Schwarz auf schwarz

von Wolfgang Behrens

Frankfurt am Main, 30. Januar 2015. Vor einigen Jahren bekannte Sebastian Hartmann im Interview mit dem Berliner Stadtmagazin zitty, "seit zehn Jahren einen riesigen Bogen um Dostojewski" zu machen, und zwar "wegen diesem ganzen Quatsch mit dem Epigonentum. Macht ja keinen Spaß, wenn man immer in Bezug zu Castorf gesetzt wird." Nun allerdings, da Hartmann am Schauspiel Frankfurt anheuerte, um als zweiten Teil der dort entstehenden Dostojewski-Trilogie die "Dämonen" zu inszenieren, hat er den ewigen Unkerichen, die in ihm immer wieder blöde den Castorf-Epigonen zu sehen vermeinen, doch noch Tür und Tor geöffnet – schließlich war die "Dämonen"-Produktion aus dem Jahre 1999 eine epochale Tat, eine der Selbsthäutungen Castorfs, mit denen er sich damals, als erste Abgesänge auf den immerwährenden Volksbühnen-Intendanten angestimmt wurden, noch einmal neu erfand.

Freilich konnte Sebastian Hartmann den Vorwurf des Epigonentums auch kaum nachdrücklicher entkräften als mit seiner eigenen "Dämonen"-Adaption. Castorfs Version ist als Porträt einer selbstverliebt über Anarchie und Nihilismus räsonierenden Dekadenzgesellschaft in Erinnerung, fast heiter dahinplätschernd und ironisch funkelnd in ihrem Spielwitz. Hartmanns Fassung dagegen ist von einem ganz anderen Ernst durchdrungen, die Aufführung präsentiert sich als eine Art expressionistischer Versuch, den ungebärdigen Aufschrei der Gottverlassenen in eine monumentale Bühnenform zu zwingen. Ironische Spielhaltungen sind Hartmanns Sache nicht – oder nur, um vor ihrer Folie eine umso größere existentialistische Wucht zu entwickeln.

Keine Namen mehr
Von Anfang an macht Hartmann jedoch auch eines klar: Orientierung in Dostojewskis Roman will er nicht bieten. Die Chronologie der Ereignisse in "unserer bisher durch nichts ausgezeichneten" Provinzstadt schert ihn einen Dreck, er blendet Figuren ineinander oder verteilt ihren Text auf verschiedene Spieler, er tilgt sogar sämtliche Namen und jegliche Textverweise, die auf eine Situierung im Russland des 19. Jahrhunderts schließen lassen könnten. Es gibt hier keinen Stawrogin, keine Lisa, keinen Pjotr Stepanowitsch, stattdessen gibt es Menschen, die auf die Schwärze des Daseins – die durch die allzeit sichtbaren Scheinwerferbatterien hart und gegenlichtsatt herausgeleuchtet wird – unterschiedlich reagieren.

daemonen1 560 birgit hupfeld uOrdentlicher als bei Castorf, oder? Isaak Dentler und Manuel Harder auf dem
Holzhüttendach  © Birgit Hupfeld

Und meistens reagieren sie mit einem erschreckenden Fanatismus. Christian Kuchenbuch entwickelt in gelassener Konzentration das irre idealistische Gedankengebäude, das im Buch Kirillow zugehört und die Gottwerdung des Menschen im angstfreien Selbstmord vorsieht. Vincent Glander spuckt wütend anarchistisch-despotische, zutiefst menschenverachtende Positionen aus sich heraus, in denen Passagen des Intriganten Pjotr Stepanowitsch und des zynischen Polit-Theoretikers Schigaljow zusammenfallen. Und Manuel Harder, der – rollenstabil – die ungenannte Hauptfigur des Nikolaj Stawrogin spielt, verwendet seine kühl kontrollierte, aber durch keinerlei Überzeugung gehaltene Energie darauf, bewusst das Böse in sich aufzusuchen.

Holzhütte und Zwiebelturm
Gegenbilder zu diesen Dunkelmännern, deren schwarze Mäntel und Hüte ihre Gesinnung nur zu deutlich anzeigen, bieten etwa Heidi Ecks und Michael Benthin, die als Warwara Stawrogina und Stepan Trofimowitsch der sinnentleerten Welt Contenance und Ästhetizismus entgegenhalten. Hartmann hat ihre Spielweise klar von den Anderen abgesetzt: statt grimmigen Ernstes spielen sie einen ins Boulevardeske und Volkstheaterhafte überdrehten Tschechow.

