Wenn sich die Alpenwut rötet ...

von Julia Stephan

Zürich, 17. Januar 2015. Die 13-jährige Dienstmagd Elsie sieht sich gross in der Welt. Sie will Künstlerin werden. In Florenz. Doch bevor sie aus ihrer kleinen Stellung entfliehen kann, wird die talentierte Geigerin von ihrem Hausherren, einem Schweizer Industriellen, geschwängert, mit Knecht Jakob notverheiratet, und auf einen Hof in der Nähe des Zürichsees abgeschoben. Dort träumt Gatte Jakob, ein Kind seiner Zeit, noch nicht vom BMW, aber vom eigenen Pferd. Eine Fantasie, die brutal mit Elsies feingeistigen Fidelambitionen kollidiert. Das ergibt: einen Totalschaden für die Ehe.

Die Schweizer Autorin Silvia Tschui hat diesen modernen Interessenkonflikt in einer Paarbeziehung ins bäuerliche Milieu des 19. Jahrhunderts verlegt und in archaischen Bildern drastisch zugespitzt. Ihr Romandebüt "Jakobs Ross" ist ein radikales Buch, das in hohem Tempo durch eine Handlungskette galoppiert. Alle Figuren folgen kompromisslos eigenen Interessen, Gewalt provoziert Gegengewalt – im Roman in einer sturzbachartigen Bilderflut. Statt des moralisierenden Novellentons eines Jeremias Gotthelf (1797-1854) klingt das eher nach dem pulsierenden Blutrausch eines Quentin Tarantino.

Alpenwut?

Auch im Programmheft von "Alpenwut", dem neuen Spielzeit-Schwerpunkt des Zürcher Neumarkt-Theaters, den "Jakobs Ross" eröffnet, brüllen uns erstmal allerhand helvetische Kraftausdrücke an. "Alpenwut ist eine Wallung des Herzens. Seien Sie dabei, wenn es wütet", bittet die Agenda. Nur wo und gegen wen, fragt man sich nach diesem Abend, haben die Eidgenossen denn nun genau ihre Faust erhoben? Oder steckt die Faust, wie so oft, wieder mal im Sack?

jakobsross1 560 caspar urban weber uFrisch gezopft, ein prachtvolles Stück Bauerntheater: Miriam Strübel
© Caspar Urban Weber
"Ich wollte, dass es so klingt, als wolle ein um Ernsthaftigkeit bemühtes Schweizer Kind eine Geschichte auf Hochdeutsch erzählen." So hatte Silvia Tschui vor einem Jahr den Ton ihres zwischen Schweizer Dialekt und Hochdeutsch changierenden Bestsellers umschrieben. Regisseur und Theater-Neumarkt-Leiter Peter Kastenmüller, gegen den in den letzten Monaten wegen schlechter Besucherzahlen ebenfalls heftig gewütet wurde, führt Tschuis Kindersprache mit Bühnenmitteln fort.

Mit dem Effekt, dass aus dem alles andere als jugendfreien Roman auf der Bühne eine Kindervorstellung geworden ist. Elsie (Miriam Strübel) braucht keinen erfrorenen Zehen nachzuweinen, sondern steht da in sauberer Tracht, frisch gezopft und bodenständig wie ein prachtvolles Stück Bauerntheater. Dekolletee zeigt ihr schwächlicher Knecht und Gatte Jakob (Dominique Jann), den sich Elsie mit ihrem Fidelbogen auf Sicherheitsabstand hält. Sex haben die beiden nicht, sie werfen sich höchstens dafür in Pose, im Doggy-Style, als stummes, andächtiges Standbild. Vokabeln aus dem Tierreich, mit denen die Männer Elsie im Roman eher bespringen als beschlafen, haben in dieser Bühnenfassung keinen Platz.

Baum und Ross und Doofgrimasse

Kastenmüller hat nicht nur sauber gemacht, er musste auch das nach allen Seiten fantastisch wuchernde Handlungs- und Personenangebot des Romans zurechtstutzen. Das, was fürs Theater übrig geblieben ist, spielt sich vor Jo Schramms genialer Bretter-Stallfassade ab, die die gesamte Längsseite des Zuschauerraums ausfüllt.

