Morden als natürlicher Zustand

von Stefan Keim

Detmold, 16. Januar 2015. Herzog Theodor hat seinen Bruder umgebracht. Wenig später erkennt er, dass der Mord ungerechtfertigt war. Es ist ihm egal. Er hat nun schon so viel getötet, jetzt kann er auch einfach weitermachen. Der junge Christian Dietrich Grabbe hat 1822 ein ungewöhnlich bitteres und zynisches Theaterstück geschrieben. Seine Zeitgenossen konnten nichts damit anfangen, wenn sie denn überhaupt Kenntnis davon nahmen. Uraufgeführt wurde es erst 70 Jahre später. In den vergangenen Jahren wird es gelegentlich wieder inszeniert, in Karlsruhe, München und in der Bochumer Rottstraße 5 – nun auch in Grabbes Heimatstadt Detmold.

Täglich einen Weißen töten

Das Stück wirkt, als habe der dauerhaft betrunkene Dichter die gemeinsten Texte William Shakespeares zusammen gerührt. Herzog Theodor spricht nihilistische Monologe wie Macbeth, die Geister seiner Opfer erscheinen ihm wie Richard III., und die ganze Handlung ist ein Dauerfeuer der Grausamkeiten wie in "Titus Andronicus". Darin findet sich auch die Figur eines boshaften Schwarzafrikaners. Bei Grabbe heißt er Berdoa und führt als Oberfeldherr die Finnen in eine Schlacht gegen die Schweden, deren Kronfeldherr Theodor ist. Der ahistorische Hintergrund ist frei erfunden. Doch die Beweggründe Berdoas sind es nicht. Er ist ein ehemaliger Sklave und hat geschworen, sich an den Europäern zu rächen. Keine Nacht will er schlafen, wenn er nicht zuvor einen Weißen getötet hat. Grabbe zeigt nicht nur die Bedrohung durch diesen Fanatiker, sondern deutet auch an, was ihn zum Monster werden ließ. Rassismus ist ein zentrales Thema des Stücks, das ist für die deutsche Biedermeierzeit mehr als fortschrittlich.

gothland1 560 landestheater quast uRoman Weltzien als Christian Dietrich Grabbe © Landestheater Detmold / Quast

Völkermord ist Königsrecht

Die vielen Wendungen der Handlung lassen sich kaum nacherzählen und würden höchstens verwirren. Im Kern geht es darum, dass jedes Vertrauen erschüttert wird und jeder jeden verrät. Exemplarisch wird die Familie der Gothlands zerstört. Herzog Theodor ermordet seinen Bruder und verrät sein Land. Sein Vater jagt eine Armee auf ihn, am Ende ist es Theodors Sohn, der die Widersacher zum Zelt seines Vaters leitet. Seine Frau schickt der Herzog in den Tod mit den Worten: "Was tut's denn auch, ob so ein Weib krepiert?" Einen positiven Helden gibt es nicht. Wer noch nicht ganz verdorben ist, erliegt der nächsten fiesen Intrige. Lernen werden die Menschen aus ihrer Geschichte keineswegs, analysiert Herzog Theodor. Im Gegenteil, Völkermord sei ein Königsrecht. Diese pessimistische Sicht auf die Historie teilt viele Jahre später Heiner Müller, der ein Grabbefan war. Regisseurin Tatjana Rese, die scheidende Oberspielleiterin des Landestheaters, bringt Grabbe als zusätzliche Figur auf die Bühne und legt ihm Texte Müllers in den Mund, aus dem thematisch ähnlichen Stück "Der Auftrag".

Einem satten Publikum Schmerzen zufügen

Immer wieder taucht der Schauspieler Roman Weltzien als Grabbe auf und schlägt mit gedankenklarem Rezitieren Brücken in die Gegenwart. Wenn Müller einen "Mann im Fahrstuhl" beschreibt, der dem "Anderen" begegnet, im Wissen, dass nur einer davon überleben wird, ist das genau die Situation von Herzog Theodor und Berdoa. Der Weiße und der Schwarze gehören schicksalshaft zusammen. Sie sind Kontrahenten, Todfeinde – und einander entsetzlich ähnlich. Die Strichfassung des ausufernden Stücks pointiert die Unmöglichkeit menschlicher Nähe, die Einsamkeit, das Morden als natürlichen Zustand der Bestie Mensch.

gothland2 560 landestheater quast uPhilipp Baumgarten (Theodor, Herzog von Gothland) und Christoph Gummert (Berdoa)
© Landestheater Detmold / Quast

Leider schafft es die Regisseurin nicht, für die vielen Gewalttaten eine überzeugende Stilisierung zu finden. Die Bühne (Ausstattung Reiner Wiesemes) zeigt abstrakte Bilder, eine Matratzenwand, die immer weiter zusammen fällt. Darauf werden Videos projiziert, die schwarzweiße Schlachtszenen aus dem ersten Weltkrieg enthalten, aber nicht konkret greifbar werden. Videokünstler Thomas Wolter hat auch das martialische Klangdesign geschaffen, ein Wirrwarr an Stimmen, als höre man ins Totenreich. Die Schauspieler könnten sich zurückhalten und Bilder in den Köpfen der Zuschauer heraufbeschwören. Oder sie könnten eine Splatterparty veranstalten und den Abend auf den schmalen Grat zwischen Horror und Trashironie treiben. Tatjana Rese und das Ensemble haben sich für einen Mittelweg entschieden, ein bisschen Balgen, ein bisschen Hauen, und wer stirbt, kippt in den Orchestergraben. Das wirkt unentschieden, harmlos und tut nicht weh. Grabbe jedoch wollte provozieren, aufrütteln, einem satten Publikum Schmerzen zufügen.

Sich dem Wahnsinn ausliefern

Die beiden Hauptdarsteller werfen sich mit großer Energie in die Rollen. Aber zynische Massenmörder ohne Hoffnung und Gewissen sind Philipp Baumgarten als Herzog Theodor und Christoph Gummert als Berdoa nicht. Sie wirken wie zutiefst liebenswerte Jungs, die mal richtig böse spielen, aber gleich nach Hause kommen, wenn Mutti das Essen fertig hat. Das klingt ein bisschen gemein, aber diese Rollen brauchen Spieler, die sich dem Wahnsinn ausliefern. Am besten funktionieren die Momente schwarz funkelnder Ironie, die Markus Hottenroth als schwedischer "Großer" und finnischer Feldherr in den Abend bringt. Auch Henry Klinder als alter Gothland hat im Rollstuhl einige packende Auftritte. Zudem hat die Aufführung ein sehr gelungenes Schlussbild. Dennoch bleibt der Eindruck, dass sich das Landestheater dem Stück zwar mit viel Hirn, Fleiß und Engagement genähert hat, aber sich am Ende doch nicht getraut hat, das Stück in der nötigen Spielradikalität auf die Bühne zu bringen. Wenn Grabbe Kompromisse eingegangen wäre, hätte er zu Lebzeiten größeren Erfolg haben können. Aber dann wäre er heute wohl vergessen.

 

Herzog Theodor von Gothland
von Christian Dietrich Grabbe
Regie: Tatjana Rese, Bühne und Kostüme: Reiner Wiesemes, Video und Klanggestaltung: Thomas Wolter, Dramaturgie: Christian Katzschmann, mit Philipp Baumgarten, Christoph Gummert, Roman Weltzien, Henry Klinder, Karoline Stegemann, Helene Grass, Markus Hottgenroth, Stephan Clemens.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.landestheater-detmold.de

 

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