter, die die Schatten des Berichteten übergroß an die Wand werfen.

Heute nennt man es Angst vor Nähe
Luk Perceval
sattelt auf beides auf, wenn er "Penthesilea" in der Schaubühne jetzt als archaisch bebildertes Hörstück in einer geschlossenen Anstalt vorführt. Mit Darstellern, deren Haare, Gesichter und Körper kalkweiß geschlammt sind und deren Augen und Münder in einem entzündlichen Rot glühen, als hätten sie seit Jahren keine Sonne mehr gesehen. Die mit nackten Beinen in schlabbrigen Männernachthemden (Amazonen) oder mit nackten Oberkörpern in schlabbrigen Hosen (Griechen) und allesamt in schwarzen Arbeitsschuhen stecken.

Für den Regisseur indessen scheint der Alptraum schon das höchste Ziel zu sein. Denn obwohl der (nicht nur) weibliche Double-Bind des Nicht-mit-mir-und-nicht-ohne-dich (auch bekannt als: Angst vor Nähe) in den zweihundert Jahren seit Entstehung des Stückes durchaus gründlich analysiert und trivialisiert worden ist (Tod des Märchenprinzen!), will Perceval trotzdem bloß darüber raunen, als handle es sich dabei nicht um sich gegenseitig blockierende Projektionen, sondern um einen gewissermaßen naturhaften Sündenfall.

Der Sound des Schicksals
In der Mitte der runden Bühne hat Annette Kurz ein riesiges Bündel von Holzstäben aufgestellt, vielleicht viermal so hoch wie die Darsteller und oben von einem Metallgeviert zusammengehalten. Zu Beginn verdrehen die Griechen die Hölzer wie Mikadostäbe, so dass man ab jetzt auf ihren Fall wartet, der am Ende auch erfolgt. Bis dahin wirft das Bündel den Schatten einer Sanduhr an das Rund der Betonrückwand, und das Licht wandert von links nach rechts.

Die Schicksalszeit also läuft, und der Experimentalmusiker Jean-Paul Bourelly steht mit seinen E-Gitarren vor einem Verstärker rechts am Rand und klopft und bürstet Herzschlagrhythmen auf die Saiten, instrumentiert die ganz große Angst und Zerstörung oder improvisiert zu leiseren Stimmungen.

Immer im Kreis herum
Das symbolische Arrangement und der Klang. Das Bühnenrund wird von herabhängenden Mikrofonen markiert, in die die Griechen so demütig Bericht erstatten, als hätten sie dabei direkten Kontakt nach ganz, ganz oben. Sie flüstern und hauchen, lassen keine Silbe auf den Boden fallen, sondern schicken alles sorgfältig in die Richtung einer so drohenden wie offenbar tröstlichen Außenwelt. Dann wieder schlurfen sie in geisterhafter Blässe vor der Betonwand entlang oder ziehen im Dauerlauf Kreise.

Dass Katharina Schüttler als Penthesilea die Mikrofone in Schwingung versetzt, einfach draufhaut beim Vorbeirennen, ist die größtmögliche Provokation in diesem System und wird mit Unterwerfung geahndet. Und die Unterwerfung mit verzweifelter Rache. Was hier heißt: mit dem Bericht von verzweifelter Rache.

Bettina Stucky, Christina Geiße und Carola Regnier als die weiteren Amazonen, Rafael Stachowiak als Achill und seine Kampfgenossen performen ein Hör- und Schattenspiel. Einer lässt Sprache tropfen und die anderen stehen starr und stumm. Penthesilea, die entsetzte Entsetzliche, ist bei Schüttler eine hölzerne Halbwüchsige im Hemd, Stachowiaks Achill der Liebessieggewisse, ein sportlich-lässiger Kumpel von nebenan.

Bloß Ungesagtes statt Unsagbarem
Es herrscht hier in mehrfacher Hinsicht eine Dramaturgie der Leerstellen, die aufs Unsagbare zielt, aber im Ungesagten verharrt. Nicht, dass diese Hörspielästhetik nicht immer wieder konzentrierte Momente hervorbringen würde. Dann aber bewegen sich die kalkigen Darsteller plötzlich und stauben dabei albern oder posieren gruftig, als wäre es fürs Gothical oder die Geisterbahn.