Auf ihr geistern die Umrisse der magischen Schattenwelt, die den Roman zur Hälfte beherrscht. Tschuis Sprache, die jedes Ding personalisiert, sogar Fusstritte, flüstert Vera Kappeler am Klavier und kratzt geheimnisvoll Peter Conradin Zumthor auf dem Schlagzeug. Das Duo tritt zum ersten Mal als Theatermusiker auf und gibt zur Grausamkeit einer Szene die Süsse hinzu, und salzt, wo nötig, auch wunderbar nach. Vor allem machen die beiden Übersinnliches erfahrbar. Haben Sie schon einmal einem Baum beim Wachsen zugehört? Eine PET-Flasche, langsam zusammengestaucht, macht's möglich.

Die "Kampfzone" bleibt leer

Damit der Inszenierung nicht der Humor von Tschuis Sätzen abgeht, waltet Andreas Matti nicht nur als Fabrikdirektor, sondern tappt auch als Verdingbub doof grimassierend hinter Elsie her. Als Jakobs wahr gewordener Traum von einem Ross, mit Halfter um den Kopf und launischen Sprüchen an seinen stolzen Besitzer, nimmt Matti dem bitteren Ernst etwas die Zügel aus der Hand.

Nur etwas bietet uns Kastenmüller nicht: die "Kampfzone" zweier Menschen, die er uns versprochen hatte. Und eben diese Wut. Denn die entlädt sich bei Tschui eben gerade nicht im Wort, sondern in der Tat. Für ein Sprechtheater kann das zum Problem werden. Die vor allem zu Beginn reichlich eingebauten Erzählpassagen bestechen zwar sprachlich, wirken im Bühnengeschehen aber hilflos montiert.

 

Jakobs Ross
nach dem gleichnamigen Roman von Silvia Tschui
Regie: Peter Kastenmüller, Bühne: Jo Schramm, Kostüme: Franziska Born, Dramaturgie: Fadrina Arpagaus, Musik: Vera Kappeler und Peter Conradin Zumthor.
Mit: Dominique Jann, Andreas Matti, Miriam Strübel.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theaterneumarkt.ch

 

Kritikenrundschau

"Das Theater, das mit den schlechten Zahlen von Kastenmüllers Einstandssaison 2013/14 unfreiwillig eine Debatte über die Zürcher Kultursubventionen im Allgemeinen lostrat, ist nun – durchaus kraftvoll und mit Karacho – aus jeder theatralen Relevanz hinausgaloppiert", schreibt Alexandra Kedves im Zürcher Tagesanzeiger (19.1.2015). Gemeinsam mit den Musikern würden die Schauspieler "eine Art konzertanten Holzschnitt in Grossformat" veranstalten. Doch das heutige Zürich sei weit entfernt von dieser "märchentrunkene Form von sozialkritisch-historischer Heimatliteratur".

"Kastenmüller bedient sich in allen Schauspielschubladen und amalgamiert die Mittel zum zeitgenössischen Volkstheater", schreibt Andreas Klaeui in der Neuen Zürcher Zeitung (19.1.2015). Und zwar "einmal expressiv, einmal innig, einmal drollig, einmal karikiert, aber nie jovial folkloristisch und stets mit sicherem Gefühl für Rhythmus- und Stimmungswechsel. Selbst die magische Gegenwelt im Einflussbereich der Eibe, der das Elsie so fatal verfällt, findet ihre durchaus bühnenwirksame Entsprechung, und auch das famose Ross tritt auf, im weichfelligen braunen Samtfrack und mit hochgradig selbstgefälligen Zügen – ein komödiantischer Höhepunkt." Die Bühnenmusik mache "die Prosa zum modernen Melodram, dieser Form, in der gesprochene Rede und Musik sich mischen; sie illustriert nicht, sondern weitet den Vorstellungsraum aus."

 

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