In der Zeitblase

von Claude Bühler

Basel, 23. Januar 2015. Die Aussicht auf die "Unmöglichkeit", den 1000-seitigen Roman Thomas Manns auf der Bühne erzählen zu können, habe ihm "gefallen", sagt Thom Luz im Interview (Programmbüchlein). Um gleich darauf, wie ein Kind zu rufen: "Schau, ein Rotkehlchen!" So unbeschwert scheint der 33-jährige Regisseur die Aufgabe mit dem Jahrhundertroman von 1924 anzugehen. "Endlos fasziniert" von der "Rätselhaftigkeit" des Romans inszeniert Luz einen psychedelischen Tanz der Todgeweihten, den Handlungsort – die Davoser Lungenheilstätte "Berghof" – als schattenhaftes Übergangsreich.

Präzise choreographiertes Gewusel

Er tut es einfallsreich, durchaus effektvoll, detailversessen. Castorp (Sylvester von Hösslin) guckt zunächst länger durch eine Bodenluke, als wäre er, der gesunde Gast seines kranken Vetters Joachim Ziemssen (Markus Mathis), unentschieden, ob er dieses Reich überhaupt betreten solle. Alle grinsen blöde. Das Licht ist grell gilbe, die Stimmung übermütig. Patienten und Ärzte, allesamt in schwarz (Kostüme: Tina Bleuler), vollziehen auf den vielen die Wände säumenden Harmonien und Klavieren eine Kakophonie wie am Kindergeburtstag.

zauberberg2 560 simon hallstroem uWo geht's hier zum "Zauberberg?" Silvester von Hösslin und Ensemble © Simon Hallström

Einer geht in Slow-Motion über die Bühne, spricht beschwörend und tonlos ins Publikum. Andere tauschen, immer wieder von Neuem, endlose Hin- und Her-Begrüssungsküsse. Jemand rezitiert in der Ecke leidenschaftlich, aber unhörbar Texte. Ein Mal vereinigt sich das "Berghof"-Personal zu einem Lalala-Chor: Die Amateurstimmen wimmern die Lohengrin-Ouvertüre. Um von da weg wieder in das präzise choreographierte Gewusel zu verfallen aus verlangsamten Gängen, angehaltenen Gesten, Klimpereien, Textrezitationen.

Chor-Akkorde und hypnotische Loops

Wir hören viel Musik, Romantisches, Neutönerisches, Schlagerpopuläres aus den Jahren der Spielzeit um 1907 oder älter; ergänzt mit dem nicht enden wollenden Fd-Fd-Fd einer ausgelaufenen Schallplatte, unergründlich tiefen Basstönen, Chor-Akkorden im Endloshall, hypnotischen Loops wird das Auditorium so permanent beschallt, dass ich mich benommen wie neben einer Kirche bei Vollgeläute fühlte.

Auch an Symbolen fehlt es nicht. Ein Glühbirne gleitet vom Himmel hoch hinab durch die Bodenluke. Ein raucherfüllter, lichtgefluteter Aufzug öffnet seine Doppeltür. Immer wieder senkt sich im Zeitlupentempo ein schwerer schwarzer Vorhang, wohl im Doppelsinn als den Tod, der im Sanatorium zuschlägt, aber auch als Tag-Nacht-Wende gemeint. Denn der Roman behandelt ja das Zeitempfinden Hans Castorps, der anstelle der geplanten dreiwöchigen Ferienreise am Ende sieben Jahre im Berghof verbringen wird, ohne ernstlich krank zu sein.

Mathaler und Resnais grüßen

In den Halbtotentanz werden – mal nach Romanreihenfolge, mal auch nicht – einige zentrale Handlungselemente eingestreut, mehr blass skizziert als ausgespielt: Castorps Affäre mit Madame Chauchat (Zoe Hutmacher), die philosophisch-kulturgeschichtlichen Streitereien des Humanisten Lodovico Settembrini mit dem zynisch gewordenen Jesuiten Naphta (beide: Cathrin Störmer), der Schneesturm, in dem sich Castorp verirrt, die spiritistische Sitzung. Dass in der letzten halben Stunde auf der Bühne nur mehr Düsternis herrscht, mag man als die Verstumpfung Castorps deuten.

zauberberg3 560 simon hallstroem uMusikalisches Verdämmern: Martin Gantenbein, Chantal Le Moign, Silvester von Hösslin
© Simon Hallström

Es ist eine eigenartige Stilmischung: Die skurrilen Elemente, etwa wenn gesungen wird oder die ironischen Kommentare Manns zu hören sind, erinnern an Marthaler, alles andere aber an Letztes Jahr in Marienbad (1961) von Alain Resnais. Wie hier entführte der Film das Publikum in eine Zeitblase, wie hier überliess er dem Publikum, die verwirrend montierte Geschichte zu rekonstruieren, in dem wie hier Harmoniumklänge hypnotisch die Choreographie von Gängen und Gesten, von Repetitionen und Zeitsprüngen im Eindruck steigerten. Dem Film warf man Formalismus vor, man kann dies auch Thom Luz vorhalten.