All diese fruchtlosen und entsetzlichen Haltungen einer Gesellschaft, die an ihrem Nihilismus zugrunde geht, hat Hartmann in monumentale und kahle Bilder gegossen. Dostojewskis Russland ist hier reduziert auf eine Holzhütte und eine Zwiebelturmfassade, die beiden einzigen Bauelemente, die sich in grandioser Raumregie auf der ansonsten bis zur Brandmauer leergeräumten Bühne zu immer neuen Gebäuden zusammensetzen. Einmal wird das Dach der Hütte abgehoben, und unter ihm wird der Tod (nämlich der Stepan Trofimowitschs) zelebriert: Man meint, der Umkehrung und regelrechten Zurücknahme einer Krippendarstellung aus dem Quattrocento beizuwohnen. Dann wieder quillt Rauch aus den Ritzen der Hütte hervor, überhaupt wabern immer wieder Nebelschwaden über die Bühne: in dieser Welt brennt es. Dazu erzeugt der Klangkünstler Sascha Ring (Apparat) mit zwei Musikern pochende, wummernde, drängende, dröhnende Soundscapes, die ihre eigene Weite und Leere produzieren.

Kein Maß
In diesem Setting nun knallen jene Suchenden und Verzweifelten immer wieder in unerhörter körperlicher Intensität aufeinander, verkrallen sich ineinander: am eindringlichsten da, wo Manuel Harders Stawrogin einen Kindesmissbrauch beichtet. Wie Harder und Paula Hans hier gegeneinander anrennen, sich winden, verbeißen und entäußern – das geht wahrlich unter die Haut.

daemonen2 560 birgit hupfeld uAlle Dämonen © Birgit Hupfeld

Man könnte, nein, man muss aber auch davon erzählen, dass der Abend trotz allem – wen wundert's bei viereinhalb Stunden? – seine äußerst zähen Momente hat. Nicht zuletzt deswegen, weil Hartmann in den zwischendurch eingestreuten, komisch intendierten Szenen, die die Fallhöhe neu zu justieren helfen, kein Maß kennen will. In wohl bewusster Verletzung jeglicher Humordramaturgie reiten die Spieler dann auf fadesten Gags herum und missachten jedes Timing. Es gehört offenbar zu Hartmanns Theater, dass er auch immer solche Peinlichkeitsgrenzen auslotet.

Aber was soll das Klagen? Gelingt hier Sebastian Hartmann doch etwas durchaus Bedeutendes – indem er sich einem allgemeinen Trend widersetzt: Er nimmt sich nicht einen Roman her, um ihn auf einen theatertauglichen Plot zu verkleinern. Er nimmt ihn sich vielmehr her, um das Theater groß zu denken. Und das ist verdammt viel!

Dämonen
von Fjodor Dostojewski
aus dem Russischen von Swetlana Geier
Bühnenfassung von Sebastian Hartmann und Michael Billenkamp
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann, Musik: Apparat (Sascha Ring), Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Licht: Johan Delaere, Dramaturgie: Michael Billenkamp.
Mit: Heidi Ecks, Paula Hans, Franziska Junge, Linda Pöppel, Michael Benthin, Isaak Dentler, Vincent Glander, Manuel Harder, Christian Kuchenbuch, Tolga Tekin.
Dauer: 4 Stunden, 30 Minuten, eine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

"Hartmann trampelt auf den Nerven der Zuschauer herum, indem er seine Schauspieler schreien und derwischen lässt, und seine Szenen so frei zusammenwürfelt, dass man kurz davor ist, die Geduld zu verlieren", sagt Natascha Pflaumbaum auf Deutschlandradio Kultur (30.1.2015). Aber nach der Pause füge sich alles "genial zusammen". Das Fantastische dieser Arbeit sei – und das erkenne man erst, nachdem man die fast fünf Stunden erlebt habe – die Gesamtkomposition. "Das Fantastische ist, dass Hartman jedem Schauspieler dieser Produktion eine Bravourszene auf den Leib inszeniert", so Pflaumbaum. "Jeder Schauspieler, jede Schauspielerin hat mindestens eine Szene in dieser Produktion, in der sie so an- und aufregt, dass man amüsiert, angeekelt, vergnügt oder genervt ihrem Spiel folgt." Hartmann schaffe tatsächlich ein Mehr, etwas Neues: "Er zeigt, dass Theater immer noch echt affizieren kann, er zeigt, wie Theater aus dem wirklichen Leben kommen kann, er zeigt, dass Romane auf eine Bühne passen, und er zeigt, wie man alte Stoffe, Themen aktuell macht, ohne zu aktualisieren: indem man dem Zuschauer ein Gefühl implantiert, das er nicht abweisen kann. Es sei denn, er geht zu früh."

