Was will die Welt von mir?

von Dirk Pilz

Berlin, 15. Januar 2015. Dea Loher hat sich ein neues Drama ausgedacht und "Gaunerstück" genannt. Die Figuren heißen Maria, Jesus Maria, Madame Bonafide, Porno-Otto und Herr Wunder. Ja, wirklich.

Für Dea-Loher-Kenner ein netter Scherz. Lang, sehr lang ging es in ihren Stücken so zu, dass man sie darauf testen konnte, wie lange es dauert, bis zum ersten Mal das Wort Schuld fällt, bis eine Figur von Glück spricht und Unglück meint, bis Missverständnisse in Gewalt und Traurigkeit in Schweigen umkippen – und bis Gott ins Spiel kommt. Hier kommen sie nicht vor, weder die Schuld noch Gott. Hier gibt es Maria und Jesus Maria, die Zwillingsgeschwister, die ihre Namen einem Witz ohne Pointe verdanken, sowohl theologisch wie witz- und dramentechnisch.

Sehet, der Zufall!

Das ist ihre Geschichte: Der spanische Vater ist früh weg, die Mutter säuft, bis die Kinder davonlaufen, weil: "Zukunft ist jetzt oder sie ist gar nicht". Leben ein Hilfsarbeiterleben danach und träumen vom Aufstieg ins helle, lichte Reich des Geld- und Zukunfthabens. Alle Träume aber sind eingekeilt vom Gestank des Lebens, von ätzenden Erinnerungsdämpfen, beißender Aussichtslosigkeit.

Gaunerstueck1 560 ArnoDeclair hHier riecht's nach Niedergang: Judith Hofmann, Beppe Costa, Fania Sorel. © Arno Declair

Nebenan haust Madame Bonafide, "groß und schlaksig", mit einem "blondierten Haarturm", bei ihr stinkt's "abartig", wie "Schwaden aus einem heißen Schlachthaus". Unten hockt Porno-Otto, "klein, dick und behaart wie ein Tier", er "riecht nach Gärung", nach Tod und Niedergang. Aus dieser Welt ist keine Erlösung. Für diese Gegenwart braucht's Wunder. Und siehe da: Auftritt Herr Wunder. Ein Juwelier, der den Zwillingen einen Erlösungsdeal vorschlägt: Sie überfallen ihn, er kassiert die dicken Versicherungsgelder, sie gehen mit einem Bündel Tausender heim. Sie spielen mit, aus Lust am Verbrechen, aus Spaß am Spiel. Am Ende ist Herr Wunder tot, und die Zwillinge sind reich. Sehet, der Zufall siegt über die Logik, das Spiel sprengt alle Fesseln.

Und die Wirklichkeit!

Sie finden das herbeikonstruiert? Es ist herbeikonstruiert. Das Stück tut so, als könne man sich bei der Wirklichkeit als Teilzeitmitbewohner einmieten, als wäre sie der interessante Küchentischgesprächspartner, den man gern für eine anregend-heitere Rotweinrunde zu Gast hat, um sie hernach freundlich, aber bestimmt wieder davonzuscheuchen.

Dea Loher sucht mit "Gaunerstück" nach anderen dichterischen Wegen, ja. Schuld, Gott sind gestrichen, Ersatz ward noch nicht aufgetan. Aber immerhin: eine Suche. "Was will die Welt von mir?", fragt Jesus Maria einmal. Das ist die Grundfrage des "Gaunerstücks", aber es bräuchte Welt, um darauf antworten zu können.

Also nimmt Alize Zandwijk in ihrer Uraufführung den Text bei der Hand und führt ihn durch Wirklichkeiten herum, wie man Kindern zeigt, was es am Wegesrand zu entdecken gibt. Also verdoppelt sie die Zwillinge, lässt Hans Löw und Miquel de Jong Jesus Maria und Judith Hofmann und Fania Sorel Maria sein, auf dass die Weltanämie der Vorlage sich hinter Satz- und Szenenklöppelei verstecken lasse. Was nicht gelingt.

Aber ach, das Achselzucken!

In türkisblassem Bunker werden die Worte herumgereicht, wird mal im Chor, mal gegeneinander gesprochen, wird in Tänze gefallen und mit Tüchern hantiert. Alles in dem händeringenden Versuch, eine Wirklichkeit herbeizuschaffen, an der sich reiben, mit der sich spielen ließe. Dieses Wunder aber bleibt aus. Statt dessen: der allervergeblichste Versuch, illustrierend die Leere zu füllen.

Ist von blauem Kühlschranklicht die Rede, schaltet das Bühnenlicht auf Blau. Geht's um Mutters Bügelarbeit in der Wäscherei, wird zur Waschmaschine geschritten. Braucht's Atmosphäre, greift Beppe Costa energisch in die Gitarrensaiten, das allerdings sehr schön. Und wenn Elias Arens als Herr Wunder die Glieder verkrampft oder als Madame Bonafide den blondierten Haarturm vorführt: immerhin die skurrile Müh', den bloßen Bebilderungsfesseln zu entkommen. Ein bisschen, momentweise.