Denn in dem Gewebe, das gegen Ende wie eine zu lange geratene Geisterbahn wirkt, geht die Figur Castorps völlig unter. Also auch dessen Tragik, dass Thomas Mann einen karikierenden Bildungsroman schrieb, in dem er seinen Romanhelden und mit ihm eine gesellschaftliche Sphäre zu Grunde gehen lässt. Welches Verhältnis hat Luz zu Castorp? Was ist das Problem des lebensuntüchtigen Mannes? Warum brauchte diese Geschichte einen solchen Fokus? Welche Rolle spielt Settembrinis Denken für die Geschichte, für Castorp? Oder Madame Chauchat? Wir erfahren davon nichts. So bleibt die Aufführung zwar über weite Strecken unterhaltsam, aber in den wesentlichen Punkten oberflächlich und unentschieden.

 

Der Zauberberg
Nach dem Roman von Thomas Mann
Bühnenfassung von Thom Luz und Bettina Ehrlich
Inszenierung: Thom Luz, Bühne: Stephan Weber, Licht und Kostüme: Tina Bleuler, Dramaturgie: Bettina Ehrlich,Musikalische Leitung: Mathias Weibel.
Mit: Martin Gantenbein, Peter Jehle, Chantal Le Moign, Sebastian Ledesma, Markus Mathis, Daniela Pintaudi, Cathrin Störmer, Vera von Gunten, Sylvester von Hösslin, Mathias Weibel.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theater-basel.ch



Kritikenrundschau

Man meine "am Schluss, eine Ewigkeit in dieser Zwischenwelt verbracht zu haben. Dabei waren es doch nur zwei knappe Stunden", schreibt Alfred Schlienger in der Neuen Zürcher Zeitung (26.1.2015). Regisseur Thom Luz biete "handlungsarme Gleichförmigkeit" mit "exquisiten Tönen und Geräuschen unterlegt". Seine Bühnenfassung des Mann-Romans "fokussiert auf eine Grundstimmung und auf einzelne Motive des Romans, die wie ein traumverlorener Sog wirken wollen", und "entbehrt nicht einer gewissen sedierenden Wirkung, so dass das eine und andere Haupt in seine ganz eigenen Träume versinken mag."

Anders als in früheren, stärker musikalisch orientierten Arbeiten von Thom Luz gebe es an diesem Abend "Psychologie und Rollenspiel im Dienste des Handlungsskeletts, dessen Episoden abgelatscht werden – ohne dass sich diese in Luz' Ästhetik des Sinnlichen integrieren", kritisiert Andreas Tobler im Tages-Anzeiger (26.1.2015). Alles zersplittere "in ebenso lose wie ungleiche Momente. Und das hat wesentlich damit zu tun, dass die Spielszenen die Mitte der Bühne einnehmen dürfen, während das Musikalische, das für Luz' Theaterarbeit doch so wichtig ist, weitgehend an den Rand gedrängt wird, also eben dorthin, wo die zwanzig Harmonien stehen."

Die Inszenierung besitze "große Momente, in denen Thom Luz sich als Stimmungszauberer zeigt", berichtet Andreas Klaeui für Spiegel Online (26.1.2015). "Gleichwohl bleibt der Abend übers Ganze formlos." Assoziationen und Anleihen bei Motiven des Romans biete er. "Vieles liegt aus wie in der Exposition eines Musikstücks, es fehlt die Durchführung, die die Ideen miteinander in Beziehung setzt." Schöner, so der Kritiker, hätte der Abend "wohl werden können, hätte er sich ganz zu lösen vermocht von der Romanerzählung - und hätte Manns zeit- und weltverlorenen Figuren nichts anderes entgegengesetzt als die eigene Zeit und Welt der Bühne."

"Es ist eine wunderbar skurrile, bemerkenswert eigensinnige oder ganz einfach eine überaus lohnende Reise, auf die Luz und das konzentriert aufspielende Ensemble laden", urteilt Dominique Spirgi in der Tageswoche (online 24.1.2015). Thom Luz rolle "ein stimmungsvoll aufgeladenes, audiovisuelles Gemälde dieser von Mann so trefflich beschriebenen Parallelwelt aus" und führe sein Publikum "auf einen rauschartigen Trip in ein Universum zwischen dem Dies- und dem Jenseits".

"Es ist wirklich ein zauberhafter Abend, von einem schimmernden Glanz, wie ihn vielleicht nur Schweizer hinkriegen", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (29.1.2015). Luz hebe die semantischen Unterschiede zwischen der literarischen und der musikalischen Sprache auf. "Etwa dann, wenn er Texte nur noch flüstern lässt, oder Teile aus Wagners 'Lohengrin'-Musik einflicht, als würde das rein tönende Heilsversprechen zu einem echten Argument." Der Abend sei aber auch ein Schweiz-Kommentar, "ein hellsichtiges Erspüren einer Befindlichkeit, die schon länger währt und noch lange währen wird".

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