Am Ende stürzen die Riesenmikados auf die Erde und bilden die Trümmer von etwas, das hätte entstehen können, derweil Katharina Schüttler immer wieder "Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder..." vor sich hinsagt und den Haufen umkreist. Kein Tod, sondern bloß die Hölle der Zwangshandlung, das zumindest ist realistisch, allerdings auch pathologisiert und dadurch endgültig dem Unbegreifbaren zugeordnet.

 

Penthesilea
von Heinrich von Kleist
in einer Fassung von Luk Perceval und Maja Zade
Regie: Luk Perceval, Bühne: Annette Kurz, Kostüme: Ursula Renzenbrink, Musik: Jean-Paul Bourelly. Mit: Christina Geiße, Manuel Harder, Ulrich Hoppe, Michael Rastl, Heiko Raulin, Carola Regnier, Katharina Schüttler, Rafael Stachowiak, Bettina Stucky.

www.schaubühne.de

 

Mehr zu Luk Perceval: Molière. Eine Passion – Luk Percevals Theatermarathon, Salzburg 30.7.2007. Luk Perceval wird Chefregisseur am Thalia Theater Hamburg, Meldung 8.11.2007.; www.lukperceval.info

 

Kritikenrundschau

"Dieses Theater kommt einem erstickend nahe. Es ist intensiv. Aber im Großen und Ganzen ist es doch Folter." schreibt Matthias Heine (Welt, 23.2.). Denn Perceval mache mit dem Stück das, was Penthesilea mit Achill macht: "Er zerfleischt das Stück. Und er spuckt die Fetzen in eine große Suppe, die mehr mit einem Ritual zu tun hat als mit einer konventionellen Aufführung des Dramentextes." Perceval und Co. wollten dort hinabtauchen, wo sie auf dem "tiefsten Grund des Antiklassikers Kleist archaisches Triebleben und nackten Wahnsinn vermuten". Und zum E-Gitarren-Sound merkt Heine an: "Viele hielten sich vor der Musik die Ohren zu. Mich überkam dieses Bedürfnis eher, wenn die Schauspieler sprachen." Das "Korsett der Inszenierung" erlaube nämlich nur vier Ausdrucksarten: "rennen, hecheln, schreien und flüstern". Schüttler sei dabei nur "eine Brüll- und Trampelzutat unter vielen".

Durchaus "beeindruckend, aber leer" findet Nikolaus Merck (Frankfurter Rundschau, 23.2.) diesen Abend der "schweren Bühnenzeichen". Der "Glutkern aus Begehren und Fremdheit" prädestiniere die "Penthesilea" dabei geradezu für "Luk Percevals ethnologisches Theater. Hoch abstrakt konzipiert, operiert dieses Theater mit archaischen, essenzialistischen Bildern." Die "Stimmverfremdung per Mikro" und das "erschöpfende Rennen" seien die "bekannten Stilmittel des Perceval-Ethno-Theaters, das uns, vermeintlich, Bekanntes fremd macht". Es sei jedoch "die Schwäche des Abends, dass er statt der Geschichte zwar starke Stimmungen und kurz aufscheinende Bilder gibt, das in Fremdheit und Atmosphäre Aufgelöste jedoch nicht zu einem neuen Ganzen verbindet."

Christine Dössel (Süddeutsche Zeitung, 23.2.) sieht das anders. Der Abend komme zwar der "unspielbaren Tragödie" nicht wirklich bei, sie wisse aber davon zu raunen, "wie sie sich anfühlt". Perceval inszeniere das Stück "als Geburt der Tragödie aus dem Geist von Jimi Hendrix und der Experimentalmusik". Und die Musik "kann mal quälend sein bis an die Grenze zum Kitsch und zum Pathos, dann wieder sehr berührend – zwischen beiden Polen bewegt sich dieser Abend, der eine große Kunstanstrengung ist, und dessen Kunst deshalb auch nicht ganz ohne Anstrengung zu haben ist". Perceval erzeuge "eine kalte, klaustrophobische Atmosphäre vom Krieg als Endzustand", die Figuren hätten "etwas zutiefst Pathologisches". Und "wer sich mit offenen Sinnen einlässt", überdies "manch gezierte Pose verzeiht, der wird durchaus angefegt, angerührt von der eruptiven Wucht". Vor allem von den Frauen: "Katharina Schüttlers Penthesilea drückt (...) einen solchen Extremismus des Fühlens aus, dass der Blitzschlag der Liebe, der sie so unerwartet trifft und im Innersten zerreißt, glühende Funken des Hasses, des Stolzes und der tiefsten Verwirrung sprüht."