Hartmann setze sich und sein Ensemble den Dostojewski-Seelenqualen aus "und rotzt schlussendlich auf die Bühne, was die Literatur mit ihnen gemacht hat", meint Alexander Kohlmann auf Deutschlandfunk (1.2.2015). Deshalb erschienen Hartmann-Abende oft so unfertig, es gehe nicht um "jemandem etwas erzählen", sondern um "ein gemeinsames Reflektieren, das mit der Aufführung nicht endet". "Im Gegenteil: Mit der Premiere nimmt das Publikum an der endlosen Probenarbeit teil." Einziges Problem dieser Methode sei, "dass dieser Regisseur kein Ende findet". "Vielleicht kann man einen Hartmann-Abend überhaupt nur als einen Probenbesuch und Arbeitsstand rezipieren", so Kohlmann – "mit vielen fantastischen Ansätzen, vielleicht zu fantastisch, um sie endgültig zu einem großen Ganzen zusammenzuführen."

Hartmann spalte Dostojewskis Roman "in albtraumhafte Szenen, in denen nicht weniger als das Menschsein auf dem Spiel steht", schreibt Shirin Sojitrawalla in der Allgemeinen Zeitung der Rhein Main Presse (2.2.2015). Den Roman müsse man nicht kennen, um dem Abend zu folgen, "man kann sich auch ganz auf die filmreif entworfenen Bilder und das klar wuchtige Spiel der herausragenden Darsteller verlassen." Hartmann schaffe es auf ebenso kühne wie überwältigende Weise, die Frankfurter Riesenbühne in ihrer vollen Größe auszunutzen. "Seine in krasses Schwarz-Weiß getauchten Bilder brennen sich in den Kopf, Nebelschwaden ziehen bei ihm durchs gleißende Licht, mal dreht sich die Bühne, mal hebt sie sich empor." Dabei strahle und nerve der "maximalistische Abend" mit provokanten Albernheiten, wahnsinnigen Schauwerten und "Dialogen, die wie Zweikämpfe ablaufen". Der Hinweis auf die Überlänge des Abends kommt der Rezensentin selbst vor diesem Hintergrund "irgendwie kleinlich" vor.

"An diesem Abend stimmt etwas", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (2.2.2015). Alles in ihm diene ausschließlich dem Entwickeln einer jeweiligen Theatersituation. Gewissermaßen sage Hartmann: "Romane sollt ihr daheim lesen." Zugleich brauche er die Wucht des Dostojewski-Stoffes, den Brocken hinter den Witzen, "um nicht einfach banal zu werden". Vor allem aber brauche er diese Schauspielerinnen und Schauspieler. "Die Banalität lauert nicht nur, sie ist integraler Bestandteil der Inszenierung", beschreibt von Sternburg. Einerseits werde hier schon so getan, als wäre auch alles wurscht, als könnte es so oder so oder anders oder lustiger sein. Andererseits werde diese Wurschtigkeit mit großer Liebe zum Theaterspiel dargeboten. "Hier kommt einmal zusammen mit dem Regietheater nicht das Ausstattungstheater um die Ecke gehuscht, sondern das reinste, großartigste Schauspielertheater."

In der Rhein-Main-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.2.2015) schreibt Florian Balke: "Frank (sic!) Hartmanns Frankfurter Version aber fehlt fast alles Regiefeuer, das den Abend zu einem ebenso zwingenden Ganzen hätte zusammenschmieden können wie die Romanvorlage es ist." Lediglich das Groteske gelinge Hartmann. "Die Flucht in die Freiheit der Flapsigkeit ist bezeichnend für einen jener Abende, an denen Romane für das Theater gefleddert werden und eine Niere sowie der Dickdarm sich auf der Bühne wiederfinden, während die andere Niere und der Dünndarm in der Buchleiche auf dem Schreibtisch des Regisseurs verbleiben."

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