Oder will dieser Abend allen Ernstes ein gesellschafts-, wenigstens ein wirtschaftskritisches Parabelwerk sein, das der Diktatur des Zweck- und Zahlendenkens die unermessliche Freiheit des Dichtens und Spielens entgegenstellt, also eine Welt erfindet, in der alles erlaubt ist, auch die Rebellion wider die Wirklichkeit? Kann sein. Traurig nur, dass an diesem Abend die schlimme wie die schöne Gegenwartswirklichkeit achselzuckend, unberührt und unerreicht vorübertrottet. Und daran ist nicht die Wirklichkeit schuld, sondern ein Theater, das von Wundern erhofft, was es doch erspielen müsste.

Was will dieses Theater von der Welt? Dass sie bleibt, wie sie ist, auf dass es hinterherhoppeln darf.

 

Gaunerstück
von Dea Loher, Uraufführung
Regie: Alize Zandwijk, Bühne und Kostüme: Thomas Rupert, Musik: Beppe Costa, Choreographie: Miquel de Jong, Dramaturgie: John von Düffel.
Mit: Judith Hofmann, Fania Sorel, Hans Löw, Miquel de Jong, Elias Arens, Beppe Costa.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Dass man irritiert und verunsichert, also seelisch und gedanklich bereichert aus der Aufführung eines Stücks von Dea Loher kommt, hat man schon öfter erleben dürfen", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung und der Frankfurter Rundschau (17.1.2015). "Diesmal aber ist man darüber hinaus auch noch wohlstens gestimmt, ja heiter!" Die Aufsplitterung der Figuren in jeweils zwei Spieler erweitere den dialektischen Schau- und Denkrahmen. Spielhandlungen sowie schöne Laken-schüttel-, Gegen-die-Wand-renn- und Auf-die-Matratze-werf-Choreographien illustrierten oder konterkarierten den Text. "Die Figuren können sich selbst befragen und beim Sprechen beobachten; sie können neben sich treten, als Erinnerung aus vergangener Zeit oder als Zukunftsvision erscheinen." Loher und Zandwijk nähmen die Bühne als Überall- und Immer-Raum, so Seidler. "Hier kann man sich erholen von der Knechtschaft durch Chronologie und Kausalität, die vermutlich ohnehin nur Sortierhilfen für unser unzureichendes Erkenntnisvermögen sind."

"'Gaunerstück' ist der gefühlt fünfzigste Abend, an dem man sogenannte 'kleine Leute' in pittoresk abgerockten Szenarien herzallerliebste Stehaufmännchen spielen sieht", ist dagegen Christine Wahl im Tagesspiegel (17.1.2015) äußerst genervt. In konsequenter Tateinheit mit dem Ausstatter vermeide auch die Regisseurin jedwede Originalität. Und auch Dea Loher kriegt ihr Fett weg für ihre "papiernen Figuren". Wahls Fazit: "Und da die beiden nicht gestorben sind, werden sie wohl bald in der nächsten 'Kleine Leute'-Inszenierung den Restputz von den Wänden kratzen."

Ein "bewegtes Stück Theaterglück mit zauberhaften Momenten" hat dagegen Stefan Grund gesehen und schreibt in der Welt (17.1.2015): "Immer wieder gelingen Zandwijk, wenn es um Sehnsüchte und die Schicksalsschleuder geht, überwirkliche Momente, in denen die Schauspieler abheben dürfen."

"Loher zeichnet Theater-Personal wie niemand sonst es kann", oder auch: "Nur Dea Loher schreibt Pausen wie Ödön von Horvath." Im Deutschlandradio Fazit (15.1.2015) ist auch Michael Laages voll des Lobes. Selbst in tiefster gedanklicher Finsternis durchziehe auch diesen Loher-Text wieder "jenes Maß an fundamentaler Menschenliebe, die das Werk der Autorin so besonders macht". Mit Alize Zandwijk, deren Uraufführungsinszenierung ihn auch überzeugt zu haben scheint, habe Loher "eine starke Partnerin" gefunden.

"Nicht jedes Stück, indem es um Brillanten geht, fängt dadurch auch schon zu glänzen an." So beendet Irene Bazinger ihre Rezension von Dea Lohers neuem Stück in der Frankfurter Allgemeinen (19.1.2015). Vorher hat sie bereits nach Antworten auf die Motivation der Figuren gesucht und ausgerufen: "Fragen Sie Frau Loher, die dramatisierende Jugendfürsorgerin und Sozialstückspezialistin, die nichts gegen hochfliegende Träume hat, solange die auf dem Boden der Tatsachen bleiben". In der "sehr biederen Inszenierung" von Alize Zandwijk schließlich werde "die Schmonzette einerseits furchtbar ernst, andererseits auf die demonstrativ leichte Schulter genommen".

Dea Loher erzähle eine Kindergeschichte über die Sozialverlierer unserer Gesellschaft und bediene damit letztlich doch nur den Zoo-Effekt, heißt es bereits in der Unterzeile von Peter Laudenbachs Kritik in der Süddeutschen Zeitung (20.1.2015). Der Text lasse weder prägnante Figuren noch echte Einblicke in soziale Unterwelten entstehen. "Bei der Uraufführung setzt die niederländische Regisseurin Alize Zandwijk entschlossen auf eine dekorativ-nette Künstlichkeit. Also auf genau die weichgespülten Stilmittel und Tonlagen der Vorlage." Fazit: "Belanglose Kunstübung".

 

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