Nach Irene Bazinger (FAZ, 23.2.) habe man es dagegen mit einem "Kraft-durch-Unfreude-Theater" und mit Figuren zu tun, die "am dünnen Faden der Regie-Arroganz" regelrecht eingehen. Die Inszenierung sei schlicht eine "Frechheit", schimpft sie. Denn: Perceval setze "ausschließlich auf Krawall und Lautstärke". Dabei wisse "inzwischen jedes Kind, dass Schreien lediglich die Stimme steigert, nicht die Argumente".

Rüdiger Schaper (Tagesspiegel, 23.2.) sagt ebenso entschieden: "Nein. Dieses Theater nervt. Es bewegt sich nicht. Und wenn es sich bewegt, ist es vorhersehbar." Wie "bitter" das sei, "wenn ein so formbewusster Regisseur wie Luk Perceval das Drama schockgefriert. Zwei Stunden lang hält sich das Ensemble auf einer monotonen Oberfläche. Eine Zustandsbeschreibung, nicht die Beschreibung eines Kampfs". Und dann "diese Kälte!". "Grau-weiß ist die Grundfarbe der Inszenierung, und von Anfang an ist alles so gepolt, wie es am Ende sein wird." Perceval habe "eine solche Angst vor (falscher) Theatralik, dass er sich in Kunstformen des Ungefähren flüchtet". Diese "Penthesilea" sehe aus "wie eine Off-Produktion der Achtziger, nur sehr viel teurer".

Ulrich Seidler (Berliner Zeitung, 23.2.) zufolge ist es eine "graue Messe", die Perceval da inszeniert hat: "Es gibt Rituale, Gebete, Opfer, Heilsversprechen und viel Im-Kreis-Gerenne. Der Jazz-Musiker Jean-Paul Bourelly gibt, auf der E-Gitarre improvisierend, den Zeremonienmeister. Am Ende reinigt ein Gewitter, wenn die Balken niederkrachen und die Schaubühne zittern lassen." Das sei ein "guter Plan", nur leider werde er "viel zu gut durchlüftet von ästhetischem Wollen". So komme es, dass "die Realität, die Perceval hereinlässt" nicht zum Zuge komme: "Das Geschehen bleibt angefertigt, kunstgewerblich und sportiv." Und Katharina Schüttler? Ihre Kraft reiche "nicht für mehr als Trotzigkeit". Und die Musik? "Kunstkrach".

"Krieg ist eine Droge", und die Musik in Percevals Inszenierung sei "ein Trip", schreibt Christiane Kühl in der taz (23.2.). Warum also bringt Penthesilea den um, den sie liebt? "Weil Krieg ist", antworte die Inszenierung. "Das "große Gefühl" als Hoffnungsträger hat Perceval aufgegeben. Die Liebe ist in seinem Drama nicht fehlgeleitet, sondern durch permanenten Kriegszustand und andauernde Erniedrigung unmöglich." So sei es folgerichtig, dass Penthesilea am Ende nicht aus ihrem Rausch erwache, wie alle Krieger ist sie "reif für die Klinik". Katharina Schüttler bleibe als Penthesilea dabei "blass". Ihr Nachthemd erscheine "bald wie eine Zwangsjacke, in der sie ausrastet oder wie sediert ins Leere starrt."

Christine Wahl (Spiegel online, 22.2.) behauptet, alles erstarre an diesem Abend "zur leeren Pathosformel mit erhöhter unfreiwilliger Komikgefahr". Weil dem Abend der Stoff fehle, würden "Stellvertreter-Pobleme nicht lange auf sich warten" lassen. Außerdem wisse Perceval mit Kleists "außerordentlicher Sprache" wenig anzufangen. Zu erleben sei eine "Mixtur aus Radiothriller und Flirthotline". Bei Katharina Schüttler würden, wie momentweise auch bei Carola Regnier, "immerhin blasse Ahnungen" aufscheinen, "wie es hätte werden können". Das indes sei nur ein "schwacher Trost".

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